Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 7 B 3080/97
Tenor
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 9. Oktober 1997 gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 19. Juni 1997 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung vom 25. September 1997 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- DM festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 19. Juni 1997 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung vom 25. September 1997 zu Unrecht abgelehnt.
3Die im Verfahren nach §§ 80 a, 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem Interesse der Beigeladenen an einer unverzüglichen Ausnutzung der Baugenehmigung und dem Interesse der Antragstellerin, die Ausführung der Bauarbeiten vor einer abschließenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Baugenehmigung zu verhindern, führt zu dem Ergebnis, daß dem Interesse der Antragstellerin der Vorrang gebührt, da bei summarischer Prüfung davon auszugehen ist, daß der Antragstellerin ein nachbarliches Abwehrrecht gegen das genehmigte Vorhaben zusteht.
4Dabei kann offenbleiben, ob das Vorhaben in der durch die Nachtragsgenehmigung zugelassenen Form schon deshalb geschützte Nachbarrechte der Antragstellerin verletzt, weil das nördliche Haus auch unter Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs an seiner, dem Grundstück der Antragstellerin zugewandten Nordostseite die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält. Die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Berechnung der Abstandsflächen an der Nordostseite begegnet jedenfalls insoweit Bedenken, als sie nicht mit den Grundsätzen übereinstimmt, die der Senat - wenn auch in einem nicht völlig gleichgelagerten Sachverhalt - zur Berechnung der von Giebelwänden mit asymmetrischen Giebeln ausgelösten Abstandsflächen aufgestellt hat.
5Vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 5. September 1995 - 7 B 1886/95 -.
6Selbst wenn ungeachtet der vorgenannten Vorbehalte davon ausgegangen wird, daß das nördliche Haus an seiner Nordostseite zum Grundstück der Antragstellerin unter der - in jedem Fall erforderlichen - Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs die erforderlichen Abstandsflächen einhält, löst das genehmigte Vorhaben gleichwohl nachbarliche Abwehrrechte der Antragstellerin aus. Denn das genehmigte Vorhaben würde dazu führen, daß das Schmalseitenprivileg des § 6 Abs. 6 BauO NW für das nördliche Haus, welches bei natürlicher Betrachtungsweise ebenso wie das südliche Haus ein eigenständiges Gebäude im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW darstellt, unter Verstoß gegen § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NW unzulässigerweise dreimal in Anspruch genommen würde.
7Das nördliche Haus hält - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - ausweislich den von der Nachtragsgenehmigung umfaßten Abstandsflächenberechnungen vom 18. September und vom 22. Oktober 1997 weder zur nordöstlichen (Abstandsflächen Nr. 1, 2 und 3 gemäß Abstandsflächenberechnungen) noch zu der südwestlichen Grundstücksgrenze (Abstandsflächen Nr. 5 (a)-e)) der Abstandsflächenberechnungen), die nach § 6 Abs. 4 und 5 BauO NW erforderlichen Abstandsflächen ein und ist deshalb an beiden genannten Grenzen auf die Anwendung des Schmalseitenprivilegs angewiesen. Darüberhinaus ist das nördliche Haus in der durch die Nachtragsbaugenehmigung zugelassenen Form auch an seiner dem südlichen Haus gegenüberliegenden südöstlichen Außenwand auf eine - unzulässige dritte - Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs angewiesen.
8Dies ergibt sich im einzelnen aus Folgendem: Nach den Abstandsflächenberechnungen und den in den amtlichen Lageplänen zur Baugenehmigung eingezeichneten Abstandsflächen stößt die von der südöstlichen Gebäudewand des nördlichen Hauses ausgelöste Abstandsfläche (Abstandsfläche Nr. 4 gemäß Abstandsflächenberechnungen) ohne Anwendung des Schmalseitenprivilegs unter Zugrundelegung einer Geländehöhe von 82,30 m unmittelbar auf die Abstandsfläche der gegenüberliegenden Wand des südlichen Gebäudes. Die erforderliche Abstandsfläche Nr. 4 wird ohne Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs mithin nur eingehalten, wenn die in die Berechnung der Abstandsfläche Nr. 4 einzustellende Geländehöhe mindestens 82,30 m beträgt. Dies ist aber nach dem Inhalt der maßgeblichen Nachtragsgenehmigung nicht der Fall.
9Gemäß § 6 Abs. 4 Sätze 1 und 2 BauO NW bemißt sich die Tiefe der Abstandsfläche nach der Wandhöhe, wobei für die Ermittlung der Wandhöhe als unterer Bezugspunkt die Geländeoberfläche anzusetzen ist. Geländeoberfläche ist gemäß § 2 Abs. 4 BauO NW die Fläche, die sich aus der Baugenehmigung oder den Festsetzungen des Bebauungsplanes ergibt, im übrigen die natürliche Geländeoberfläche. Im Falle der Veränderung der natürlichen Geländeoberfläche im Zusammenhang mit einem Bauobjekt ist grundsätzlich die aus den Bauzeichnungen ersichtliche "herzustellende" bzw. "geplante" Geländeoberfläche maßgebend.
