Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 10 A 2980/05
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagte und die Beigeladenen, letztere gesamtschuldnerisch, die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Kläger je zur Hälfte. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen die Beklagte und die Beigeladenen selbst.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 31. August 2001 zur Errichtung eines Balkonanbaus an der rückwärtigen Seite des Gebäudes der Beigeladenen. Strittig waren zwischen den Beteiligten zudem weitere Bauvorhaben und Veränderungen der Geländeoberfläche im südwestlichen und südlichen Grundstücksbereich der Beigeladenen.
3Die Kläger zu 1. und 2. sind Eigentümer des Grundstücks T. Straße 84 in S. (Gemarkung S. , Flur , Flurstück ). Diese führten bis 1975 auf ihrem Grundstück eine Metzgerei. Bis 1986 wurde auf ihrem Grundstück eine Gaststätte betrieben. Die Beigeladenen zu 1. und 2. sind Eigentümer des sich in nordöstlicher Richtung anschließenden Grundstücks L.----straße 99 in S. (Gemarkung S. , Flur , Flurstück ). Die beiden Grundstücke liegen zwischen der L1.----straße und der T. Straße, die in diesem Bereich in etwa parallel verlaufen. Die Grundstücke sind jeweils zur Straße hin mit Wohnhäusern bebaut. Im rückwärtigen Bereich befinden sich die als Ziergärten genutzten Freiflächen. An der nordwestlichen Seite der Grundstücke verläuft ein Fußweg, der die L1.----straße mit der T. Straße verbindet. Das Gelände fällt von der L1.----straße zur T. Straße stark ab. Die vorgenannten Grundstücke liegen nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes.
4Mit Bauantrag vom 17. August 1999 beantragten die Beigeladenen die baurechtliche Genehmigung zur Aufstellung von zwei Fertiggaragen im nordöstlichen Grundstücksbereich angrenzend an das benachbarte Grundstück L1.----straße 97 einschließlich Geländemodulationen. Mit Baugenehmigung vom 14. Oktober 1999 wurde den Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung erteilt, die den Klägern nicht zugestellt wurde.
5Nachdem die Kläger die Beklagte um Prüfung der Angelegenheit gebeten hatten, wurde in einem am 20. Oktober 2000 durchgeführten Ortstermin festgestellt, dass die Bauausführung betreffend die Errichtung der Fertiggaragen und der Geländemodulationen auf dem Grundstück der Beigeladenen abweichend von der Genehmigung erfolgt war. Auf die danach eingereichten Anträge der Beigeladenen vom 14. Dezember 2000 erteilte die Beklagte diesen unter dem 25. April 2001 die Genehmigungen zur Standortänderung der Pkw-Fertiggaragen sowie für die Aufschüttung und Stützmauer im südwestlichen Grundstücksbereich. Gegen die die Errichtung der Stützmauer und Anschüttung betreffende Nachtragsgenehmigung legten die Kläger mit Schreiben vom 6. Mai 2001 Widerspruch ein und trugen vor, ihnen werde durch die Umwehrung die gesamte Sicht genommen; sie wiesen zudem darauf hin, dass die Errichtung eines Balkons im rückwärtigen Grundstücksbereich der Beigeladenen geplant sei.
6Die von den Beigeladenen ebenfalls begehrte Nachtragsgenehmigung für die Erstellung einer Stützmauer zur Abstützung einer Linde in der südlichen Grundstücksecke wurde von der Beklagten versagt.
7Am 27. Juni 2001 beantragten die Beigeladenen die Erteilung der hier streitgegenständlichen Baugenehmigung zum Anbau eines Balkons an die Rückwand ihres Wohnhauses. Mit Baugenehmigung vom 31. August 2001, die den Klägern nicht zugestellt wurde, erteilte die Beklagte die begehrte Baugenehmigung für den rückseitigen Anbau eines Balkons, der mit 4,65 m vor die hintere Außenwand des Hauses vortritt und eine Breite von 5,17 m hat. Nach den in dem zur Baugenehmigung gehörigen amtlichen Lageplan enthaltenen Eintragungen liegt die Geländeoberfläche unter den südwestlichen Eckpunkten des Balkons bei 98,77 m bzw. 98,79 m, so dass die mittlere Geländehöhe 98,78 m beträgt. Die Fußbodenhöhe des Balkons ist mit 103,17 m angegeben. Der Abstand zur Grundstücksgrenze an der südwestlichsten Ecke beträgt nach den Eintragungen in dem Lageplan 4,25 m. In der ebenfalls zur Baugenehmigung gehörenden Bauzeichnung ist die Oberkante des Fußbodens des Balkons bei 4,92 m eingetragen. Ausweislich der Baubeschreibung soll die Brüstung des Balkons aus einer verzinkten Stahlkonstruktion und einem Glasgeländer erstellt werden; die Brüstung weist nach den Eintragungen in der Bauzeichnung eine Höhe von 90 cm auf.
