Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 25 A 6361/96.A
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 18. November 1996 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2Der Antrag hat keinen Erfolg.
3Der vorliegenden Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zu. In der Senatsrechtsprechung ist geklärt, unter welchen Umständen in der Türkei von Sippenhaft auszugehen ist.
4Vgl. Beschluß vom 11. März 1994 - 25 A 2670/92.A -; Beschluß vom 30. Januar 1995 - 25 A 4705/94.A -; Urteil vom 11. März 1996 - 25 A 5800/94.A -; Urteil vom 26. August 1996 - 25 A 4241/95.A -.
5Danach erstreckt sich Sippenhaft in der Türkei im allgemeinen nur auf nahe Angehörige (Ehegatten, Eltern, Kinder ab 13 Jahren, Geschwister) von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, die dort durch Haftbefehl gesucht werden. In dieser Hinsicht kann vom klagenden Asylbewerber nicht etwa verlangt werden, daß er den Haftbefehl vorlegt. Dies ist im allgemeinen nicht möglich, wie in der Antragsschrift insoweit zutreffend ausgeführt wird. Ebensowenig ist erforderlich, daß positive Kenntnis vom Erlaß des Haftbefehls besteht. Es genügt vielmehr, wenn Umstände festgestellt werden, aus denen sich ergibt, daß nach dem betreffenden Angehörigen landesweit gefahndet wird. Dies ist in der Senatsrechtsprechung anerkannt
6vgl. Urteil vom 30. September 1996 - 25 A 790/96.A -
7und bedarf daher nicht der Klärung in einem Berufungsverfahren.
8Die Ausführungen in der Antragsschrift geben Anlaß, zum Verständnis ergänzend noch auf folgendes hinzuweisen: Nach der Senatsrechtsprechung setzt der Asylrechtsschutz für türkische Staatsangehörige nicht erst dann ein, wenn feststeht, daß der Betreffende noch aktuell der Strafverfolgung in der Türkei ausgesetzt ist. Es genügt vielmehr, wenn festgestellt wird, daß der Betreffende bei den Sicherheitskräften seines Heimatlandes im Verdacht steht, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren.
9Vgl. die Zusammenfassung im Senatsurteil vom 11. März 1996 - 25 A 5801/94.A -, S. 87.
10Davon zu unterscheiden sind jedoch die Voraussetzungen, unter denen türkische Staatsangehörige, die selbst dem vorbezeichneten Verdacht nicht ausgesetzt sind, allein unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft als politisch verfolgt angesehen werden können. Insofern genügt es nicht, daß der nahe Angehörige, von welchem der klagende Asylbewerber seine eigene Verfolgung herleiten will, politisch verfolgt wird bzw. in der Bundesrepublik Deutschland politisches Asyl oder Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG erhalten hat. Eine derart weitgehende Annahme von Sippenhaft trüge der Realität, wie sie sich dem Senat nach Auswertung der einschlägigen Erkenntnisse darstellt, nicht Rechnung. Sippenhaft kommt in der Türkei vielmehr nur dann zum Einsatz, wenn gegen eine Person aktuell Strafverfolgung betrieben und in diesem Zusammenhang nach ihr landesweit gefahndet wird. Der Senat hat insofern stets von "Aktivisten" der PKK (oder ähnlich militanter staatsfeindlicher Organisationen) gesprochen. Darunter fallen in erster Linie politische Kader der PKK oder Mitglieder ihrer Militärorganisation, letztere insbesondere, wenn sie in bewaffnete Auseinandersetzungen mit den türkischen Sicherheitskräften verwickelt waren.
11Vgl. Senatsurteil vom 30. September 1996 - 25 A 790/96.A -.