10Vgl. dazu Beschlüsse des Senats vom 29. Mai 1995 - 7 B 1187/95 -; vom 27. Juni 1995 - 7 B 1413/95 -; vom 26. Juli 1995 - 7 B 1623/95 - und vom 5. September 1995 - 7 B 1886/95 -.
11Dabei gilt jedoch, daß eine etwa beabsichtigte Geländeveränderung im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gebäudes regelmäßig an den Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 BauO NW zu messen ist und sich grundsätzlich als unzulässig darstellt, wenn die Geländeveränderung - ohne daß, wie hier, die Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 BauO NW vorliegen - allein dazu dienen soll, die Bestimmungen über die einzuhaltenden Abstandsflächen zu unterlaufen.
12Vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 29. Mai 1995 - 7 B 1187/95 -.
13In Anwendung dieser Grundsätze kann im vorliegenden Fall nicht von einer für die Abstandsflächenberechnung maßgeblichen Geländeoberfläche mit einer Höhe von mindestens 82,30 m an der südöstlichen Außenwand des nördlichen Gebäudes ausgegangen werden. Es kommt nach dem Inhalt der Nachtragsgenehmigung entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht in Betracht, der Berechnung der Abstandsfläche Nr. 4 eine im oben ausgeführten Sinne "herzustellende" bzw. "geplante" Geländeoberfläche mit einer Höhe von 82,30 m zugrunde zu legen. Dem steht entgegen, daß in keiner der Bauzeichnungen, die Gegenstand der Nachtragsgenehmigung geworden sind, geplante Veränderungen der bislang vorhandenen natürlichen Geländeoberfläche eingezeichnet sind. Vielmehr enthalten sämtliche Bauzeichnungen die - mithin auch für den betroffenen Bereich der südöstlichen Außenwand des nördlichen Hauses geltende - textliche Erklärung, daß das geplante Gelände dem vorhandenen Gelände entsprechen soll.
14Die fehlende Festlegung einer "herzustellenden" bzw. "geplanten" Geländeoberfläche in Abweichung von der vorhandenen natürlichen Geländeoberfläche in der streitigen Nachtragsgenehmigung hat zur Folge, daß für die Berechnung der durch die südöstliche Außenwand des nördlichen Hauses ausgelösten Abstandsfläche von der Höhe der natürlichen Geländeoberfläche auszugehen ist. Diese erreicht ausweislich der Höhenangaben in den amtlichen Lageplänen an der südöstlichen Außenwand nicht durchgängig die erforderlichen 82,30 m.
15Den Höhenangaben in den amtlichen Lageplänen läßt sich entnehmen, daß das Gelände auf dem streitigen Grundstück in südlicher Richtung, beginnend mit einer Höhe von 82/82,1 m an der nördlichen Grundstücksgrenze, leicht ansteigt auf eine Höhe von bis zu 82,30 m an der südlichen Grundstücksgrenze. Die in Rede stehende südöstliche Außenwand des geplanten nördlichen Gebäudes befindet sich in etwa auf der Hälfte dieses leichten Geländeanstieges. Dementsprechend weisen die beiden Meßpunkte in den amtlichen Lageplänen, die jeweils leicht versetzt in östlicher und westlicher Richtung auf der Höhe der südöstlichen Außenwand des nördlichen Gebäudes liegen, übereinstimmend eine vorhandene Geländehöhe von 82,2 m auf. Angesichts dessen erscheint es bei summarischer Prüfung ausgeschlossen, daß die natürliche Geländeoberfläche im gesamten Verlauf der südöstlichen Gebäudewand die - für die Einhaltung der Abstandsfläche ohne Anwendung des Schmalseitenprivilegs entsprechend den obigen Ausführungen erforderliche - durchgängige Höhe von 82,30 m erreicht. Das nördliche Gebäude ist folglich auch auf seiner südöstlichen Seite auf die Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs angewiesen.
16Die hiernach festzustellende unzulässige dreifache Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs begründet auch unabhängig von der Frage, ob das nördliche Gebäude dem Grundstück der Antragstellerin gegenüber die erforderlichen Abstandsflächen unter Anwendung des Schmalseitenprivilegs einhalten würde, ein Nachbarrechtsverstoß zu Lasten der Antragstellerin. Wird - wie hier - von einem Vorhaben das Schmalseitenprivileg vor mehr Außenwänden als zulässig in Anspruch genommen, so steht allen Nachbarn, an deren Grundstücksgrenzen die an sich nach § 6 Abs. 4, 5 BauO NW vorgeschriebenen Abstandsflächen nicht eingehalten werden, ein nachbarliches Abwehrrecht gegen das Vorhaben zu.
17Vgl. Beschlüsse des erkennenden Senats vom 5. Juli 1985 - 7 B 876/85 -, BRS 44 Nr. 144, und vom 3. Februar 1992 - 7 B 98/92 -; so auch 10. Senat des erkennenden Gerichts, Beschluß vom 13. Februar 1995 - 10 B 169/95 -.
18Nach alledem war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs stattzugeben.
19Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
20Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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