Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 8 B 3142/96
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des - gerichtskostenfreien - Beschwerdeverfahrens werden den Antragstellern je zur Hälfte auferlegt.
1
G r ü n d e :
2Die Beschwerde der Antragsteller mit dem sinngemäßen Antrag,
3den angefochtenen Beschluß zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihnen - unter anderem - Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit seit März 1996 nachzuzahlen,
4ist gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) unbegründet.
5Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, insbesondere ein solches dauernder Art, erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung setzt im einzelnen voraus, daß der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) vom jeweiligen Antragsteller glaubhaft gemacht werden (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
6Vorliegend fehlt es im maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidung des Senats an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, soweit sich der Antrag auf die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt auf Zeiträume vor dem Eingang des Antrages nach § 123 Abs. 1 VwGO beim Verwaltungsgericht am 2. Oktober 1996 bezieht. Das Anordnungsverfahren dient nämlich nach seinem Sinn und Zweck lediglich dazu, gegenwärtig drohende wesentliche Nachteile abzuwenden, und bietet deshalb Regelungsmöglichkeiten nur für Notlagen, die unaufschiebbar sind und die nicht bereits in der Vergangenheit liegen. Dementsprechend ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats das Bestehen streitiger Sozialhilfeansprüche, die sich auf einen Zeitraum vor der Stellung des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bei Gericht erstrecken, regelmäßig erst in einem Klageverfahren zu überprüfen.
7Vgl. zuletzt etwa Oberverwaltungsge-richt für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NW), Beschluß vom 24. Juli 1996 - 8 B 1577/96 - mwN.
8Die Antragsteller haben hinsichtlich der begehrten Regelsatzleistungen keine Umstände glaubhaft gemacht, die ausnahmsweise Anlaß sein könnten, im Rahmen des Verfahrens auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung auch Zeiträume vor Antragstellung bei Gericht in die Sachprüfung einzubeziehen. Auch in Ansehung der unterkunftsbezogenen Hilfe zum Lebensunterhalt ist keine rückwirkende Einbeziehung geboten; dies könnte allenfalls dann in Betracht zu ziehen sein, wenn ohne den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach Ablauf des nächstfolgenden Fälligkeitszeitpunktes für die Zahlung des Mietzinses ernsthaft mit einer Kündigung und Räumungsklage zu rechnen ist.
9Vgl. OVG NW, Beschluß vom 12. Dezember 1994 - 8 B 2650/94 -, Nordrhein-Westfä-lische Verwaltungsblätter (NWVBl.) 1995, 140.
10Eine derartige Situation ist vorliegend aber nicht mehr erkennbar, nachdem die Mietrückstände der Antragsteller bis einschließlich zum Monat Oktober 1996 beglichen worden sind. Daß nach den Angaben der Antragsteller die Mietrückstände für die Zeit von März 1996 bis einschließlich Juni 1996 durch ein Privatdarlehen beschafft werden mußten, ist im Hinblick auf den Anordnungsgrund ebenso unbeachtlich wie der Umstand, daß die zwischenzeitlich erfolgte Übernahme der Mietschulden für den Zeitraum Juli 1996 bis einschließlich Oktober 1996 durch den Antragsgegner auf der Grundlage eines sozialhilferechtlichen Darlehens erfolgte. Denn der Gefahr des Wohnungsverlustes oder gar der Obdachlosigkeit als Folge der Nichtbegleichung von Mietforderungen in der Zeit von März 1996 bis Oktober 1996 war damit wirksam begegnet. Für die Klärung der Fragen, ob die Antragsteller in der Zeitspanne von März bis Juni 1996 einen Anspruch auf unterkunftsbezogene Hilfeleistungen hatten bzw. ob für die nachfolgenden Monate die Hilfegewährung als "Zuschuß" oder lediglich in der Form eines Darlehens beansprucht werden konnte, steht jedenfalls grundsätzlich das Klageverfahren zur Verfügung.
