Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 2 A 4674/94
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zu je einem Viertel. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger zu 1) wurde am 8. Oktober 1952 in der Siedlung L. im Bezirk Adamowskij, Gebiet Orenburg, Sowjetunion, geboren. Seine Eltern sind der am 7. Dezember 1923 in Q. im Gebiet Saratow geborene deutsche Volkszugehörige G. L. und die am 12. April 1928 in O. , Bezirk Adamowskij, Gebiet Orenburg, geborene ukrainische Volkszugehörige O. L. . Diese siedelten im Mai 1991 auf Dauer in die Bundesrepublik Deutschland über.
3Der am 29. April 1976 in T. , Gebiet Karaganda, in der Republik Kasachstan geborene Kläger zu 3) und der am 8. August 1983 ebenfalls dort geborene Kläger zu 4) entstammen der am 13. April 1976 geschlossenen Ehe des Klägers zu 1) mit der Klägerin zu 2), die russische Volkszugehörige ist.
4Mit einem vor dem 16. September 1991 beim Bundesverwaltungsamt eingegangenen Antrag beantragten die Kläger die Aufnahme als Aussiedler. In dem von den Klägern zu 1) und 2) unterschriebenen Antragsformular ist für den Kläger zu 1) als Volkszugehörigkeit Deutsch und als Muttersprache und jetzige Umgangssprache in der Familie Russisch angegeben. Zur Beherrschung der deutschen Sprache und des Gebrauchs des Deutschen in der Familie ist jeweils "überhaupt nicht" angekreuzt. Die Pflege des deutschen Volkstums wurde verneint. Auf Nachfrage des Bundesverwaltungsamtes wurde für den Kläger zu 1) zur Pflege des deutschen Volkstums angegeben, daß er sich seit 1962 mit seinen Eltern und Geschwistern unter den deutschen Verwandten befand. Ferner heißt es dazu: "Die Tante von P. hatte keine Kinder und betreute die Neffen darunter auch P. war. Sie lernte sie deutsch. Brachte ihnen die deutsche Sitte und Gebreuche bei. Sie feierten zusammen Ostern, Weihenacht, auch ihre Hochzeiten später wurden mit deutschen Sitten gefeiert." Auf weitere Nachfragen wurde angegeben, daß zuerst unklar gewesen sei, was mit der Pflege des deutschen Volkstums gemeint gewesen sei. Es wurde weiter ausgeführt "P. besuchte den Deutschunterricht der Schule. Feierte Weihenacht, Ostern und andere christliche Feiertage". Als Muttersprache wurde "ukrainisch, deutsch, russisch" und als Umgangssprache in der Familie "russisch deutsch" angegeben. Außerdem verstehe und schreibe der Kläger zu 1) die deutsche Sprache. Deutsch werde in der Familie von den Großeltern und vom Vater gesprochen. Zusätzlich wurde ergänzend ausgeführt, der Kläger zu 1) habe keine deutschen Schulen besucht, weil es keine gegeben habe. Er habe wie alle deutschen Kinder den Deutschunterricht in der Schule besucht und sich als Volksdeutscher im Ausweis bekannt.
5Durch Bescheid vom 6. Januar 1992 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Aufnahmeantrag der Kläger ab. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger zu 1) sei kein deutscher Volkszugehöriger, da er nicht glaubhaft dargelegt habe, daß er die deutsche Sprache hinreichend beherrsche.
6Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs wurde im wesentlichen vorgetragen: Der Vater des Klägers sei deutscher Volkszugehöriger und habe dieses Bewußtsein auf seine Kinder übertragen. Bei dem Kläger zu 1) als Spätgeborenem komme es nicht darauf an, ob er die deutsche Sprache in ausreichendem Maße beherrsche. Es reiche aus, daß er in die in der Familie herrschende Bekenntnislage hineingewachsen sei und diese sich angeeignet habe.
7Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 1992 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch mit folgender Begründung zurück: Der Kläger zu 1) sei kein deutscher Volkszugehöriger. Auf seine Eintragung als Deutscher im russischen Inlandspaß komme es insoweit nicht an, da es sich dabei um eine punktuelle Entscheidung handele, die nicht als endgültiger Ausdruck des Bewußtseins, dem deutschen Volk als nationalgeprägter Kulturgemeinschaft anzugehören, bewertet werden könne. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß er in die deutsche Bekenntnislage seiner Familie hineingewachsen sei, da seine Eltern unterschiedlichen Volksgruppen angehörten. Entscheidend sei, daß ihm die deutsche Sprache von seinem Vater nicht vermittelt worden sei und nicht festgestellt werden könne, daß er im Sinne der deutschen Kultur erzogen worden sei. Der diesbezügliche Vortrag dazu sei zu unbestimmt.
8Am 22. Juni 1992 haben die Kläger beim Verwaltungsgericht Köln Klage erhoben. Während des Klageverfahrens ist der Kläger zu 1) am 25. Oktober 1993 zu einer Anhörung in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Almaty erschienen.