8Bei einem Gespräch zwischen Mitarbeitern der Beklagten, den Klägern und dem Beigeladenen zu 2. am 31. Juli 2002 wurde den Klägern mitgeteilt, dass den Beigeladenen mit Bescheid vom 31. August 2001 die Baugenehmigung für den rückseitigen Anbau eines Balkons erteilt worden sei. Daraufhin erhoben die Kläger mit Schreiben vom 13. August 2002 gegen die Baugenehmigung Widerspruch.
9Mit Schreiben vom 28. November 2002 nahmen die Kläger ihren Widerspruch gegen die Nachtragsgenehmigung vom 25. April 2001 betreffend die Stützmauer zurück. Den Widerspruch gegen die Errichtung des Balkons erhielten sie hingegen aufrecht.
10Die Bezirksregierung E. wies diesen mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 2003 mit der Begründung zurück, das streitbefangene Bauvorhaben füge sich im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB in die nähere Umgebung ein. Das bauplanerische Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Weiter habe die Abstandflächenberechnung ergeben, dass diese auf dem Grundstück der Beigeladenen liege.
11Die Kläger haben am 10. September 2003 Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, durch die Anbringung der Stützmauer und durch das Aufschütten des hinter der Mauer liegenden Bereichs hätten die Beigeladenen die Geländeoberfläche ihres Grundstücks nachträglich vollständig verändert. Auf dieser neu geschaffenen Geländeoberfläche sei von den Beigeladenen ein Balkon mit einer Grundfläche von ca. 30 m2 erstellt worden. Unter Berücksichtigung der ursprünglichen Geländeoberfläche rage dieser Balkon ca. zehn Meter aus der Erde. Es liege ein Verstoß gegen § 6 BauO NRW vor. Bei der Bemessung der Abstandfläche sei die ursprüngliche Geländeoberfläche maßgebend, so dass nach § 6 BauO NRW eine Abstandfläche von acht Metern einzuhalten sei. Darüber hinaus füge sich der Balkon nicht im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB in die nähere Umgebung ein; in der gesamten Umgebung fänden sich keine Balkone dieses Ausmaßes, von dem Balkon gehe eine erschlagende und erdrückende Wirkung aus.
12Die Kläger haben darüber hinaus vor dem Amtsgericht S. am 26. September 2003 Klage gegen die Beigeladenen mit dem Antrag erhoben, die Beigeladenen zu verurteilen, die an die Grenze zur ihrem Grundstück erbaute Mauer (Stützmauer an der Linde) zu entfernen bzw. hilfsweise auf zwei Meter zurückzubauen. Dieses Verfahren (8 C 412/03) wurde durch Vergleich vom 9. Februar 2004 beendet.
13Die Kläger haben beantragt,
14die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 31. August 2001 zur rückwärtigen Errichtung eines Balkons in der L.----straße 99, S. und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung E. vom 15. August 2003 aufzuheben.
15Die Beklagte hat beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Sie hat zur Begründung vorgetragen, dass nach dem der Baugenehmigung zugrundeliegenden amtlichen Lageplan die Abstandflächen des Balkons auf dem Grundstück der Beigeladenen lägen.