11Vgl. zum letzteren OVG NW, Beschlüsse vom 18. Januar 1996 - 24 B 3380/95 - und vom 8. Februar 1996 - 8 B 188/96 -.
12Für die nachfolgenden Zeiträume, also ab dem Eingang des Antrags bei dem Verwaltungsgericht am 2. Oktober 1996 bis zum 31. Juli 1997, fehlt es hinsichtlich der Regelsatzleistungen und der laufenden Kosten für Miete und Heizung ebenfalls am Anordnungsgrund. Die Antragsteller erhalten nämlich seit November 1996 wieder laufende Sozialhilfeleistungen jedenfalls in Höhe des für ihren notwendigen Lebensunterhalt Unerläßlichen. Es bedarf im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes keiner Klärung, ob die Aufrechnung im Umfang von 100,00 DM wegen des den Antragstellern gewährten Darlehens rechtens ist. Denn die Vorenthaltung dieses Betrages hat nicht zur Folge, daß den Antragstellern das für den notwendigen Lebensunterhalt Unerläßliche fehlte. Nach der ständigen Rechtsprechung des beschließenden Senats reicht es in der Regel - sofern keine Besonderheiten des Einzelfalles vorliegen - zur Vermeidung wesentlicher Nachteile im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO aus, wenn einem erwachsenen Hilfesuchenden 80% des maßgeblichen sozialhilferechtlichen Regelsatzes zur Verfügung stehen.
13Vgl. etwa OVG NW, Beschlüsse vom 11. Dezember 1995 - 8 B 2304/95 - und vom 26. März 1996 - 8 B 3260/95 -.
14Bei einem Gesamtbedarf der Antragsteller an (Grund-)Regelsatzleistungen in Höhe von monatlich (531,00 DM + 425,00 DM =) 956,00 DM für die Zeit bis einschließlich Juni 1997 bzw. von (539,00 DM + 431,00 DM =) 970,00 DM für die Zeit ab Juli 1997 führt ein monatlicher Abzugsbetrag von 100,00 DM dazu, daß noch 89,5% bzw. 89,7% des maßgeblichen sozialhilferechtlichen Regelsatzes gewährt werden und somit wesentliche Nachteile vermieden werden können. Insofern verbleiben den Antragstellern ohnehin schon deutlich über dem zum Lebensunterhalt Unerläßlichen liegende Regelsatzleistungen. Daß wegen etwaiger Besonderheiten ihres Falles die Gewährung noch darüber hinausgehender Regelsatzleistungen bis zu deren voller Höhe im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren zur Abwendung unzumutbarer Nachteile im dargelegten Sinne geboten sei, haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Auch der Umstand, daß sie nach Wiederaufnahme der laufenden Hilfegewährung alsbald wieder neue Mietschulden haben entstehen lassen, spricht für sich betrachtet nicht für ein Unterschreiten der unabweisbar gebotenen Hilfe; es ist nicht glaubhaft gemacht, nicht einmal nachvollziehbar dargelegt, daß die Antragsteller aufgrund besonderer Umstände mit den ihnen deutlich mehr als 80% der regelsatzbemessenen Hilfe belassenden Leistungen des Antragsgegners zwangsläufig nicht auskommen konnten.
15Die im Verlauf des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingetretene Änderung der Verhältnisse, nämlich die Wiederaufnahme der Leistung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt durch den Antragsgegner ab November 1996, hat zur Folge, daß im Rahmen dieses Verfahrens nicht mehr zu untersuchen ist, ob die vorangegangene Einstellung der Hilfe zum Lebensunterhalt einen im Wege der einstweiligen Anordnung zu bewältigenden wesentlichen Nachteil für die Antragsteller mit sich gebracht hat. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Antragsteller insgesamt noch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, im Beschwerdeverfahren mithin der Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts.
16Vgl. statt vieler OVG NW, Beschlüsse vom 29. Mai 1996 - 8 B 48/96 - und vom 20. September 1996 - 24 B 1874/96 -.