9Zur Begründung ihrer Klage haben die Kläger im wesentlichen vorgetragen: Die deutsche Volkszugehörigkeit des Klägers zu 1) könne nicht mit der Begründung verneint werden, daß dieser die deutsche Sprache nicht beherrsche. Auch wenn in der Sowjetunion die deutsche Sprache nicht offiziell verboten gewesen sei, sei sie doch so verpönt gewesen, daß es in manchen Gebieten nicht möglich gewesen sei, sie zu Hause zu sprechen. Außerdem sei der Kläger zu 1) Spätgeborener, so daß es lediglich auf die Bekenntnislage in seiner Familie vor Beginn der Vertreibungsmaßnahmen ankomme. Sein Vater habe sich zum deutschen Volkstum bekannt, wie sich aus dessen Verschleppung und Anerkennung als Vertriebener ergebe. Der Vater habe auch die Bekenntnislage in der Familie geprägt, wie die Erklärung des Klägers zu 1) zur deutschen Nationalität im Inlandspaß zeige, so daß es auf die Sprache nicht ankomme. Abgesehen davon seien die Kinder von der deutschen Großmutter erzogen worden, die das Russische nicht beherrscht und mit den Kindern im Dialekt gesprochen habe. Die Großmutter habe auch deutsche Sitten und Gebräuche vermittelt. Dies werde durch die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen zweier Zeugen bestätigt. Die Sprachsituation in der Familie sei von der Bevollmächtigten im Vorverfahren nicht richtig dargestellt worden, da sie als Muttersprache die Sprache der Mutter angesehen habe. Außerdem habe sie etwa 120 km von der Familie des Klägers zu 1) entfernt gewohnt und die dortigen Verhältnisse nicht richtig gekannt. Soweit der in der deutschen Botschaft in Almaty durchgeführte Sprachtest ergeben habe, daß der Kläger zu 1) keine deutschen Sprachkenntnisse habe, sei er falsch und nicht zum Beweis geeignet. Der Kläger zu 1) sei auf hochdeutsch angesprochen worden und völlig verwirrt gewesen. Da das Formblatt nicht von diesem unterschrieben worden sei und mangels eines Protokolls der Verlauf der Sprachprüfung nicht nachvollziehbar sei, sei diese Prüfung kein geeignetes Beweismittel.
10Die Kläger haben sinngemäß beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamts vom 6. Januar 1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 1992 zu verpflichten, ihnen einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
12Die Beklagte hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie hat im wesentlichen vorgetragen: Der Kläger zu 1) sei kein deutscher Volkszugehöriger, da er die deutsche Sprache nicht in ausreichendem Maße beherrsche. Dies ergebe sich aus den Angaben im Antrag, die durch den nachfolgenden Vortrag nicht widerlegt worden seien. Die späteren Angaben im Verwaltungs- und vor allem im gerichtlichen Verfahren seien in sich widersprüchlich und deshalb unglaubhaft.
15Durch das angefochtene Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.
16Mit der dagegen eingelegten Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung tragen sie ergänzend vor: Die Angaben zu den Sprachkenntnissen des Klägers zu 1) seien entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts richtig. Zwar sei dessen Großmutter väterlicherseits bereits 1943 gestorben, der Kläger zu 1) sei aber von seiner Urgroßmutter väterlicherseits und seiner Tante erzogen worden. Die Urgroßmutter sei die 1884 geborene E. L. , die Mutter des 1898 geborenen L. L. , des Großvaters des Klägers zu 1). Zu der Großmutter und den Geschwistern des Vaters sei die Familie allerdings erst 1962 gezogen. Vorher habe sie in einem Dorf im Bezirk Adamowskij leben müssen, in dem außer ihnen nur zwei Deutsche gelebt hätten, mit denen ein Kontakt vom Arbeitgeber verhindert worden sei. Bis zur nächsten größeren Stadt Orsk seien es 120 Kilometer und bis Orenburg 560 Kilometer gewesen. Ein Kontakt mit anderen Deutschen sei deshalb nicht möglich gewesen.
17Im Jahre 1965 sei die Urgroßmutter gestorben und die Erziehung dann ganz von der Tante übernommen worden, bis der Kläger zu 1) 1969 mit seinen Eltern und Geschwistern nach E. gezogen sei. Dieser Ort habe etwa 600 Einwohner gehabt, darunter etwa 400 Deutsche, so daß Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten worden sei. Dem Kläger zu 1) sei im Rahmen des Möglichen das deutsche Volkstum vermittelt worden. Das gelte auch für die Sprachkenntnisse bis zum Abschluß der Prägungsphase. Soweit möglich sei die deutsche Sprache in der Familie weitergegeben worden. Sowohl der Vater als auch die Urgroßmutter und die Tante hätten deutsch mit dem Kläger zu 1) gesprochen. Dagegen spreche nicht der angebliche Sprachtest in der deutschen Botschaft. Dieser sei nicht verwertbar, da das Protokoll nicht vom Kläger zu 1) unterschrieben sei und es keinen Sachverhalt erkennen lasse, sondern nur die Feststellungen des Beamten wiedergebe. Der Kläger zu 1) habe auch nicht gewußt, warum er in die Deutsche Botschaft bestellt worden sei. Er habe geglaubt, er sei benachrichtigt worden, weil seinem Vater, der kurz zuvor operiert worden sei, etwas zugestoßen sei. Er sei dadurch und durch näher geschilderte Umstände der Anhörung in der Botschaft sehr verunsichert gewesen.
18Abgesehen davon komme es auf den Umfang der Sprachkenntnisse aber nicht an, da aufgrund der Verhältnisse im Herkunftsgebiet eine Vermittlung des deutschen Volkstums und der deutschen Sprache nicht zumutbar gewesen sei. Die Voraussetzungen der Fiktion des § 6 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz BVFG seien gegeben. Der deutsche Vater des Klägers zu 1), der 1923 geboren sei, gehöre der Erlebnisgeneration an und komme deshalb in den Genuß der Fiktionen des § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG. Zwar beziehe sich § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG unmittelbar nur auf die Personengruppe des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG, die Vorschrift müsse aber erst recht für die Erlebnisgeneration des § 6 Abs. 1 BVFG gelten. Da somit dem Vater des Klägers zu 1) zumindest bis 1972 ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum nicht zumutbar gewesen sei, müßten daraus Rückschlüsse auf die Unzumutbarkeit der Vermittlung des deutschen Volkstums und der deutschen Sprache an seine Kinder gezogen werden. Denn die Vermittlung der deutschen Sprache an die Kinder führe dazu, daß diese die Sprache nach außen trügen und deshalb die Familie als deutsche erkennbar sei. Dies sei dem Vater des Klägers zu 1) im damaligen Zeitpunkt nicht zumutbar gewesen. Der Zeitraum, in dem vom Vater des Klägers ein Bekenntnis nicht verlangt werden könne, habe bis 1972 gedauert. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger zu 1) die Prägungsphase bereits überschritten gehabt, da er damals bereits 20 Jahre alt gewesen sei. Selbst wenn man davon ausgehe, daß die Vermittlung deutscher Volkstumsmerkmale nur bis 1964 nicht zumutbar gewesen sei, greife die Fiktion ein, da der Kläger zu 1) dann Dreiviertel der üblichen Prägungszeit vor 1964 verbracht habe.