12Hingegen kommt Sippenhaft in der Türkei nicht zum Einsatz in Bezug auf Personen, die lediglich als Sympathisanten der militanten kurdischen Bewegung verdächtigt werden. Insbesondere läßt sich nicht feststellen, daß der türkische Staat ein Interesse daran hat, auch solcher Personen habhaft zu werden, wenn sie sich im Ausland aufhalten. Wenn solche Personen als vorverfolgt ins Bundesgebiet eingereist sind und ihre erneute landesweite Verfolgung im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, so sind sie nach der Senatsrechtsprechung, der das Verwaltungsgericht im Fall des Vaters des Klägers gefolgt ist, als politisch verfolgt anzusehen. Damit steht jedoch nicht zugleich fest, daß nach ihnen landesweit gefahndet wird. Im übrigen ist zur Abgrenzung des Kreises der Personen, auf deren nahe Angehörige der türkische Staat im Wege der Sippenhaft Zugriff nimmt, auf alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls Rücksicht zu nehmen.
13Die Abweichungsrüge gemäß § 78 Abs. 3 Abs. 2 AsylVfG greift ebenfalls nicht durch. Das Verwaltungsgericht ist im angefochtenen Urteil nicht von der zitierten Senatsrechtsprechung zur Sippenhaft abgewichen. Im Gegenteil hat es, wie seine Ausführungen auf S. 4 f. des Urteils belegen, der Entscheidung des vorliegenden Falles jene Senatsrechtsprechung zugrundegelegt. Da es nicht festzustellen vermochte, daß nach dem Vater des Klägers derzeit noch landesweit gefahndet wird, kam nach der Senatsrechtsprechung ein Asylanspruch unter Sippenhaftgesichtspunkten nicht in Betracht.
14Auch mit der Gehörsrüge gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO kommt der Kläger nicht zum Zuge. Es kann nicht festgestellt werden, daß dem Kläger im erstinstanzlichen Verfahren rechtliches Gehör versagt geblieben ist.
15Es handelt sich im vorliegenden Fall nicht um eine rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung. Namentlich ergibt sich solches nicht mit Blick auf den Inhalt des Protokollberichtigungsantrages vom 10. Dezember 1996. Aus den Erklärungen des Gerichts, wie sie im Protokollberichtigungsantrag wiedergegeben werden, konnte der Bevollmächtigte des Klägers hinreichend verläßlich lediglich ersehen, daß nach der Senatsrechtsprechung, der das Verwaltungsgericht offenbar zu folgen beabsichtigte, der Vater des Klägers ("der Kläger B. G. ") als politisch verfolgt angesehen werde. Eine Schlußfolgerung des Inhalts, daß auch allen anderen klagenden Familienangehörigen ein Asylanspruch gerichtlich zuerkannt werde, geboten die vom Kläger wiedergegebenen Hinweise des Gerichts jedoch nicht. Anhaltspunkte, die eine Interpretation der gerichtlichen Erklärungen im Sinne des Bevollmächtigten des Klägers geboten oder auch nur nahelegten, ergeben sich auch nicht aus dem Beschluß des Verwaltungsgerichts vom 12. Dezember 1996, durch welchen der erwähnte Protokollberichtigungsantrag abgelehnt wurde. (Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß der drittletzte Satz im vorbezeichneten Beschluß richtig lauten muß: "Daß danach Kinder oder Ehegatten eines als asylberechtigt anerkannten oder Abschiebungsschutz genießenden Asylbewerbers im Wege der "Sippenhaft" nicht automatisch anerkannt werden, war ihm bekannt."; Ergänzung des Wortes "nicht" durch den Senat)
16Es bestehen ferner keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, das Verwaltungsgericht habe erhebliches Vorbringen des Klägers und seiner Familie nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in seine Würdigung einbezogen. Die Ausführungen zu Nummer 1 a) bis d) der Antragsschrift enthalten keine schlüssige Darlegung eines dahingehenden Gehörsverstoßes. Jene Ausführungen erschöpfen sich vielmehr letztlich in Angriffen gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die in das Gewand einer Gehörsrüge gekleidet sind. Sie sind daher nicht geeignet, dieser Rüge zum Erfolg zu verhelfen.