17Es reicht nicht aus, daß die sachlichen und prozessualen Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung bei der gerichtlichen Antragstellung oder auch im Verlaufe des gerichtlichen Eilverfahrens möglicherweise einmal gegeben waren. Die den Erlaß einer einstweiligen Anordnung rechtfertigende besondere Dringlichkeit muß auch noch zum Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung im Eilverfahren, d.h. auch noch im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung, gegeben sein. Allein diese Betrachtungsweise entspricht Sinn und Zweck einer einstweiligen Anordnung auf dem Gebiet des Sozialhilferechtes, nämlich aktuelle Notlagen zu beseitigen; für das Beschwerdeverfahren gilt insoweit nichts anderes als für das Verfahren erster Instanz. Den berechtigten Interessen des Hilfesuchenden an der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes wird außerhalb einer aktuellen Notlage ausreichend dadurch Rechnung getragen, daß er die für die Vergangenheit geltend gemachten Ansprüche im Rahmen eines etwaigen Hauptsacheverfahrens weiterverfolgen kann.
18Hinsichtlich des als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt vom Antragsteller geltend gemachten altersbedingten Mehrbedarfs und der von ihm begehrten Erhöhung des Mehrbedarfs für kostenaufwendigere Ernährung fehlt es bezüglich der Zeit seit Eingang des Antrags beim Verwaltungsgericht jedenfalls an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Denn weder die Bewilligungsvoraussetzungen des für den Antragsteller zu 1. beanspruchten "Mehrbedarfs ab 65 Jahren" noch des für ihn als ernährungsbedingter Mehrbedarf zusätzlich geforderten Betrages von 26,00 DM sind glaubhaft gemacht worden.
19Voraussetzung für den Mehrbedarf gemäß § 23 Abs. 1 BSHG ist nach Satz 1 der Vorschrift neben der Vollendung des 65. Lebensjahres oder der Erwerbsunfähigkeit auch der Besitz eines Ausweises nach § 4 Abs. 5 des Schwerbehindertengesetzes mit dem Merkzeichen "G"; den Besitz eines solchen Ausweises hat der Antragsteller zu 1. nicht glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf den Mehrbedarf ergibt sich auch nicht aus § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG in Verbindung mit § 23 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes in der früheren, bis zum 31. Juli 1996 geltenden Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646 und 2975), zuletzt geändert am 17. Juli 1996 (BGBl. I S. 1006). Denn für den Antragsteller zu 1. war zum Stichtag des 31. Juli 1996 kein Mehrbedarf nach § 23 Abs. 1 BSHG alter Fassung anerkannt; vielmehr war zu diesem Zeitpunkt die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt für den Antragsteller zu 1. eingestellt. Wegen der im Anordnungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung muß es der Entscheidung im Hauptsacheverfahren überlassen bleiben, ob für den Fall, daß sich die Versagung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt vor deren Wiedergewährung ab November 1996 als rechtswidrig erweisen sollte, auch ein Bestandsschutz für den altersbedingten Mehrbedarf nach § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG als anerkannt anzusehen ist.
20Bezüglich des Mehrbedarfs in angemessener Höhe für eine kostenaufwendige Ernährung (§ 23 Abs. 4 BSHG) des Antragstellers zu 1. haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, warum der bisher gewährte Zuschlag von 162,00 DM nicht ausreichend sein sollte, sondern auf 188,00 DM aufgestockt werden muß.
21Falls in dem Vorbringen der Antragsteller - insbesondere in der Übersendung des an das Amtsgericht Lünen gerichteten Schreibens des Rechtsanwalts T. aus E. vom 30. Dezember 1996, in dem dieser für den Vermieter der Antragsteller neue Mietrückstände für die Zeit ab November 1996 vorträgt - die Geltendmachung eines im Wege der einstweiligen Anordnung zu bedienenden Anspruches auf Übernahme dieser weiteren Mietverbindlichkeiten durch den Antragsgegner zu sehen sein sollte, fehlt es gleichfalls an der Glaubhaftmachung der tatsächlichen Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch. Den Antragstellern sind seit November 1996 die vollen Unterkunftskosten gewährt worden; dies stellen sie auch nicht in Abrede. Die Anforderungen der weiter in Betracht kommenden Hilfevorschrift des § 15a Abs. 1 BSHG an eine Übernahme gleichwohl entstandener Mietrückstände sind nicht erfüllt.