19Hinsichtlich der Dauer der Fiktion sei zu berücksichtigen, daß durch sie der besonderen Lage der deutschen Minderheit und ihrer dadurch entstandenen Ängste Rechnung getragen werde. Diese Ängste seien in die Zukunft gerichtet gewesen, man habe die Befürchtung einer "ewigen" Gruppenverfolgung gehabt; Hoffnung auf Besserung habe nicht bestanden. Die Ängste hätten auch weiterbestanden als die Situation sich langsam nach und nach etwas gebessert habe. Dem müsse die Auslegung der Fiktion dadurch Rechnung tragen, daß diese solange eingreife, wie die subjektive Angst einer Verfolgung bestanden habe, auch wenn diese objektiv bereits entfallen gewesen sei.
20Entscheidend seien insbesondere die konkreten Verhältnisse am Wohnort, die hier bis 1962 durch den fehlenden Kontakt mit anderen Deutschen gekennzeichnet gewesen seien.
21Darüberhinaus sei der Kläger zu 1) mit dem deutschen Familienschicksal groß geworden. Darin liege die Weitergabe des Volksgruppenschicksals und somit eine Erziehung in deutscher Kultur im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG. Es sei das kulturelle Gedächtnis von Volksdeutschen überliefert worden. Insoweit seien die Grundsätze des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juni 1995 zur Regelung des § 6 BVFG a.F. auch auf das heutige Recht anzuwenden. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. November 1996 - 9 C 8/96 - stehe dem nicht entgegen. Der Kläger des damaligen Verfahrens sei erst im Jahre 1965 geboren worden. Von keiner der Instanzen sei die Frage der Fiktion geprüft worden, so daß die dort aufgestellten Grundsätze für das vorliegende Verfahren schon aus diesem Grunde nicht anwendbar seien. Zumindest liege der in diesem Urteil genannte besondere Ausnahmefall vor.
22Die Kläger beantragen,
23unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Köln vom 27. Juli 1994 die Beklagte unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheides vom 6. Januar 1992 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 1992 zu verpflichten, dem Kläger zu 1) einen Aufnahmebescheid zu erteilen und die Kläger zu 2) bis 4) in diesen Aufnahmebescheid einzubeziehen.
24Die Beklagte beantragt,
25die Berufung zurückzuweisen.
26Die Beklagte führt ergänzend aus: Die Ergebnisse der Vorsprache des Klägers zu 1) bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Almaty entsprächen den Angaben, die zunächst im Aufnahmeantrag gemacht worden seien. Aus diesem Grunde sei es verwunderlich, wenn nunmehr eidesstattliche Versicherungen vorgelegt würden, wonach Deutsch in der Familie die Umgangssprache gewesen sei. Darüber hinaus könne es nicht ausreichen, wenn dem Kläger zu 1) von einer Tante deutsche Sitten "beigebracht" worden seien. Erforderlich sei, daß man deutsche Sitten und Kultur im engsten Familienkreis lebe und verinnerliche.
27Das Ergebnis der Vorsprache in Almaty sei nicht zu beanstanden. Nachfragen bei den entsprechenden Bediensteten hätten ergeben, daß der Kläger zu 1) nicht mit Polizeibegleitung in die Botschaft geführt worden sei. Uniformierte Bedienstete seien in der Botschaft nicht tätig. Ebensowenig sei die Behauptung nachvollziehbar, der Kläger zu 1) habe angenommen, er sei in die Botschaft bestellt worden, weil seinem Vater etwas zugestoßen sei. Auf der Einladung zu der Vorsprache sei ausdrücklich angegeben worden, daß es um die Klärung wichtiger Fragen des Aufnahmeantrages gehe. Bei der Vorsprache sei auch ein Sprachmittler anwesend gewesen. Dieser sei in das Protokoll nicht aufgenommen worden, weil dafür keine Rubrik vorhanden gewesen sei.
28Den Klägern könne auch nicht gefolgt werden, wenn sie vortrügen, daß das Gebiet Adamowskij kein deutscher Siedlungsbereich gewesen sei. Das Gebiet um Orenburg sei bereits vor dem 2. Weltkrieg im größeren Umfang von Deutschen besiedelt worden. Dies gelte insbesondere auch für den Kreis Adamowskij. Selbst wenn in dem Dorf, in dem der Kläger zu 1) aufgewachsen sei, keine Deutschen gewohnt hätten, hätten in der näheren Umgebung seit längerer Zeit deutsche Strukturen bestanden.
29Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Kläger zu 1) und dessen Vater bis zum Jahre 1961 unter Kommandanturaufsicht gestanden hätten. Durch das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 sei die Aufhebung der Beschränkungen der Rechtsstellung der Deutschen und deren Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befinden, erfolgt. Ausnahmen seien darin nicht vorgesehen gewesen. Anhaltspunkte dafür, daß für die Familie des Klägers zu 1) besondere Regelungen bestanden hätten, seien nicht ersichtlich. Für die Zeit ab 1962 ergebe sich der regelmäßige Kontakt zu anderen Deutschen bereits aus dem Vortrag der Kläger.
30Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Verfahrensakten, der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge, der Akten 2 A 4672/94 und 2 A 4673/94 OVG NW und der dazu eingegangenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Senat hat zum Zwecke der Entscheidung die nachfolgenden Erkenntnisquellen ausgewertet.