18Die Beigeladenen haben beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Zur Begründung haben sie ausgeführt, die Kläger würden durch die angefochtene Baugenehmigung nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Die Abstandfläche werde in der gesetzlich vorgeschriebenen Tiefe eingehalten. Nach dem zum Bauschein gehörenden amtlichen Lageplan errechne sich die Tiefe der Abstandfläche auf 3,51 m, nach der ebenfalls zum Bauschein gehörenden Ansichtszeichnung Nord-West errechne sich eine Tiefe der Abstandfläche von 4,02 m. Die Umwehrung des Balkons sei bei der Ermittlung der Wandhöhe nicht zu berücksichtigen, weil das Geländer als offenes Geländer genehmigt sei. Abstandflächenrechtlich erheblich seien nur massive Brüstungshöhen. Eine Unbestimmtheit der Baugenehmigung in Bezug auf Nachbarrechte sei nicht gegeben. Die Abstandfläche sei trotz unstimmiger Geländeoberfläche eingehalten. Diese sei nicht in nachbarrechtsrelevanter Weise verändert worden. Schließlich stünden den Klägern keine Abwehrrechte zu, weil sie durch den am 9. Februar 2004 in dem Verfahren 8 C 412/03 vor dem Amtsgericht S. abgeschlossenen Vergleich, in dem im Einzelnen geregelt worden sei, welche Veränderungen auf ihrem Grundstück vorgenommen werden müssten, die Verhältnisse im rückwärtigen Bereich des Grundstücks akzeptiert hätten. Der Vergleich beinhalte einen Verzicht der Kläger auf mögliche Abwehrrechte gegen den Balkon.
21Nach Ortsbesichtigung durch die Berichterstatterin hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Urteil der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Baugenehmigung verstoße gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zugleich den Interessen der Kläger als Nachbarn zu dienen bestimmt seien. Die Baugenehmigung sei hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt. Es könne nicht sicher festgestellt werden, mit welcher Höhe die Errichtung der Balkonanlage genehmigt worden sei und damit, ob die Abstandfläche eingehalten werde. Aus dem amtlichen Lageplan einerseits und der Bauzeichnung andererseits ergäben sich jeweils unterschiedliche Wandhöhen. Die Baugenehmigung verstoße gegen § 6 BauO NRW, da die ausgelöste Abstandfläche nicht auf dem Grundstück der Beigeladenen nachgewiesen werden könne. Bei der Berechnung der Abstandfläche, die der Balkon auslöse, sei die Höhe der Balkonbrüstung von 0,90 m einzubeziehen. Die Beigeladenen hätten nicht substantiiert vorgetragen, dass sie sich auf das in § 6 Abs. 6 BauO NRW geregelte Schmalseitenprivileg berufen könnten. Darüber hinaus sei bei der Bemessung der Wandhöhe auch die Stützmauer und die dazu gehörige Anschüttung in Höhe von ca. 1,50 m mit einzubeziehen, da es sich bei der Errichtung des Balkons und der zuvor vorgenommenen Anschüttung und Erstellung der Stützmauer um eine Baumaßnahme handele und abstandflächenrechtlich einheitlich behandelt werden müssten. Schließlich verstoße die Baugenehmigung auch gegen das sich aus § 34 BauGB ergebende Gebot der Rücksichtnahme. Der Balkon erweise sich als rücksichtslos. Ein Verzicht der Kläger auf ihr Abwehrrecht könne in dem am 9. Februar 2004 vor dem Amtsgericht S. in dem Verfahren 8 C 412/03 geschlossenen Vergleich nicht gesehen werden.
22Gegen das den Beigeladenen am 8. Juli 2005 zugestellte Urteil haben die Beigeladenen am 8. August 2005 die Zulassung der Berufung beantragt. Der Senat hat mit Beschluss vom 5. Juli 2006 die Berufung zugelassen. Dieser Beschluss ist den Beigeladenen am 7. Juli 2006 zugestellt worden. Mit am 24. Juli 2006 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz haben die Beigeladenen einen Berufungsantrag gestellt und ausgeführt: Die Kläger würden nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten durch die angefochtene Baugenehmigung verletzt. Zunächst liege kein Verstoß gegen die dem Schutz der Kläger dienenden Vorschriften des Abstandflächenrechts vor. Die Umwehrung des Balkons sei nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen nicht auf die Wandhöhe anzurechnen. Entsprechend § 6 Abs. 10 Satz 1 BauO NRW sei zu fragen, ob von den Bauteilen des mehr als 1,50 m vor die Außenwand eines Gebäudes vorspringenden Balkons Wirkungen wie von Außenwänden eines Gebäudes ausgingen; dies sei bei einer verglasten Brüstung nicht der Fall. Weiter könne eine Unbestimmtheit der angefochtenen Baugenehmigung in nachbarrechtsrelevanter Weise nicht festgestellt werden. Die gesetzlich vorgeschriebene Abstandfläche sei in jedem Fall in voller Tiefe auf dem Grundstück der Beigeladenen eingehalten, wenn die Höhe der Balkonbrüstung nicht auf die Wandhöhe angerechnet werde. Bei der Bemessung der Wandhöhe sei zudem nicht die Höhe einer Anschüttung bzw. Stützmauer von 1,50 m zu berücksichtigen. Die Errichtung des Balkons und die der Stützmauer stellten zwei von einander unabhängige Baumaßnahmen dar. Zudem seien die diesbezüglichen Abwehrrechte der Kläger erloschen, da sie ihren Widerspruch gegen die die Anschüttung und Stützmauer betreffende Baugenehmigung zurückgenommen hätten. Eine Veränderung der Geländeoberfläche sei darüber hinaus weder zugelassen noch sonst tatsächlich ausgeführt worden. Schließlich reduziere sich die Abstandfläche in Anwendung des Schmalseitenprivilegs auf insgesamt drei Meter. Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme liege ebenfalls nicht vor. Als Vorbelastung sei zu berücksichtigen, dass in einer wie hier gegebenen Hanglage die unterhalb gelegenen Wohngrundstücke in erheblichem Umfang Einblicken ausgesetzt seien. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern über das Ortsübliche hinaus zusätzliche Einblickmöglichkeiten eröffnet würden.
23Die Beigeladenen beantragen,
24das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
25Die Kläger beantragen,
26die Berufung zurückzuweisen.
27Sie weisen zur Begründung darauf hin, die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstoße gegen § 6 BauO NRW, da von der ursprünglichen Geländeoberfläche auszugehen sei. Die Errichtung des Balkons könne nicht losgelöst von der Geländemodulation und der Errichtung der Stützmauer betrachtet werden. Diese Maßnahmen seien vielmehr als eine einheitliche Maßnahme zu qualifizieren, die eine Abstandfläche auslöse. Diese könne nicht mehr auf dem Grundstück der Beigeladenen nachgewiesen werden. Die Aufschüttung der Geländeoberfläche, die Erstellung der Stützmauer und die anschließende Errichtung des Balkons seien von Anfang an von den Beigeladenen als eine Maßnahme geplant gewesen. Darüber hinaus sei die Höhe der Balkonbrüstung in die Abstandflächenberechnung einzubeziehen. Die Balkonbrüstung könne nicht wegen ihres Materials außer Betracht bleiben. Weiter hätten sie aufgrund des vor dem Amtsgericht S. geschlossenen Vergleichs nicht auf ihre Rechte verzichtet - der Vergleich habe sich nicht auf den Bereich des Grundstücks der Beigeladenen bezogen, auf dem der Balkon errichtet worden sei. Schließlich verstoße das Bauvorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Aufgrund der Aufschüttungen sei der Höhenunterschied mehr als verdoppelt worden. Schon der Höhenunterschied zwischen Balkonoberfläche und ihrem Rasengrundstück führe zu einer erschlagenden Wirkung, sie sähen sich einer Hochsitzsituation ausgesetzt und fühlten sich wie auf dem Präsentierteller.
28Die Beklagte stellt keinen Antrag.
29Die Berichterstatterin des Senats hat am 9. August 2006 eine Ortsbesichtigung durchgeführt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll (Blatt 183 bis 197 der Gerichtsakte) verwiesen.
30Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der überreichten Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakte des Amtsgerichts S. - 8 C 412/03 - Bezug genommen.
31E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
32Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO) ist zulässig und begründet.
33Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31. August 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E. vom 15. August 2003 verstößt gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts und verletzt die Kläger damit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
34Die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung folgt daraus, dass die zum Bauschein gehörigen Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt sind (1). Der genehmigte rückseitige Anbau des Balkons verstößt allerdings nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts (2).
3536
1.
37Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist rechtswidrig, da die mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen und damit zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt sind und diese Unbestimmtheit auch nicht durch den Inhalt des Bauscheins selbst bzw. des Widerspruchsbescheides behoben worden ist.
38Die aus der Verletzung des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW folgende Fehlerhaftigkeit führt auch zu einem Abwehrrecht der Kläger, weil sich die Unbestimmtheit auf das Abstandflächenrecht und damit gerade auf solche Merkmale des Vorhabens bezieht, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung solcher Rechtsvorschriften auszuschließen, die auch dem Schutz der Kläger als Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
39Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 1994 - 10 A 1025/90 -, BRS 56 Nr. 139 sowie Beschlüsse vom 29. September 1995 - 11 B 1258/95 -, BRS 57 Nr. 162 und vom 2. Oktober 1998 - 11 B 845/98 -, BRS 60 Nr. 207.
