Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 10 B 1755/96
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,- DM festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet. Das Interesse der Beigeladenen daran, die ihr erteilten Baugenehmigungen sofort ausnutzen zu dürfen, überwiegt das Interesse der Antragsteller, das Vorhaben der Beigeladenen vorerst bis zum Abschluß des Hauptsacheverfahrens zu verhindern.
3Die Antragsteller werden die Aufhebung der beiden streitigen Baugenehmigungen vom 15. März 1996 im Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht erreichen. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Senats hat der Antragsgegner bei der Erteilung dieser beiden Baugenehmigungen keine öffentlich- rechtlichen Vorschriften verletzt, die zugleich den privaten Interessen der Antragsteller als Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
4Dies gilt zunächst für die nachbarschützende Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW. Zum Grundstück der Antragsteller hin hält das genehmigte Wohnhaus die Abstandfläche ein. Dies hat das Verwaltungsgericht im einzelnen zutreffend dargelegt. Hiergegen erhebt die Beschwerde keine Einwendungen.
5Es spricht einiges dafür, daß das Vorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich nach § 30 Abs. 1 BauGB unzulässig ist. Es soll im Geltungsbereich eines Bebauungsplans verwirklicht werden, widerspricht jedoch dessen Festsetzungen. Das Doppelhaus soll außerhalb der festgesetzten Baugrenzen und damit innerhalb der nicht überbaubaren Grundstücksfläche errichtet werden. Der Antragsgegner hat die Beigeladene zwar von den entgegenstehenden Festsetzungen des Bebauungsplans befreit; die Voraussetzungen dafür nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB, § 4 Abs. 1 a Satz 1 BauGB-MaßnahmenG oder nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 BauGB dürften indes schwerlich vorgelegen haben. Es lag in der erkennbaren planerischen Absicht des Satzungsgebers, das streitige Grundstück in dem hier interessierenden Teil von Bebauung freizuhalten; eine darin liegende Härte war vom Plangeber beabsichtigt. Die Deckung dringenden Wohnbedarfs ist zwar nach § 4 Abs. 1 a BauGB-MaßnahmenG einer von vielen Gründen des Allgemeinwohls, die nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB eine Befreiung rechtfertigen können. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob dieser Grund eine Befreiung im Verständnis von § 31 Abs. 2 Nr. 1 "erfordert", weil es zur Deckung des dringenden Wohnbedarfs vernünftigerweise geboten ist, mit Hilfe einer Befreiung das Vorhaben gerade an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen
6vgl.: BVerwG, Beschluß vom 6. März 1996 - 4 B 184/95 -.
7Ein nachbarliches Abwehrrecht der Antragsteller ist dadurch aber nicht begründet. Städtebauliche Allgemeininteressen zu wahren, ist ausschließlich Sache der Bauaufsichtsbehörde oder der Aufsichtsbehörde.
8Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen der Antragsgegner möglicherweise rechtswidrig befreit hat, schützen den Nachbarn bei summarischer Prüfung nicht. Die Festsetzung hinterer Baugrenzen und die dadurch bewirkte Festlegung einer nicht überbaubaren Grundstücksfläche im Inneren eines straßenrandnah bebauten Quartiers schützt den Nachbarn planungsrechtlich nur dann, wenn der Plangeber den Festsetzungen nachbarschützende Funktion hat beilegen wollen
9vgl.: BVerwG, Beschluß vom 23. Juni 1995 - 4 B 52.95 - NVwZ 1996, 170; Beschluß vom 19. Oktober 1995 - 4 B 215.95 - ZfBR 1996, 104.
10Eine solche nachbarschützende Funktion kann sich schon aus der Festsetzung selbst ergeben, ohne daß auf die Begründung des Bebauungsplans und die dort hervorgetretenen Vorstellungen des Plangebers zurückgegriffen werden müßte. Die hier in Rede stehenden Festsetzungen begründen aber aus sich selbst heraus noch keinen Nachbarschutz. Die Festsetzung hinterer Baugrenzen auch mit dem Ziel, daß Innere eines Quartiers von Bebauung freizuhalten, ist ein Gesichtspunkt guter städtebaulicher Ordnung. Er hat unabhängig vom Schutz bestimmter Nachbarn eine städtebauliche Funktion. Eine rechtliche Begünstigung konkreter Nachbarn muß damit nicht ohne weiteres gewollt sein. Danach kommt es maßgeblich darauf an, welche Vorstellungen der Ortsgesetzgeber seinerzeit mit den in Rede stehenden Festsetzungen verfolgt hat. Insoweit hat das Verwaltungsgericht unter zutreffender Auswertung der Aufstellungsvorgänge nur feststellen können, daß der Rat der damals noch selbständigen Stadt S. mit dem Bebauungsplan und seinen Festsetzungen die städtebauliche Entwicklung in geordneten Bahnen hat verlaufen lassen wollen. Wie das Verwaltungsgericht hat der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Ansätze für einen gewollten Nachbarschutz nicht feststellen können. Insbesondere bei historischer Betrachtung war 1966 nahezu unbekannt, derartigen Festsetzungen Nachbarschutz angedeihen zu lassen. Auch die Beschwerde zeigt nicht auf, daß solche Vorstellungen in der Absicht des Plangebers gelegen hätten.