31Erkenntnisliste
321. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an OVG NW v. 13.9.1995 (513-542.40 GUS) 2. Hilkes, Stellungnahme an OVG NW v. 17.9.1995 3. Weydt, Stellungnahme an OVG NW v. 23.9.1995 4. Heimatauskunftsstelle für die Sowjetunion, Auskunft an OVG NW v. 26.9.1995 (LA 3775-51/1) 5. Eisfeld, Stellungnahme an OVG NW v. 24.11.1995 6. Brunner, Stellungnahme an VGH Baden-Württemberg v. 18.10.1995 7. Pinkus/Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, Baden-Baden 1987 8. Dietz, Zwischen Anpassung und Autonomie, Berlin 1995 9. Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an BMI v. 21.9.1995 (513-542.40 GUS)
10. 33Entscheidungsgründe:
34Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufnahmebescheide.
35Als Rechtsgrundlage für den von den Klägern geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides kommen die §§ 26, 27 Abs. 1 Satz 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993, BGBl. I 829, geändert durch das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz - PflegeVG) vom 26. Mai 1994, BGBl. I 1014, in Betracht.
36Für die Beurteilung des Anspruchs ist insgesamt neues Recht maßgebend. Denn nach der hier für die Anwendung des bisherigen Rechts gemäß § 100 Abs. 1 BVFG allein in Betracht zu ziehenden Vorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG kann Aussiedler nur (noch) sein, wer das Aussiedlungsgebiet vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat.
37Vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Februar 1993 - 9 C 25.92 -, BVerwGE 92, 70 (72f), und vom 29. August 1995 - 9 C 391.94 -, DVBl 1996, 198 = BVerwGE 99, 133.
38Die Kläger leben jedoch heute noch in Kasachstan.
39I. Der Kläger zu 1) hat gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides. Nach dieser Bestimmung wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Verlassen dieser Gebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Dies kann für den Kläger zu 1) nicht festgestellt werden.
40Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist. Da der Kläger zu 1) nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist, ist er nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BVFG), ihm die Eltern, ein Elternteil oder andere Verwandte bestätigende Merkmale, wie Sprache, Erziehung, Kultur vermittelt haben (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG) und er sich bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebietes zur deutschen Nationalität erklärt, sich bis dahin auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt hat oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehörte (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG).
41Der Kläger zu 1) erfüllt die Voraussetzung des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 3 BVFG, da er von einem deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich zur deutschen Nationalität erklärt hat.
421. Dagegen sind die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG beim Kläger zu 1) nicht gegeben.
43Es kann nicht festgestellt werden, daß dem Kläger zu 1) das in dieser Bestimmung genannte bestätigende Merkmal der Sprache vermittelt worden ist.
44Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist unter Sprache im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG grundsätzlich die deutsche Sprache als Muttersprache oder - bei Zwei- oder Mehrsprachigkeit - als bevorzugte Umgangssprache zu verstehen. Dabei ist die deutsche Sprache dann als bevorzugte Umgangssprache anzusehen, wenn sie jemand wie eine Muttersprache spricht, ihr gegenüber den sonstigen von ihm beherrschten Sprachen im persönlich- familiären Bereich den Vorzug gegeben und sie damit in diesem Bereich regelmäßig überwiegend gebraucht hat. Dabei wird nicht verlangt, daß Deutsch als Hochsprache beherrscht wird. Es reicht aus, wenn die deutsche Sprache - als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache - so vermittelt worden ist, wie sie im Elternhaus - z.B. in Form des Dialekts - gesprochen wurde.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, NVwZ-RR 1997, 381.
46Der Senat kann nicht feststellen, daß dem Kläger zu 1) die deutsche Sprache in dem erforderlichen Maße vermittelt worden ist. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sowohl seine Mutter- als auch seine bevorzugte Umgangssprache Russisch war und ist und er die deutsche Sprache weder heute noch im Zeitpunkt des Eintritts seiner Bekenntnisfähigkeit in einer den Anforderungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG genügenden Weise spricht oder gesprochen hat.
47Dies ergibt sich zunächst aus dem Vortrag der Kläger. Daraus ist nicht ersichtlich, daß der Kläger zu 1) Deutsch als Muttersprache spricht. Im Aufnahmeantrag hat er angegeben, Russisch sei seine Muttersprache. Auf Nachfrage ist im Verwaltungsverfahren erklärt worden, Ukrainisch, Deutsch und Russisch seien die Muttersprachen des Klägers zu 1). Ergänzend ist dazu ausgeführt worden, ab dem zehnten Lebensjahr habe der Kläger zu 1) von seiner Tante Deutsch gelernt, er verstehe und schreibe Deutsch. Diese Angaben gehen jedoch ersichtlich von einem anderen Verständnis des Begriffs Muttersprache aus, weil dabei in offensichtlicher Verkennung des Begriffs von der Möglichkeit mehrerer Muttersprachen für einen Aufnahmebewerber ausgegangen und die aktive Beherrschung einer Sprache als nicht erforderlich angesehen wird.
48Der diesbezügliche Vortrag im gerichtlichen Verfahren rechtfertigt keine für den Kläger zu 1) günstigere Entscheidung. Zwar sollen danach die Angaben im Verwaltungsverfahren falsch sein; die Muttersprache des Klägers zu 1) sei das Deutsche, und zwar ein altdeutscher Dialekt, den er von seiner Großmutter und seiner Tante gelernt habe, wie der Kläger zu 1) in einer Erklärung vom 13. Dezember 1993 angegeben hat. Weiter wird ausgeführt, daß er Deutsch von seinem Vater und ab 1962 von anderen Verwandten gelernt habe, so daß er gewisse Deutschkenntnisse bis zum Abschluß der Prägungsphase erworben habe. Es wird aber nicht bestritten, daß der Kläger zu 1) ab Geburt (auch) Russisch gesprochen hat, so daß Deutsch nicht seine Muttersprache sein kann.