40Die zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen Bauvorlagen sind zum Nachteil der Kläger insoweit unbestimmt, als sie die Maße der Balkonanlage betreffen und nicht sicher festgestellt werden kann, ob die nach § 6 BauO NRW erforderliche Abstandfläche eingehalten ist.
41Nach § 6 Abs. 1 BauO NRW sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandflächen), die nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW auf dem Grundstück selbst liegen müssen.
42Der hier streitgegenständliche Balkon löst eine Abstandfläche aus. Der Balkon ist nicht nach § 6 Abs. 7 BauO NRW privilegiert. Denn nach dieser Bestimmung bleiben vor die Außenwand vortretende Bauteile und Vorbauten wie Erker und Balkone bei der Bemessung nur dann außer Betracht, wenn sie nicht mehr als 1,50 m vortreten. Der Balkon weist nach dem zum Bestandteil des Bauscheins gewordenen amtlichen Lageplan vom 28. Juni 2001 jedoch eine Tiefe von 4,65 m auf. Die allgemeinen Abstandflächenvorschriften finden Anwendung. Das bedeutet, dass der nicht grenzständig errichtete Balkon zu allen Seiten hin die gesetzlich vorgegebenen Abstandflächen einhalten muss.
43Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 31. Oktober 2001 - 10 B 1273/01 -.
44Gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BauO NRW bemisst sich die Tiefe der Abstandfläche nach der Wandhöhe.
45Der Bauantrag und die beigefügten - vom Beklagten mit Zugehörigkeitsvermerk zum Bauschein versehenen - Bauvorlagen, insbesondere die eingereichten Bauzeichnungen enthalten widersprüchliche Angaben zu der Wandhöhe der baulichen Anlage. Das Maß H je Außenwand muss jedoch in dem zur Bestimmung der Abstandfläche erforderlichen Umfang ersichtlich sein.
46Bei der Bemessung der für die Ermittlung der erforderlichen Abstandfläche erheblichen Wandhöhe ist als unterer Bezugspunkt die mit Baugenehmigung vom 25. April 2001 (Geländemodulierung im Gartenbereich) festgelegte Geländeoberfläche anzusetzen. Oberer Bezugspunkt für die Bestimmung der Wandhöhe ist die Umwehrung des Balkons. Das Schmalseitenprivileg gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW findet keine Anwendung. Eine eindeutige Berechnung der danach einzuhaltenden Abstandfläche ist wegen widersprüchlicher Angaben in den Bauvorlagen nicht möglich.
47Unterer Bezugspunkt der Wandhöhe ist die Geländeoberfläche, die durch Baugenehmigung vom 25. April 2001 - bestandskräftig - festgelegt worden ist. Als Wandhöhe gilt das Maß von der Geländeoberfläche bis zum oberen Abschluss der Wand, § 6 Abs. 4 Satz 2 BauO NRW. Nach § 2 Abs. 4 BauO NRW ist die Geländeoberfläche die Fläche, die sich aus der Baugenehmigung oder den Festsetzungen des Bebauungsplanes ergibt, im Übrigen die natürliche Geländeoberfläche.
48Mit der hier strittigen Baugenehmigung ist keine neue Geländeoberfläche festgesetzt worden. Aus dem zu den genehmigten Bauvorlagen gehörenden amtlichen Lageplan und der Ansichtszeichnung Nord-West bzw. Nord-Ost lässt sich entnehmen, dass sie mit der in der Baugenehmigung vom 25. April 2001 festgelegten übereinstimmt. Infolge dessen ist auf diese als unteren Bezugspunkt für die Ermittlung der Wandhöhe abzustellen.
49Zwar hatten die Kläger gegen die Genehmigung vom 25. April 2001 mit Schreiben vom 6. Mai 2001 Widerspruch eingelegt. Mit Schreiben vom 28. November 2002 haben die Kläger diesen jedoch zurückgenommen und ausdrücklich nur noch den Widerspruch gegen die Errichtung des Balkons aufrechterhalten. Mit dieser Rücknahme ist die in der Genehmigung vom 25. April 2001 festgelegte und auch dem streitgegenständlichen Vorhaben zugrunde gelegte Geländeoberfläche bestandskräftig geworden.