17Vgl. BVerwG, Beschluß vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 -, DVBl 1996, 108 = NVwZ - 1996, 359.
18Abweichendes gilt auch nicht hinsichtlich der Bewertung der Aussage, die die Zeugin E. im Verfahren des Vaters (8 K 485/96.A VG Minden) gemacht hat. Wenn das Verwaltungsgericht diese in Bezug auf das Verfolgungsschicksal des Klägers lediglich als Zeugin vom Hörensagen eingestuft hat, so läßt dies nicht darauf schließen, daß das Verwaltungsgericht Teile ihrer Aussage nicht zur Kenntnis genommen oder unberücksichtigt gelassen hat.
19Daß der Vortrag des Klägers und der übrigen klagenden Familienangehörigen Anhaltspunkte dafür enthielt, daß es sich beim Vater um eine Person handeln konnte, nach der in der Türkei landesweit gefahndet wird, hat das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht übersehen. Es ist diesem Vortrag durch Anhörung des Klägers, seiner Eltern sowie Vernehmung der Zeugin E. nachgegangen. Hingegen war das Verwaltungsgericht unter dem Gesichtspunkt rechtlichen Gehörs nicht gehalten, seine Beweiswürdigung vor Schließung der mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. August 1990 - 9 C 22.89 -, S. 12; Hailbronner, Ausländerrecht, § 78 AsylVfG, Rdnr. 90 (Oktober 1995).
21Gleichfalls ohne Erfolg bleibt die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht hätte die Senatsentscheidungen zur Sippenhaftpraxis in der Türkei ordnungsgemäß ins Verfahren einführen müssen. Zur Begründung dieser Rüge ist die Darlegung erforderlich, was der Kläger bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte; nur auf der Grundlage eines solchen Vortrages kann nämlich geprüft und entschieden werden, ob auszuschließen ist, daß die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, dem Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte.
22Vgl. BVerfG, Beschluß vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 -, InfAuslR 1993, 300, 302; BVerwG, Beschluß vom 19. Juli 1979 - 4 CB 29.79 -, BayVBl. 1979, 762; Beschluß vom 31. Juli 1985 - 9 B 71.85 -, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 28; Beschluß vom 25. November 1991 - 5 B 129.91 -, NJW 1992, 852, 853; Beschluß vom 9. Juli 1992 - 2 B 52.92 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 244.
23Diesem Erfordernis wird in der Antragsschrift nicht Rechnung getragen. Nach dem Inhalt der dortigen Ausführungen erscheint es eher ausgeschlossen, daß sich der Kläger gegen die grundlegenden Tatsachenfeststellungen in den zitierten Senatsentscheidungen zur Sippenhaft in der Türkei gewandt hätte. Sein Vortrag geht vielmehr dahin, daß im vorliegenden Fall die in der Senatsrechtsprechung geforderten tatsächlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Asylanspruchs unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft erfüllt waren. Aus demselben Grunde ist auch nicht ersichtlich, daß der Kläger, falls die zitierten Senatsentscheidungen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden wären, überhaupt ergänzend vorgetragen hätte. Denn nach seiner Auffassung ergab sich bereits aus dem bisherigen Akteninhalt sowie den ergänzenden Erklärungen und Aussagen in der mündlichen Verhandlung, daß politisches Asyl nach Sippenhaftgrundsätzen zuzusprechen war. Das klageabweisende Urteil beruht entscheidend darauf, daß das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Verfolgungslage des Vaters anders eingeschätzt hat, als dies vom Kläger für richtig gehalten wird. Insofern ist aber ohne Belang, ob die zitierten Senatsentscheidungen ins Verfahren eingeführt wurden oder nicht, solange deren grundlegende Tatsachenfeststellungen nicht angegriffen werden sollen.
24Die Verfahrensrüge gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO geht fehl. Es kann keine Rede davon sein, daß das angefochtene Urteil nicht mit Gründen versehen ist.
25Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG abgesehen.
26Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
27Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
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