49Die Kläger haben auch nicht vorgetragen, daß der Kläger zu 1) Deutsch als bevorzugte Umgangssprache zumindest im familiären Bereich gesprochen hat oder spricht. Im Aufnahmeantrag ist Russisch als jetzige Umgangssprache in der Familie des Klägers zu 1) bezeichnet worden. Im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens ist ergänzend erklärt worden, daß er kein Deutsch spreche. Diese Angaben sind im gerichtlichen Verfahren zunächst bestätigt worden. Zwar ist dies später bestritten worden. Die dazu gemachten Angaben lassen aber nicht erkennen, daß Deutsch die bevorzugte Umgangssprache des Klägers zu 1) war oder ist. So heißt es dazu, in der Familie sei bis zum Abschluß der Prägungsphase deutsch gesprochen worden, wenn auch mit der Mutter nur Russisch habe gesprochen werden können. Der Kläger zu 1) habe Dialektkenntnisse gehabt, die er vom Vater und seit 1962 von Verwandten erworben habe. Hinsichtlich der Erziehung durch Verwandte ist im Verwaltungsverfahren von der Tante die Rede, die deutsch gesprochen und deutsche Sitten und Gebräuche vermittelt habe. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ist aufgrund von Angaben des Vaters des Klägers zu 1) zunächst vorgetragen worden, seit 1962 sei der Kläger von seiner deutschen Großmutter erzogen worden. Nachdem das Verwaltungsgericht in seinem Urteil darauf hingewiesen hatte, diese sei bereits 1943 verstorben, ist erklärt worden, es habe sich um die deutsche Urgroßmutter E. L. gehandelt, die 1884 geboren und 1965 gestorben sei. Außerdem habe die Tante sich um ihn gekümmert. Der Vater des Klägers zu 1) hat in einem von ihm im April 1996 unterschriebenen Fragenkatalog jedoch weder eine Großmutter noch eine Urgroßmutter erwähnt, sondern lediglich den deutschen Großvater des Klägers zu 1), der bis 1964 gelebt habe, und Onkel und Tante. Auch der Kläger zu 1) hat bei seiner Befragung in der deutschen Botschaft in Almaty nur die Tante genannt, von der er tagsüber beaufsichtigt worden sei, während er im Schreiben vom 13. Dezember 1993 die Tante und die 1943 verstorbene Großmutter nennt.
50Allen diesen Angaben ist nicht zu entnehmen, daß bis zum Abschluß der Prägungsphase Deutsch die bevorzugte Umgangssprache des Klägers zu 1) in der Familie war. Da mit der Mutter nur Russisch gesprochen werden konnte, war in der engeren Familie des Klägers zu 1) Russisch die Umgangssprache, selbst wenn der Vater ab und zu deutsch gesprochen haben sollte. Daß dieser trotz der fehlenden Deutschkenntnisse seiner Frau dennoch mit den Kindern stets deutsch gesprochen hätte, ist nicht vorgetragen worden. Dies ist auch den im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen von zwei Bekannten der Kläger nicht zu entnehmen, in denen es heißt: "daß in der Familie L. die Deutsche Sprache die Umgangssprache war". Diese Erklärung ist zu pauschal Mangels Angaben zum Umfang des Sprachgebrauchs ist ihr nicht zu entnehmen, daß Deutsch die bevorzugte Umgangssprache in der Familie war, neben der in jedem Falle erforderlichen Umgangssprache Russisch im Umgang mit der Mutter des Klägers zu 1..
51Auch für die Bevorzugung der deutschen Sprache gegenüber dem Russischen in der Großfamilie fehlen konkrete Angaben. Insoweit ist lediglich nachvollziehbar vorgetragen, daß seit 1962 die deutsch sprechende Tante des Klägers zu 1), die Schwester des Vaters, sich um ihn gekümmert habe. Dagegen kann weder von einer Erziehung durch die Großmutter, die bereits 1943 gestorben ist, noch durch die Urgroßmutter oder den Großvater ausgegangen werden. Die diesbezüglichen Angaben sind widersprüchlich und nicht nachvollziehbar. Im Berufungsverfahren ist vorgetragen worden, die Urgroßmutter E. L. sei 1884 geboren worden, 14 Jahre vor ihrem 1898 geborenen Sohn L. L. . Dagegen spricht, daß der Vater des Klägers zu 1) in seinem Antrag auf Erteilung eines Vertriebenenausweises (Beiakte V im Verfahren 2 A 4673/94) erklärt hat, zu seiner Großmutter E. L. könne er keine Angaben machen, auch der letzte Wohnort und das Todesdatum seien unbekannt. Zu seinem Vater, dem Großvater des Klägers zu 1), heißt es im gleichen Antrag, dieser sei 1896 geboren worden. Außerdem hat der Vater des Klägers zu 1) im Schreiben vom 21. September 1994 an das Gericht angegeben, sein Vater L. L. sei bereits 1937 verhaftet und erschossen worden.
52Hinsichtlich der Erziehung durch die Tante ist kein Sachverhalt geschildert worden, der es auch nur möglich erscheinen läßt, daß durch Vermittlung der Tante Deutsch zur bevorzugten Umgangssprache des Klägers zu 1) geworden sei. Zwar ist davon auszugehen, daß die Tante deutsch sprach, es ist aber nicht vorgetragen worden und es kann auch mangels sonstiger Hinweise nicht davon ausgegangen werden, daß sie die russische Sprache in dieser wegen der Sprachkenntnisse einiger Angehöriger im engeren Familienkreis (auch) russisch sprechenden Familie nicht beherrschte. Deshalb ist davon auszugehen, daß sie sich mit dem Kläger zu 1) auch auf russisch verständigt hat. Daß der Kläger zu 1) dennoch beim Zusammensein mit ihr nur oder zumindest vorwiegend die deutsche Sprache benutzte, ist nicht substantiiert dargelegt worden. Es ist lediglich pauschal erklärt worden, von 1965 bis 1969 habe die Tante die Erziehung des Klägers zu 1) vollständig übernommen und ihn im Sinne des deutschen Volkstums geprägt. Für die vom Kläger zu 1) beim Kontakt mit der Tante bevorzugte Umgangssprache läßt sich daraus nichts entnehmen.