50Bei der Bemessung der Wandhöhe ist nach § 6 Abs. 4 BauO NRW die Umwehrung des Balkons der Beigeladenen oberer Bezugspunkt. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der genannten Vorschrift und der Verkehrsauffassung. Oberer Abschluss der Wand ist bei Balkonen die durch § 41 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 BauO NRW zwingend vorgeschriebene Umwehrung.
51Vgl. Gädtke/Temme/Heintz, Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 10. Auflage, § 6 Rdnr. 201, 261; aber: Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Loseblatt, Stand: Mai 2006, § 6 Rdnr. 235: "ggf. Oberkante Balkonbrüstung".
52Entgegen der Auffassung der Beigeladenen scheidet eine Differenzierung nach dem jeweiligen Material der Balkonumwehrung aus. Ohne Belang ist auch, ob diese offen oder transparent gestaltet ist.
53Bereits nach dem Sinn und Zweck des Abstandflächenrechts scheidet eine derartige Differenzierung aus. Die Abstandflächenvorschriften sollen die im nachbarlichen Zusammenleben typischen Interessenkonflikte ausgleichen. Insbesondere soll neben der Gewährleistung einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung der Wohnfrieden geschützt und ein ausreichender Sozialabstand gesichert werden.
54Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Dezember 1991 - 11 A 2359/89 -, BRS 54 Nr. 140.
55Hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Aufgaben des Abstandflächenrechts ist das Material und damit die Transparenz der Balkonumwehrung irrelevant. Im Gegenteil kann sogar bei einer durchsichtigen Umwehrung der zu schützende Wohnfrieden eher in Frage gestellt sein.
56Auch bei der Außenwand eines Gebäudes im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW ist eine Transparenz oder Geschlossenheit der Wand abstandflächenrechtlich ohne Belang.
57Vgl. Gädtke/Temme/Heintz, Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 10. Auflage, § 6 Rdnr. 76.
58Die Ausführungen der Beigeladenen zu § 6 Abs. 10 BauO NRW liegen daher neben der Sache.
59Der Senat hält insofern an der in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vertretenen Auffassung, ein offenes Abschlussgeländer sei kein Bauteil, das bei der Bestimmung der Wandhöhe zu berücksichtigen sei, nicht fest.
60Vgl. Beschluss vom 30. September 1996 - 10 B 2178/96 -.
61Die Beigeladenen können auch nicht für ihr Vorhaben das Schmalseitenprivileg in Anspruch nehmen. Gemäß § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW genügt vor zwei Außenwänden eines Gebäudes auf einer Länge von nicht mehr als 16 m als Tiefe der Abstandfläche die Hälfte der nach Abs. 5 Satz 1 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch drei Meter (Schmalseitenprivileg). Gegenüber einem Gebäude oder einer Grundstücksgrenze kann das Schmalseitenprivileg gemäß § 6 Absatz 6 Satz 4 BauO NRW für ein Gebäude aber nur einmal in Anspruch genommen werden.
62Da die Beigeladenen das Schmalseitenprivileg bereits für die vorhandene, zum Grundstück der Kläger gelegene Gebäudewand benötigen, würden sie es für den Balkon als eigenes, eine Abstandfläche auslösendes Bauteil gegenüber der Grundstücksgrenze der Kläger entgegen § 6 Abs. 6 Satz 4 BauO NRW ein zweites Mal in Anspruch nehmen.
63Für die rückwärtige, zum Grundstück der Kläger ausgerichtete Wand des bestehenden Gebäudes der Beigeladenen wird nämlich mit der Errichtung des Balkons die Genehmigungsfrage im Hinblick auf die einzuhaltende Abstandfläche - nach Maßgabe des derzeit geltenden Abstandflächenrechts - neu aufgeworfen, da sie durch die Schaffung der Austrittsmöglichkeit auf den Balkon baulich verändert wird. Das Vorhaben der Beigeladenen besteht nicht allein darin, vor die rückwärtige Gebäudewand einen Balkon zu setzen. Vielmehr umfasst das genehmigte Vorhaben auch die Herstellung einer zweiflügeligen Tür in der Gebäudewand, von der aus der Balkon betreten werden soll. Die entsprechenden Bauvorlagen sind insofern unvollständig, vgl. § 4 Abs. 4 BauPrüfVO in Verbindung mit der dazugehörigen Anlage.
