Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 2 A 186/99
Tenor
Der angefochtene Gerichtsbescheid wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die am 2. September 1972 geborene Klägerin und ihr Sohn, der 1991 geborene Kläger, stellten am 9. November 1994 einen Aufnahmeantrag.
3Im Antragsformular ist angegeben: Die Klägerin sei russische Volkszugehörige. In ihrem Inlandspaß sei sie mit russischer Nationalität eingetragen. Sie habe als Kind im Elternhaus deutsch und russisch gesprochen. Die deutsche Sprache habe sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter gelernt. Jetzt spreche sie selten deutsch und häufig russisch. Sie verstehe wenig Deutsch und ihre Kenntnisse reichten für ein einfaches Gespräch aus. Ihre Mutter sei deutsche Volkszugehörige. Ihr Vater sei russischer Volkszugehöriger.
4Die Mutter der Klägerin erhielt am 9. Dezember 1993 einen Aufnahmebescheid und wurde am 5. Mai 1994 in der Bundesrepublik Deutschland registriert.
5Unter dem 7. November 1994 führte die Mutter der Klägerin aus: Sie sei seit 1976 vom Vater der Klägerin geschieden. Die Klägerin sei bei ihr aufgewachsen und habe die deutsche Sprache gelernt. Bei Ausstellung des Inlandspasses habe die Klägerin keine Wahl gehabt. Es sei bestimmt worden, daß sie die Nationalität ihres Vaters habe annehmen müssen.
6Mit Bescheid vom 3. April 1995 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Antrag der Kläger ab und führte zur Begründung im wesentlichen aus: Die Klägerin erfülle wegen nicht ausreichender deutscher Sprachkenntnisse die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Bundesvertriebenengesetzes nicht. Wegen der Eintragung der russischen Nationalität in ihrem Inlandspaß lägen auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes nicht vor.
7Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger am 18. April 1995 Widerspruch, zu dessen Begründung sie vortrugen: Die Klägerin beherrsche die deutsche Sprache. Selbstverständlich sei in der Familie deutsch und russisch gleichermaßen gesprochen worden. Die Angabe im Formular zur Nationalität sei "nur bedingt freiwillig" gewesen, "um der Behördenwillkür zu entgehen". Am 24. Juni 1996 sprach die Klägerin bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Almaty vor. Sie gab dort an, sie habe als Kind im Elternhaus nur russisch und kein Deutsch gesprochen. Sie lerne die deutsche Sprache im Selbststudium seit etwa einem halben Jahr. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll des Sprachtests Bezug genommen (Blatt 57 - 61 des Verwaltungsvorgangs).
8Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 1998 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch zurück.
9Am 2. März 1998 haben die Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung sie vorgetragen haben: Die bei der Klägerin vorhandenen deutschen Sprachkenntnisse seien ihr unter den gegebenen Verhältnissen und Möglichkeiten durch die Mutter und die Großeltern mütterlicherseits vermittelt worden. Die Eintragung im Inlandspaß sei so zustandegekommen, daß der Klassenlehrer in der Berufsschule Formulare eingesammelt und später die Pässe verteilt habe, in denen regelmäßig die Nationalität des Vaters eingetragen gewesen sei.
10Die Kläger haben sinngemäß beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesverwaltungsamtes vom 3. April 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 1998 zu verpflichten, den Klägern einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
12Die Beklagte hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie hat ihre Auffassung wiederholt und vertieft, daß die Klägerin die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes nicht erfülle.
15Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
16Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte durch Gerichtsbescheid vom 13. November 1998 verpflichtet, die Kläger als Abkömmlinge in den Aufnahmebescheid der Mutter der Klägerin einzubeziehen, und die weitergehende Klage auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
17Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Beklagte vor: Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, eine Einbeziehung sei auch dann noch ohne weiteres möglich, wenn die Bezugsperson ihren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe, widerspreche dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 Satz 2 des Bundesvertriebenengesetzes und stehe im Gegensatz zur Rechtsprechung des erkennenden Senats und des Bundesverwaltungsgerichts. Die Klägerin erfülle auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes nicht.
18Die Beklagte beantragt,
19den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und die Klage abzuweisen.