53Daß Deutsch weder die Muttersprache noch die bevorzugte Umgangssprache des Klägers zu 1) war und ist, wird bestätigt, durch das Ergebnis seiner Anhörung in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Almaty am 25. Oktober 1993. In dem Vermerk über die Anhörung ist festgehalten, daß der Kläger zu 1) Deutsch nicht spricht und schreibt und nur wenige Worte versteht. Außerdem ist angegeben, der Kläger zu 1) habe erklärt, er habe Deutsch bei seiner Tante gelernt, die ihn tagsüber versorgt habe. Diese Feststellungen entsprechen im wesentlichen Punkt, nämlich der aktiven Beherrschung der deutschen Sprache, den Angaben in der Nachermittlung, wonach der Kläger zu 1) die deutsche Sprache nicht spricht und die deutsche Sprache und deutsche Sitten und Gebräuche ihm von seiner Tante vermittelt worden sind.
54Die Richtigkeit der bei der Anhörung gemachten Feststellungen wird auch nicht durch die Schilderungen des Klägers zu 1) über den Verlauf der Anhörung in der Botschaft in Frage gestellt. In der schriftlichen Erklärung vom 13. Dezember 1993 hat der Kläger zu 1) angegeben, er habe die in hochdeutscher Sprache sehr schnell gestellten Fragen nicht verstanden; außerdem sei er sehr aufgeregt gewesen, weil er in polizeilicher Begleitung in die Botschaft geführt worden sei und auch wieder heraus. Später ist vorgetragen worden, der Kläger sei sehr nervös gewesen, weil er geglaubt habe, er sei in die Botschaft bestellt worden, weil seinem Vater etwas zugestoßen sei. Letztere Angabe ist nicht nachvollziehbar, da es in dem dem Kläger zu 1) übersandten Einladungsschreiben heißt: "Ihr Aufnahmeantrag kann derzeit beim Bundesverwaltungsamt nicht abschließend bearbeitet werden, weil wichtige Fragen zu klären sind. Bitte sprechen Sie daher in den nächsten Tagen persönlich hier vor. Sprechzeiten für Aussiedler sind von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 14.30 bis 17.00 Uhr." Soweit der Kläger zu 1) in polizeilicher Begleitung in die Botschaft geführt worden sein will - ob er auch wieder von einem Polizisten heraus geführt worden ist, ist unerheblich, da sich dies auf die vorher durchgeführte Anhörung nicht ausgewirkt haben kann -, wird dies von der Beklagten nachvollziehbar unter genauer Schilderung des Ablaufs derartiger Anhörungen in der Botschaft bestritten. Insbesondere wird dargelegt, daß es innerhalb der Botschaft kein uniformiertes Wachpersonal gibt. Der Kläger zu 1) ist dem substantiiert nicht entgegengetreten. Letztlich braucht dies aber nicht abschließend geklärt zu werden, da unabhängig davon nicht ersichtlich ist, weshalb die Begleitung einer uniformierten Person den Kläger zu 1), der zusammen mit seinen beiden Brüdern gekommen war, so aufgeregt haben soll, daß er deswegen seine deutschen Sprachkenntnisse völlig vergessen haben will. Schließlich hat offensichtlich eine Verständigung zwischen dem Kläger und dem Bediensteten der Botschaft stattgefunden, da ansonsten die richtigen Angaben zu der Erziehung durch die Tante nicht erklärlich sind.
55Es liegen auch keine sonstigen in § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG benannten oder unbenannten bestätigenden Merkmale im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG vor. Fehlt - wie hier - das Merkmal der deutschen Sprache, so kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wegen des engen Zusammenhanges zwischen Sprache, Erziehung und Kultur ohne das Hinzutreten besonderer Umstände, die die Kläger nicht vorgetragen haben und die nicht ersichtlich sind, auch nicht von einer deutschen Erziehung des Klägers zu 1) oder von der Vermittlung deutscher Kultur an den Kläger zu 1) ausgegangen werden. Wer nicht Deutsch, sondern Russisch als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache spricht, ist regelmäßig Angehöriger des russischen Kulturkreises, was zugleich eine Erziehung im Sinne des russischen Volkstums indiziert.
56Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, aaO.
57Der Senat hat sich dieser Auffassung angeschlossen und zur Begründung im einzelnen auf die Gründe der genannten Entscheidung verwiesen.
58Vgl. Urteil des Senats vom 14. Februar 1997 - 2 A 946/94 -.
59An seiner aufgrund einer umfangreichen Beweisaufnahme im Urteil vom 28. Dezember 1995 - 2 A 4115/94 - dargelegten Auffassung, daß deutsche Kultur im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG den Angehörigen der im Bereich der ehemaligen Sowjetunion lebenden deutschen Volksgruppe auch über die russische Sprache vermittelt werden konnte und kann, hat er nicht festgehalten.
60Wird somit das von dem Kläger zu 1) geltend gemachte Bekenntnis zum deutschen Volkstum nicht durch Sprache, Kultur und Erziehung objektiv bestätigt, wie es nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG erforderlich ist, kann der Kläger zu 1) kein deutscher Volkszugehöriger sein, weil auch sonstige für die Bestätigung eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum in Betracht kommende Umstände von ähnlichem Gewicht und ähnlicher Beschaffenheit wie die in § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG ausdrücklich angeführten Bestätigungsmerkmale,
61vgl. dazu BVerwG; Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, aaO.,
62nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich sind. Allein die Behauptung, derartige Merkmale lägen vor, reicht nicht aus. Es muß ein Sachverhalt geschildert werden, aus dem sich derartige Umstände von ähnlichem Gewicht und ähnlicher Beschaffenheit ergeben. Das ist hier nicht der Fall.
632. Bestätigungsmerkmale nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG sind auch nicht gemäß Abs. 2 Satz 2 erster Halbsatz der Vorschrift hier entbehrlich. Nach dieser Vorschrift gelten die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG als erfüllt, wenn die Vermittlung bestätigender Merkmale wegen der Verhältnisse im Herkunftsgebiet nicht möglich oder nicht zumutbar war.