64Die Herstellung derartiger Öffnungen in eine vorhandene Gebäudewand ist nicht mehr vom Bestandsschutz gedeckt. Es handelt sich nicht lediglich um eine unwesentliche Veränderung, vielmehr ist das Gebäude an seiner rückwärtigen Seite nicht mehr in seiner ursprünglichen Dimension und Gestalt erhalten geblieben. Auch hat diese Tür auf die von den Abstandflächenvorschriften geschützten nachbarlichen Belange nachteiligere Auswirkungen als das bisher vorhandene Gebäude ohne derartige Öffnungen. Darüber hinaus bewirkt die Balkonanlage für die vorhandene Gebäudewand, an die sie ansetzt, jedenfalls auch eine Funktionsänderung, die gleichfalls die Frage der Abstandwahrung dieser Wand neu aufwirft.
65Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 20. Juni 2000 - 10 B 853/00 -, a.a.O..
66Ohne das vorhandene Gebäude und dessen Außenwand ist die Anlage eines Balkons nicht denkbar. Dieser Balkon bewirkt, dass sich die von dem Gebäude insgesamt ausgehenden Wirkungen, gerade in Bezug auf den abstandflächenrechtlich geregelten Schutz des Nachbargrundstücks vor fremder Einsichtnahme, nachteilig verändern.
67Ausweislich der mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Ansichtszeichnung Nord-Ost kann die rückwärtige Gebäudewand die Abstandfläche zur Grundstücksgrenze der Kläger bereits ohne Berücksichtigung des Daches und Giebels ebenfalls nur unter Anwendung des Schmalseitenprivilegs einhalten (abgegriffenes Maß): Grenzabstand: 8,20 m; Abstandfläche: 12,55 m x 0,8 = 10,04 m.
68Danach ist nicht sicher festzustellen, ob die erforderliche Abstandfläche eingehalten wird. Die Abstandfläche beträgt unter Einbeziehung der Umwehrung des Balkons nach den Maßen des amtlichen Lageplans 4,23 m (4,39 m + 0,90 m x 0,8) und nach den Ansichtszeichnungen Nord-West bzw. Nord-Ost 4,65 m (4,92 m +0,90 m x 0,8). Die letztgenannte Abstandfläche liegt mit ca. 0,40 m bereits auf dem Grundstück der Kläger und damit nicht mehr vollständig auf dem der Beigeladenen.
69Eine Verwirkung des Abwehrrechts der Kläger ist schließlich nicht anzunehmen. Diese haben sich mit der Weiterverfolgung der Klage gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31. August 2001 nicht zu ihrem eigenem Verhalten in Widerspruch gesetzt. Insbesondere ist ein treuwidriges Verhalten der Kläger nicht im Hinblick auf den vor dem Amtsgericht S. am 9. Februar 2004 abgeschlossenen Vergleich zu erkennen. Ausweislich des Klageantrages unter Berücksichtigung der Klagebegründung war der rückseitige Balkonanbau nicht Streitgegenstand des zivilgerichtlichen Verfahrens. Auch der Wortlaut des Vergleichs gibt keinen Anlass, anzunehmen, dass die Kläger die Auseinandersetzung hinsichtlich des Balkonanbaus unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten beenden wollten.
702.
71Zur Vermeidung künftiger Streitigkeiten weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der hier streitige Balkon entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts nicht gegen das sich aus § 34 BauGB ergebende planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
72Das Gebot der Rücksichtnahme soll die bei Verwirklichung von Bauvorhaben aufeinanderstoßenden Interessen angemessen ausgleichen; ob ein Vorhaben das Gebot der Rücksichtnahme verletzt, hängt im Wesentlichen von den jeweiligen konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden; umgekehrt braucht derjenige, der ein Vorhaben verwirklichen will, umso weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind. Für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles kommt es demnach wesentlich auf eine Abwägung an zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmeberechtigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dementsprechend ist das Rücksichtnahmegebot verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit der Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird.
73Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BRS 32 Nr. 155.
