Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 10 B 1376/00
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 15. März 2000 in der Fassung des Ergänzungsbescheides vom 20. Mai 2000 sowie der Nachtragsbaugenehmigungen vom 9. Mai 2000, 11. Juli 2000 und 28. Juli 2000 (im angefochtenen Beschluss als Nachtragsbaugenehmigung vom 2. August 2000 bezeichnet) wird angeordnet.
Dem Antragsgegner wird aufgegeben, den Beigeladenen durch sofort vollziehbare und mit Zwangsgeldandrohung versehene Bauordnungsverfügung sämtliche Bauarbeiten in Anwendung der obigen Baugenehmigung zu untersagen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht ertattungsfähig.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,- DM festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Unrecht abgelehnt.
3Die im Verfahren nach § 80a, § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung führt zu dem Ergebnis, dass dem - vorrangig auf der Grundlage einer Prüfung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu beurteilenden - Interesse der Antragsteller, von einer Vollziehung der Baugenehmigung vorläufig verschont zu bleiben, Vorrang vor dem Interesse der Beigeladenen, die ihnen erteilte Baugenehmigung ausnutzen zu dürfen, gebührt. Bei summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass die Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit einer Anfechtungsklage voraussichtlich Erfolg haben werden, weil ihnen ein nachbarliches Abwehrrecht gegen das genehmigte Vorhaben zustehen dürfte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit dürfte das Vorhaben zu Lasten der Antragsteller gegen Abstandflächenvorschriften verstoßen.
4Allerdings folgt dies nicht aus den von den Antragstellern in ihrem Schriftsatz vom 6. September 2000 unter Ziffer 2 aufgezeigten Gesichtspunkten. Die dort angestellte Berechnung, wonach das Vorhaben ihrem Grundstück gegenüber eine Abstandfläche von 6,74 m (anstatt der genehmigten 3,0 m) einhalten müsse, beruht auf falschen Annahmen. Das Vorhaben weist entgegen der Ansicht der Antragsteller auf der ihrem Grundstück zugewandten Seite keine "Giebelwand mit unterschiedlichen Traufhöhen bzw. asymmetrischen Giebeln" auf, so dass die von den Antragstellern für erforderlich gehaltene Aufteilung in "Wandabschnitte mit zugehörigen Teilgiebelflächen" (vgl. § 6 Abs. 4 Satz 3 BauO NRW) nicht geboten ist. Nach den zur Nachtragsbaugenehmigung vom 28. Juli 2000 gehörigen genehmigten Bauzeichnungen (vgl. Giebelansicht Nordostseite), die der Abstandflächenberechnung zugrunde zu legen sind, wird der Schnittpunkt der Giebelwand mit der Dachhaut an beiden seitlichen Gebäudekanten auf "144,575 NN" bestimmt. Aus der der obigen Nachtragsbaugenehmigung zugrunde liegenden Grundrisszeichnung für das Dachgeschoss ergibt sich nichts anderes. Hiernach ist die dem Antragstellergrundstück zugewandte Giebelwand - ebenso wie die gegenüber liegende Giebelwand - in einer Länge von 14,99 m zu errichten, wobei die letzten 2 m jeweils verglast und mit Glasschiebedächern versehen werden sollen.
5Die in der Nachtragsbaugenehmigung vom 28. Juli 2000 vorgenommene Abstandflächenberechnung dürfte aber aus anderen Gründen fehlerhaft sein.
6Dies gilt zunächst für die Anwendung des Schmalseitenprivilegs (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW). Allerdings erscheint der Ausgangspunkt der Berechnung bei summarischer Prüfung beanstandungsfrei. Der Antragsgegner hat, der Regelung des § 6 Abs. 4 Sätze 2 und 4 BauO NRW folgend, die mittlere Geländehöhe (137,50 + 138,40 üNN = 275,9; 275,9 : 2 = 137,95 üNN) und die Wandhöhe (144,575 NN - 137,95 NN = 6,625 m) zutreffend ermittelt. Er hat sodann gemäß § 6 Abs. 4 Satz 5 Nr. 2 BauO NRW die Höhe der abstandflächenrelevanten Giebelfläche berechnet. Diese ergibt sich aus der Differenz zwischen der Höhe der Schnittlinie des Giebels mit der Dachhaut des abgewalmten giebelseitigen Daches und der Höhe der Schnittlinie der Giebelwand mit der Dachhaut der traufständigen Dächer (147,225 NN -144,575 NN = 2,65 m). Da das abgewalmte giebelseitige Dach keine Neigung von mehr als 45 Grad aufweist, bleibt seine Höhe bei der Abstandflächenberechnung unberücksichtigt.
7Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 1994 - 10 B 1414/93 -, BRS 56 Nr. 97.
8Die Höhe der Giebelfläche geht, da die traufseitigen Dächer keine Dachneigung von mehr als 70 Grad haben, gemäß § 6 Abs. 4 Satz 5 Nr. 2 BauO NRW lediglich mit 1/3 (2,65 m : 3 = 0,88 m) in die Abstandflächenberechnung ein. Daraus errechnet sich eine Gesamthöhe der Wand,die im Sinne des § 6 Abs. 4 Satz 6 BauO NRW das Maß H bildet, von 7,505 m (6,625 m + 0,88 m). Die normalerweise erforderliche Tiefe der Abstandfläche, die gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BauO NRW hier 0,8 H beträgt, beläuft sich damit auf 6,004 m.