64Zwar tragen die Kläger vor, der Kläger zu 1) könne sich auf die Fiktion berufen, weil er bis 1962 in einem Dorf aufgewachsen sei, in dem außer seiner Familie nur zwei Deutsche gewohnt hätten, mit denen eine Kontaktaufnahme nicht möglich gewesen sei und seinem 1923 geborenen Vater die Fiktion des § 6 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative BVFG zugute komme. Letzteres bedeute, daß diesem nicht zumutbar gewesen sei, seinen Kindern die deutsche Sprache zu vermitteln, da er sich dadurch als Deutscher zu erkennen gegeben hätte.
65Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Auch für die Zeit von 1952 bis 1962 kann für den Kreis Adamowskij im Gebiet Orenburg nicht festgestellt werden, daß die Vermittlung der deutschen Sprache nicht möglich oder nicht zumutbar war. Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse ist der Senat davon überzeugt, daß auch im Kreis Adamowskij im Gebiet Orenburg in den fünfziger Jahren eine Vermittlung der deutschen Sprache im häuslichen Bereich möglich war. Den Auskünften und Stellungnahmen läßt sich nämlich nicht entnehmen, daß es der deutschen Volksgruppe im Herkunftsgebiet der ehemaligen Sowjetunion außer Estland, Lettland und Litauen nicht zumutbar oder nicht möglich war, die deutsche Sprache in der Familie zu überliefern. Die darin enthaltene Darstellung der Sprachsituation läßt vielmehr erkennen, daß ein Gebrauch der deutschen Sprache als Muttersprache oder als bevorzugte Umgangssprache bei der Kommunikation zumindest innerhalb des häuslichen Bereichs grundsätzlich ohne die Befürchtung von Diskriminierungen oder Benachteiligungen jederzeit und überall möglich war.
66Vgl. Auswärtiges Amt, Nr. 1, S. 1 und 7 f.; Hilkes, S. 3 ff.; Weydt, S. 2 f; Eisfeld, S. 6 ff.
67Zwar war danach die Verwendung von Deutsch als Muttersprache oder als bevorzugte Umgangssprache durch die Angehörigen der deutschen Volksgruppe nach dem Zweiten Weltkrieg mit erheblichen Schwierigkeiten und Einschränkungen verbunden. Denn Deutsch galt in dieser Zeit als "Sprache der Faschisten" und war in einer nichtdeutschen Öffentlichkeit kraß stigmatisiert. Deshalb waren viele Angehörige der deutschen Volksgruppe auch noch lange nach ihrer Deportation teilweise bis heute dazu gezwungen, sich aus Furcht vor Diskriminierung und Repressionsmaßnahmen in der Öffentlichkeit auch untereinander des Russischen zu bedienen. Aus den Auskünften und Stellungnahmen ergeben sich aber keine Anhaltspunkte dafür, daß eine Überlieferung der deutschen Sprache grundsätzlich ausgeschlossen war. Gerade die Feststellung, daß ein rechtliches Verbot der deutschen Sprache in der ehemaligen Sowjetunion nie ausgesprochen worden ist und sich die Benutzung der deutschen Sprache fast ausschließlich auf die Familie oder - soweit noch geschlossene deutsche Siedlungsgemeinschaften vorhanden waren - auf Kontakte unter den Dorfbewohnern beschränkte, belegt, daß die Vermittlung der deutschen Sprache in den genannten Aussiedlungsgebieten der ehemaligen Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg zumindest innerhalb der Familien grundsätzlich möglich und zumutbar war.
68Diese Ausführungen gelten nicht nur für Gebiete, in denen zahlreiche Deutsche lebten, sondern grundsätzlich auch für Bereiche, in denen sich nur wenige Deutsche aufhielten. In den Auskünften wird nicht zwischen Bereichen, in denen der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung relativ hoch war, und solchen Gebieten unterschieden, in denen nur einzelne Deutsche lebten. Dies erklärt sich daraus, daß die Sprachvermittlung praktisch auf den häuslichen Bereich beschränkt war, und sie deshalb nicht entscheidend vom Kontakt mit anderen deutschen Familien abhing.
69Anhaltspunkte dafür, daß im Kreis Adamowskij ausnahmsweise etwas anderes galt, sind nicht ersichtlich. Der Kreis Adamowskij gehört zu den Verwaltungsbezirken der Hauptwohngebiete der Deutschen in der Sowjetunion nach 1945.
70Vgl. Reichling, Gemeindeverzeichnis für die Hauptwohngebiete der Deutschen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Frankfurt 1982, S. 59 iVm 15f..
71Auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Volkszählungen von 1959 und 1969 kann nicht davon ausgegangen werden, daß es sich beim Kreis Adamowskij um ein Gebiet handelte, in dem so wenig Deutsche lebten, daß ein Kontakt untereinander nicht möglich war. Danach lebten im Gebiet Orenburg 40.160 Deutsche, es gehört nicht zu den Gebieten, in denen Rußlanddeutsche in der Zerstreuung lebten.
72Vgl. Karte der deutschen Siedlungsgebiete in der Sowjetunion nach der Volkszählung 1959 für die Rayone (Kreise) mit zahlreichen Rußlanddeutschen und 1969 für die Republiken und Oblastji (Gebiete) aus Karl Stumpp, Die Rußlanddeutschen, Verlag der Landsmannschaft der Rußlanddeutschen, Stuttgart.
73Auch die Vorläufigen Richtlinien des Bundesministeriums des Innern zu § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG in der Fassung vom 19. April 1996 rechtfertigen - unabhängig von der Frage ihrer rechtlichen Verbindlichkeit für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren - keine andere Entscheidung. Sie gehen nämlich davon aus, daß im Kreis Adamowskij eine Vermittlung der deutschen Sprache grundsätzlich möglich und zumutbar war. Denn dieses Gebiet zählt auch nach der Anlage zu diesen Richtlinien zu einem Siedlungsgebiet deutscher Volkszugehöriger in der ehemaligen UdSSR, in dem nach der Nummer 2.3.3 der Richtlinien eine Vermittlung der bestätigendem Merkmale im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG nicht ausgeschlossen war.