11Hat der Antragsgegner die Beigeladene danach von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans befreit, kann sich Nachbarschutz zugunsten der Antragsteller aus § 31 Abs. 2 BauGB ergeben. Danach verlangt die Befreiung von einer Festsetzung des Bebauungsplans auch eine Würdigung nachbarlicher Interessen. In dieser Vorschrift ist für Fallgestaltungen der hier gegebenen Art das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme verankert.
12Das Vorhaben der Beigeladenen ist aber gegenüber den Antragstellern nicht rücksichtslos. Das vorgesehene Wohngebäude nimmt ihrem Grundstück zwar Licht, Sonne und Luft, ermöglicht ferner einen Einblick in den rückwärtigen Bereich ihres Grundstücks. Ihrem Grundstück ist die Giebelwand zugekehrt. In deren Spitze befindet sich ein Fenster, nämlich dasjenige des "Studios" im Spitzboden. Diese Belange werden jedoch durch das bauordnungsrechtliche Abstandflächenrecht aufgefangen. Mit § 6 BauO NW hat der Gesetzgeber insoweit abschließend geregelt, welches Maß an Rücksichtnahme der Bauherr seinem Nachbarn schuldet und wann diesem ein Vorhaben auf dem Nachbargrundstück unzumutbar wird. Das gilt auch für den "Sozialabstand". Unter diesen Gesichtspunkten läßt sich daher bei gewahrten Abstandflächen eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens nicht begründen. Raum für das Gebot der Rücksichtnahme ist hier nur unter dem Gesichtspunkt, daß in eine bisher weitgehend ungestörte Ruhe- und Freizeitzone im rückwärtigen Bereich der Grundstücke ein Bauvorhaben eindringt. Jedoch läßt sich auch unter diesem Gesichtspunkt eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nicht feststellen. Die Beigeladene will ein Doppelhaus mit insgesamt nur zwei Wohneinheiten errichten. Der Baukörper ist durchaus maßvoll; er ist eingeschossig mit ausgebautem Dachgeschoß und einer Firsthöhe von 9 m von der Geländeoberfläche
13zur Bedeutung dieser Kriterien vgl. OVG NW, Beschluß vom 15. Dezember 1992 - 10 B 3536/92 -.
14Terrassen und Dachgaupen sind nicht zum Grundstück der Antragsteller hin ausgerichtet. Die Zufahrt in den Innenbereich berührt die Antragsteller nicht. Das Grundstück wird nicht von der N.--------straße , sondern von der F. Gasse aus angefahren.
15Vermittelt danach die notwendige Würdigung nachbarlicher Belange in § 31 Abs. 2 BauGB den Antragstellern keinen Nachbarschutz, können sie nicht mit Hilfe der Gerichte einer objektiv rechtswidrigen Verschlechterung der Wohnqualität entgegensteuern. Die Möglichkeiten fachaufsichtlichen Einschreitens bleiben davon unberührt.
16Wäre der Bebauungsplan unwirksam, wäre das Ergebnis kein anderes. In diesem Falle richtete sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 und 2 BauGB. Das Vorhaben wäre danach freilich wohl planungsrechtlich unzulässig, weil es sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. In der maßgeblichen näheren Umgebung ist nämlich keine Hinterlandbebauung vorhanden. Dieses Kriterium des § 34 Abs. 1 BauGB vermittelt aber für sich keinen Nachbarschutz. Ein Vorhaben, das deshalb rechtswidrig ist, weil es sich nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, verletzt unter diesem Gesichtspunkt mithin nicht zugleich den Nachbarn in seinen Rechten. Nachbarschutz vermittelt hier nur das Gebot der Rücksichtnahme, das jedoch aus den bereits dargelegten Gründen nicht verletzt ist.
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 GKG.
18Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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