20Die Kläger beantragen,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Sie tragen noch vor: Für eine Einbeziehung nach § 27 Abs. 1 Satz 2 des Bundesvertriebenengesetzes könne es keine Rolle spielen, ob die Bezugsperson als Inhaberin des Aufnahmebescheides ihren Wohnsitz noch in den Aussiedlungsgebieten habe. Es könne nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden, ob die Eintragung der russischen Nationalität in den Inlandspaß der Klägerin im Jahre 1988 auf Druck des damaligen Ehemannes oder in Anlehnung an die Staatsangehörigkeit des Vaters vorgenommen worden sei. Jedenfalls sei der Klägerin die Tragweite der damaligen Eintragung nicht bewußt gewesen. Als die Mutter der Klägerin Jahre später von der Eintragung erfahren habe, habe sie mit ihrer Tochter vergeblich versucht, die Eintragung ändern zu lassen.
23Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
24Er schließt sich dem Vortrag und der Rechtsauffassung der Beklagten an.
25Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (ein Heft) Bezug genommen.
26Entscheidungsgründe:
27Die Berufung hat Erfolg. Die Klage ist abzuweisen.
28I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993 (BGBl. I S. 829). Nach dieser Vorschrift wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Verlassen dieser Gebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Da die Klägerin aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einreisen würde, kann sie nach § 4 Abs. 1 BVFG nur dann Spätaussiedlerin sein, wenn sie deutsche Volkszugehörige ist. Dies richtet sich nach § 6 Abs. 2 BVFG, weil die Klägerin nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG liegen in ihrer Person jedoch nicht vor, weil ihr die Eltern, ein Elternteil oder andere Verwandte bestätigende Merkmale, wie Sprache, Erziehung, Kultur, nicht vermittelt haben (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG).
29Der Klägerin ist das bestätigende Merkmal der Sprache nicht vermittelt worden. Unter Sprache im Sinne dieser Bestimmung ist grundsätzlich die deutsche Sprache als Muttersprache oder als bevorzugte Umgangssprache zu verstehen. Als Muttersprache kann die deutsche Sprache regelmäßig dann angesehen werden, wenn sie in frühester Kindheit von den Eltern oder sie ersetzenden Bezugspersonen primär durch Nachahmung erworben und bis zur Selbständigkeit so vertieft worden ist, daß sie auch im Erwachsenenalter entsprechend der Herkunft und dem Bildungsstand als die dem Betreffenden eigentümliche Sprache umfassend beherrscht wird.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 1998 - 9 C 4.97 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 90.
31Als bevorzugte Umgangssprache ist die deutsche Sprache anzusehen, wenn sie jemand wie eine Muttersprache spricht, ihr gegenüber den sonstigen von ihm beherrschten Sprachen im persönlich-familiären Bereich den Vorzug gegeben und sie damit in diesem Bereich regelmäßig überwiegend gebraucht hat.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, DVBl. 1997, 897 = BVerwGE 102, 214.
33In jedem Fall muß die deutsche Sprache umfassend beherrscht und in flüssiger Form gesprochen werden.
34Vgl. BVerwG, Beschluß vom 11. Mai 1998 - 9 B 1133.97 -; BVerwG, Beschluß vom 23. August 1999 - 5 B 183.99 -.
35Diese Anforderungen erfüllt die Klägerin nicht. Der am 24. Juni 1996 mit ihr durchgeführte Sprachtest, dessen Ergebnis die Kläger nicht bestritten haben, hat ergeben, daß die Klägerin - entgegen früheren Angaben - im Elternhaus nur russisch und kein Deutsch gesprochen hat und daß sie die beim Sprachtest festgestellten geringen Deutschkenntnisse kurz zuvor im Selbststudium erworben hat.
36Der Klägerin sind auch nicht andere in § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG genannte bestätigende Merkmale vermittelt worden. Da zwischen dem Bestätigungsmerkmal Sprache einerseits und den Bestätigungsmerkmalen Erziehung und Kultur andererseits ein sehr enger innerer Zusammenhang besteht, weil Basis für die Erziehung eines Kindes sowie die Vermittlung einer bestimmten Kultur regelmäßig die Sprache ist, können deutsche Erziehung und deutsche Kultur in einer ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum bestätigenden Weise ohne eine gleichzeitige Vermittlung der deutschen Sprache als Muttersprache oder bevorzugten Umgangssprache nur unter besonderen Umständen vermittelt werden.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, DVBl. 1997, 897 = BVerwGE 102, 214.
38Derartige besondere Umstände sind nicht ersichtlich.
39Da die Klägerin keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides hat, ist auch eine Einbeziehung des Klägers gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG nicht möglich.