74Die Kläger haben auch nichts vorgetragen, woraus sich ergäbe, daß in der Familie des Klägers zu 1) aufgrund besonderer Umstände der Gebrauch der deutschen Sprache in der Familie abweichend vom Regelfall nicht möglich war. Zwar haben sie behauptet, daß es am Wohnort des Klägers zu 1), dem Dorf L. , unmöglich gewesen sei, bestätigende Merkmale zu vermitteln. Die für diese Rechtsansicht allein unter Beweis gestellten Tatsachen, daß nur zwei weitere Deutsche in diesem Dorf gewohnt hätten und der Arbeitgeber Kontakte zu diesen Arbeitskollegen des Vaters des Klägers zu 1) verhindert habe, vermögen diese Ansicht aber nicht zu stützen. Sie können als wahr unterstellt werden, so daß es der beantragten Beweiserhebung nicht bedurfte. Denn die Vermittlung der deutschen Sprache als Bestätigungsmerkmal ist auch unter diesen Umständen nicht unzumutbar bzw. unmöglich. Im engen Kreis der Familie konnte der Vater des Klägers zu 1) die deutsche Sprache vermitteln und diese konnte als Umgangssprache gepflegt werden. Die Kläger haben trotz entsprechender Hinweise der Beklagten auf den Kreis Adamowskij als Siedlungsgebiet deutscher Volkszugehöriger auch nichts dafür dargelegt und keine Angaben zur Situation im Kreis Adamowskij gemacht, aus denen sich ergäbe, daß ein Kontakt mit den anderen Deutschen im Kreis nicht aufgenommen werden konnte.
75Den Klägern kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie meinen, daß dem Vater des Klägers zu 1) die Fiktion des § 6 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative BVFG zugute komme und dies zur Folge habe, daß ihm nicht zumutbar gewesen sei, seinen Kindern die deutsche Sprache zu vermitteln, da er sich dadurch als Deutscher hätte zu erkennen gegeben.
76Da § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG unterschiedliche Regelungen dafür vorsieht, wann die bestätigenden Merkmale des 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG bzw. die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG als erfüllt gelten, ist jeweils gesondert für die Nr. 2 und 3 des Satzes 2 zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Abgesehen davon haben die Kläger für den Vater des Klägers zu 1) keinen Sachverhalt geschildert, wonach dieser sich nicht zu seinem deutschen Volkstum bekannt hat, so daß zu prüfen wäre, ob dem Vater des Klägers zu 1) ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum wegen Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegender Nachteile nicht möglich war. Sie gehen vielmehr offenbar davon aus, daß feststehe, daß in einer bestimmten Zeit ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum generell nicht möglich war. Eine solche generelle Regelung enthält § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG aber gerade nicht, vielmehr ist das Vorliegen der Fiktion jeweils im Einzelfall zu prüfen.
77Selbst wenn davon ausgegangen wird, daß am Wohnort der Familie des Klägers zu 1), nämlich im Kreis Adamowskij, bis 1962 eine Vermittlung der deutschen Sprache nicht zumutbar oder nicht möglich gewesen ist, kommt der 1952 geborene Kläger zu 1) nicht in den Genuß der Fiktion. Er war erst 10 Jahre alt, als die Familie 1962 zu den übrigen Verwandten nach Kasachstan in ein Dorf zog, in dem auch weitere deutsche Volkszugehörige wohnten. In diesem Dorf hat der Kläger zu 1) außerdem sechs Jahre Deutschunterricht erhalten. In dem Zeitraum vom zehnten bis zum sechzehnten Lebensjahr hätte ihm in diesem stark deutsch geprägten Umfeld die deutsche Sprache selbst dann vermittelt werden können, wenn dies vorher in der Familie nicht möglich gewesen sein sollte. Ein Kind in diesem Alter, das vorher in einem anderen Umfeld gelebt hat, ist in der Regel in der Lage, eine neue Sprache zu erlernen, sofern diese als Umgangssprache im familiären häuslichen Bereich bevorzugt benutzt wird.
78II. Die Klage der Klägerin zu 2) ist ebenfalls unbegründet. Als nichtdeutsche Volkszugehörige kann sie den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nur auf § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG stützen, der die Einbeziehung des Ehegatten in den Aufnahmebescheid vorsieht. Da dem Kläger zu 1) aus den oben dargelegten Gründen ein Aufnahmebescheid nicht zu erteilen ist, kommt eine Einbeziehung seiner Ehefrau nicht in Betracht.
79III. Die Klage des inzwischen bekenntnisfähigen Klägers zu 3) ist unbegründet, weil er den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides mangels Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen und fehlender Sprachkenntnisse allenfalls auf § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG stützen kann und die Voraussetzungen für eine Einbeziehung in einen Aufnahmebescheid des Klägers zu 1) aus den oben dargelegten Gründen nicht vorliegen.
80IV. Die Klage des minderjährigen und nicht bekenntnisfähigen Klägers 4) ist unbegründet, weil er den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides mangels Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen sowie mangels Bekenntnisfähigkeit und fehlender Anhaltspunkte für eine Prägung der Bekenntnislage in der Familie durch einen dem deutschen Volkstum zugehörenden Elternteil
81vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 20.93 -, DVBl 1994, 935,
82allenfalls auf § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG stützen kann und die Voraussetzungen für eine Einbeziehung in einen Aufnahmebescheid des Klägers zu 1) aus den oben dargelegten Gründen nicht vorliegen.
83Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 und 162 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -. Es entspricht billigem Ermessen, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für nicht erstattungsfähig zu erklären, da dieser keinen Sachantrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko nicht ausgesetzt hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
84Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
85
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.