22Soweit § 15a Abs. 1 Satz 2 BSHG in der seit dem 1. August 1996 geltenden Fassung nunmehr vorsieht, daß die Hilfe gewährt werden soll, wenn sie gerechtfertigt und notwendig ist und ohne sie Wohnungslosigkeit droht, haben die Antragsteller nicht dargelegt, daß diese zur Ermessensverengung führenden Voraussetzungen gegeben sind. An der Notwendigkeit einer derartigen Hilfe fehlt es, weil die Antragsteller auch nach der Wiederaufnahme der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt in einem Maße aufs Neue Mietschulden haben entstehen lassen, das allein mit der möglicherweise rechtswidrigen Aufrechnung in Höhe von 100,00 DM monatlich nicht hinlänglich erklärt werden kann; so geht aus der vorgelegten "Buchungsliste" der Fa. B. -Immobilien-GmbH hervor, daß die gesamte Novembermiete in Höhe von 944,50 DM von den Antragstellern nicht überwiesen worden ist. Das führt zu der Schlußfolgerung, daß die Antragsteller, möglicherweise als Folge ihres sonstigen Ausgabeverhaltens, auch nach einer neuerlichen Schuldenübernahme durch den Antragsgegner nicht zur dauerhaften Sicherung ihrer derzeitigen Unterkunft in der Lage sein dürften. Derselbe Gesichtspunkt steht auch einer Herleitung eines solchen Anspruches aus § 15a Abs. 1 Satz 1 BSHG entgegen; es ist weder dargetan noch glaubhaft gemacht, daß das dem Antragsgegner nach dieser Vorschrift eingeräumte "Kann"-Ermessen dahingehend gebunden ist, daß es nur in einer dem Begehren der Antragsteller entsprechenden Weise betätigt werden könnte.
23Der Senat vermag dem Vortrag der Antragsteller nicht mit letzter Sicherheit zu entnehmen, ob die sonstigen schriftsätzlich genannten Begehren - Zahlung "rechtswidrig einbehaltener Pflegegelder" für Tage, in denen sich die behinderte Tochter der Antragstellerin zu 2. "urlaubsbedingt" bei den Antragstellern aufhielt; Erstattung von Fahrtkosten für Besuche bei der Tochter der Antragstellerin zu 2.; "Rentennachzahlungen" in Höhe von über 20.000,00 DM; die Nachzahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt, soweit in der Vergangenheit eine Aufrechnung bzw. Verrechnung mit Erstattungsansprüchen erfolgt sei; nicht näher spezifizierte "Krankenhilfe" - in das Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung einbezogen sind oder ob insoweit wegen der von den Antragstellern auch verwendeten Bezeichnungen "Feststellungsklage" und "objektive Klagehäufung" klageweise verfolgte Ansprüche vorliegen; es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, welche dieser Begehren auch noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sein sollen. Soweit vorsorglich davon ausgegangen wird, daß alle genannten Einzelansprüche (auch) im vorliegenden Beschwerdeverfahren verfolgt werden, fehlt es jedenfalls durchgehend am Anordnungsgrund. Die Antragsteller haben nichts vorgetragen oder gar glaubhaft gemacht, was die Erfüllung dieser bis in das Jahr 1990 zurückreichenden behaupteten Ansprüche als besonders dringlich erscheinen ließe.
24Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 188 Satz 2, 154 Abs. 2 und 159 Satz 1 VwGO iVm § 100 Abs. 1 ZPO.
25Dieser Beschluß ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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