40II. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts haben die Kläger auch keinen Anspruch, gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG in den Aufnahmebescheid der Mutter der Klägerin einbezogen zu werden. Nach dieser Vorschrift ist ein Abkömmling einer Person im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG auf Antrag in deren Aufnahmebescheid einzubeziehen. Die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG liegen jedoch nicht vor, weil die Mutter der Klägerin als Bezugsperson das Aussiedlungsgebiet bereits im Mai 1994 endgültig verlassen hat. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ist nur auf Ehegatten und Abkömmlinge "von Personen im Sinne des Satzes 1" anwendbar. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid nur "Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Verlassen dieser Gebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen." Die Verweisung auf "Personen im Sinne des Satzes 1" läßt zwei Auslegungsmöglichkeiten zu: Zum einen kann sie sich streng vom Wortlaut her umfassend auf die in Satz 1 getroffene Regelung beziehen mit der Folge, daß die Bezugsperson nicht nur nach Verlassen der Aussiedlungsgebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen, sondern zum Zeitpunkt der Einbeziehung auch noch ihren "Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten" haben muß. Die Verweisung in § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG kann aber auch allgemeiner bezogen auf die Person des Aussiedelnden zu verstehen sein, daß die Einbeziehungsmöglichkeit nur bei den in Satz 1 umschriebenen Spätaussiedlern im Sinne des § 4 BVFG und nicht bei Personen im Sinne der §§ 1 bis 3 BVFG bestehen soll. Dieser mehrdeutige Wortlaut wird jedoch in der Begründung des Gesetzentwurfs eindeutig dahingehend erläutert, daß eine Einbeziehung nur dann möglich sein soll, wenn die Bezugsperson die Aussiedlungsgebiete noch nicht verlassen hat.
41Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz - KfbG), BT-Drucksache 12/3212, S. 26; ebenso BVerwG, Beschluß vom 27. April 1999 - 5 B 42.99 -; Urteil des Senats vom 19. Januar 1999 - 2 A 2030/96 -.
42Aus der Systematik der Vorschriften über das Aufnahmeverfahren und dem Zweck des Bundesvertriebenengesetzes ergibt sich nichts anderes.
43Zwar ist den §§ 7, 8 und 27 BVFG nicht zu entnehmen, daß Bezugsperson und einbezogene Personen gemeinsam ausreisen müssen - § 8 Abs. 2 BVFG läßt eher vermuten, daß eine gemeinsame Ausreise nicht erforderlich ist -, das besagt aber nichts über die Frage, ob und inwieweit vor der Ausreise die erforderlichen Bescheide vorliegen müssen.
44Der Zweck der Bestimmungen über die Einbeziehung legt es nahe, daß die Einbeziehung zum Zeitpunkt der Ausreise der Bezugsperson bereits vorgenommen worden sein muß. Die Einbeziehung von Ehegatten und Abkömmlingen, die einen Status nach dem Bundesvertriebenengesetz erwerben, ohne die materiellen Voraussetzungen der §§ 4 und 6 BVFG zu erfüllen, wird allein dadurch gerechtfertigt, daß eine enge familiäre Bindung zur Bezugsperson auch aufgrund eines gemeinsam erlittenen Vertreibungsschicksals besteht, die nicht zerstört werden soll. Dies zeigt auch die Regelung in § 27 Abs. 1 Satz 3 BVFG, nach der die Einbeziehung eines Ehegatten von Gesetzes wegen ihre Wirkung verliert, wenn die Ehe aufgelöst wird, bevor beide Ehegatten die Aussiedlungsgebiete verlassen haben. Dem Zweck des Gesetzes widerspräche es, wenn eine Einbeziehung von Personen, die selbst nicht Spätaussiedler werden, auch dann möglich wäre, wenn ein enger familiärer Zusammenhalt nicht oder nicht mehr besteht. Würde eine Einbeziehung auch nach der Ausreise der Bezugsperson noch zugelassen, bestünde für den Nachzug von Abkömmlingen kaum eine Beschränkung. Noch Jahrzehnte nach der Übersiedlung der Bezugsperson wären Einbeziehungen möglich, und zwar selbst von Abkömmlingen, die zum Zeitpunkt der Ausreise der Bezugsperson noch nicht geboren waren. Das ist mit der Einbeziehungsregelung nicht beabsichtigt.
45Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO iVm § 100 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
46Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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