9Es spricht vieles dafür, dass dieses von dem Antragsgegner zutreffend ermittelte Maß nicht in Anwendung des Schmalseitenprivilegs (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW) auf die Hälfte, d.h. auf (gerundet) 3,0 m, reduziert werden durfte, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen haben dürften. Nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW genügt vor zwei Außenwänden eines Gebäudes auf einer Länge von nicht mehr als 16 m als Tiefe der Abstandfläche die Hälfte der nach Abs. 5 Satz 1 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m (Schmalseitenprivileg). Vorliegend dürfte die dem Grundstück der Antragsteller zugewandte Giebelwand, auf die der Antragsgegner das Schmalseitenprivileg angewandt hat, eine Länge von mehr als 16 m aufweisen. Zwar beträgt die Länge der eigentlichen Giebelwand nur 14,99 m; dieses Maß wird man indessen wegen der giebel- und traufseitig über Eck auskragenden Balkone um 1,50 m auf 16,49 m verlängern müssen. Zwar bleiben gemäß § 6 Abs. 7 BauO NRW Vorbauten wie Balkone bei der Bemessung der Tiefe der erforderlichen Abstandfläche außer Betracht, "wenn sie nicht mehr als 1,50 m vortreten" und "von gegenüberliegenden Nachbargrenzen mindestens 2,0 m entfernt bleiben". Die durch die angefochtene Baugenehmigung genehmigten Balkone sind jedoch nicht in dem vorstehenden Sinne privilegiert, weil sie die gesetzlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 7 BauO NRW nicht erfüllen. Die Tatbestandsvoraussetzung, dass Balkone nicht mehr als 1,50 m "vortreten" dürfen, wird man dahin auslegen müssen, dass der Balkon sich in dem Sinne "vor" der jeweils abstandflächenrechtlich zu betrachtenden Außenwand befinden muss, dass er sich in dem Bereich hält, der durch die auf die beiden seitlichen Wandbegrenzungen gefällten Senkrechten gebildet wird. Diese Betrachtungsweise rechtfertigt sich daraus, dass die 2 m-Regelung des § 6 Abs. 7 BauO NRW - ebenso wie das Schmalseitenprivileg - eine den Bauherrn begünstigende, sich zu Lasten des Grundstücksnachbarn auswirkende Ausnahmeregelung darstellt und damit eine eng am Gesetzeswortlaut orientierte Auslegung der Vorschrift geboten ist. Da im vorliegenden Fall die giebel- und traufseitigen Balkone über Eck aneinander gebaut sind, ergeben sich in allen Geschossen Flächen, die in dem vorstehenden Sinne weder vor die Giebel- noch vor die Traufwand treten. Die durch die Verlängerung der Balkone über Eck entstehenden Flächen befinden sich vielmehr seitlich neben sowohl der Giebel- als auch der Traufwand. Infolgedessen bedurfte es keiner Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung, ob Balkone, die die gesetzlichen Privilegierungsanforderungen erfüllen, nicht nur keine eigenen Abstandflächen auslösen, sondern auch im Übrigen abstandflächenrechtlich irrelevant sind.
10Vgl. hinsichtlich der Anwendung des Schmalseitenprivilegs OVG NRW, Beschlüsse vom 6. Dezember 1985 - 7 B 2402/85 -, BRS 44 Nr. 101 (dort fälschlich als Beschluss vom 29. November bezeichnet), 27. Oktober 1989 - 7 B 2451/89 - und 15. Februar 1991 - 11 B 3579/90 -; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 3. April 1992 - 8 S 286/92 - , BRS 54 Nr. 198.
11Die angefochtene Baugenehmigung verletzt die Antragsteller im Übrigen auch dann in ihren nachbarlichen Rechten, wenn man die Balkone bei der Bestimmung der Länge der Außenwand außer Betracht lässt. Denn die mit dem angefochtenen Bauschein genehmigten Balkone halten nicht die - mangels Erfüllung der Privilegierungsvoraussetzungen erforderliche - Mindesttiefe der Abstandfläche von jedenfalls 3,0 m ein (§ 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW).
12Angesichts des vorstehenden Ergebnisses kann der Senat offenlassen, ob die angefochtene Baugenehmigung auch in weiterer Hinsicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Abstandflächenrechts verstößt, insbesondere, ob der Balkon im Obergeschoss, der an einen gegliederten Wandabschnitt der Traufwand anschließt, 3,50 m vortritt, wie die Antragsteller meinen, und damit auch aus diesem Grunde keine Privilegierung für sich in Anspruch nehmen kann. Offen bleiben kann des Weiteren, ob die für Zwecke der Anlegung eines Stellplatzes genehmigte Abgrabung und Errichtung einer Stützmauer an der dem Grundstück der Antragsteller zugewandten Seite mit nachbarrechtlichen Vorschriften im Einklang steht. Diesen Fragen muss gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren nachgegangen werden.
13Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
14Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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