74Dabei ist auf die konkrete Situation vor Ort abzustellen. Von Bedeutung sein können beispielsweise die topografischen und meteorologischen Verhältnisse, die Lage der Grundstücke zueinander, die Größe der betroffenen Grundstücke, die konkrete Nutzung der Grundstücke und ggfs. einzelner Grundstücksbereiche, die Schutzbedürftigkeit und - würdigkeit bestehender Nutzungen, die Interessen des Bauherrn sowie die Höhe und Länge vorhandener und geplanter Baukörper. Letztlich bedarf es einer Gesamtbewertung sämtlicher einschlägiger Kriterien, um die Frage der Rücksichtslosigkeit zuverlässig beantworten zu können.
75Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. Oktober 2001 - 10 B 891/01 - und Urteil vom 18. Dezember 2003 - 10 A 2512/00 -.
76Ferner ist zu beachten, dass das Rücksichtnahmegebot keine allgemeine Härteklausel darstellt, sondern Bestandteil einzelner gesetzlicher Vorschriften des Baurechts ist. In einem - wie hier - vorliegenden unbeplanten Innenbereich geht das Rücksichtnahmegebot im Begriff des Einfügens gemäß § 34 Abs. 1 BauGB auf. Das bedeutet, dass das Rücksichtnahmegebot nur in Bezug auf ein in dieser Vorschrift genanntes Merkmal verletzt sein kann, mithin nur dann, wenn sich ein Vorhaben objektiv-rechtlich nach seiner Art oder seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche nicht in die Eigenart seiner näheren Umgebung einfügt.
77Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, BRS 62 Nr. 102.
78Ausgehend von diesen Grundsätzen und Maßstäben und unter Berücksichtigung der von der Berichterstatterin festgestellten und dem Senat vermittelten örtlichen Verhältnisse ist die Errichtung des rückseitigen Balkonanbaus auf dem Grundstück der Beigeladenen nicht rücksichtslos gegenüber den Klägern. Insbesondere fügt sich der streitbefangene Balkon nach seinem Maß der baulichen Nutzung und seiner überbauten Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
79Zwar ist festzustellen, dass das streitige Vorhaben schon allein wegen seiner Ausmaße, insbesondere hinsichtlich seiner Höhe und Tiefe, negative Auswirkungen auf die Wohnqualität der Kläger hat. Der Balkonanbau der Beigeladenen grenzt an den rückwärtigen Grundstücksbereich der Kläger, der als Ruhe- und Erholungsfläche (Terrassen, Rasen, Ziergarten) genutzt wird. Die von den Klägern gerügten Wirkungen des Balkons in Bezug auf dadurch ermöglichte erweiterte Einsichtmöglichkeiten in ihr Grundstück, namentlich in ihren Gartenbereich erreichen jedoch nicht die Qualität unzumutbarer Beeinträchtigungen.
80Zunächst ist festzuhalten, dass in bebauten Bereichen im Allgemeinen Einsichtmöglichkeiten hingenommen werden müssen. Weiter gilt es zu berücksichtigen, dass das Grundstück der Kläger, insbesondere der Garten als Ruhe- und Erholungsbereich bereits durch die bisher vorhandene Bebauung und durch die Topographie vorbelastet ist. Faktische Vorbelastungen können dazu führen, dass die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme sich vermindert und Beeinträchtigungen in weitergehendem Maße zumutbar sind, als sie sonst hinzunehmen wären.
81Vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Februar 1986 - 4 C 49.82 -, BRS 46 Nr. 50 und vom 18. Mai 1995 - 4 C 20.94 -, BRS 57 Nr. 67.
82Im vorliegenden Fall kann nicht außer acht gelassen werden, dass die nächste Umgebung des Grundstücks der Kläger durch eine dichte Bebauungsstruktur gekennzeichnet ist. An der L1.----straße schließen sich an das Wohnhaus der Beigeladenen nach dem nordwestlich gelegenen schmalen Fußweg unmittelbar die Gebäude L1.----straße 101 und 103 und an der nordöstlichen Seite das Gebäude L1.----straße 97 an mit jeweils zahlreichen Fensteröffnungen in Richtung T. Straße, d.h. in Richtung des Gartenbereichs der Kläger. Auch an das Wohnhaus der Kläger schließt sich unmittelbar das Gebäude T. Straße 82 an, das ebenfalls Fensteröffnungen zum Garten- und Terrassenbereich der Kläger aufweist, die teilweise durch eine Hecke auf dem klägerischen Grundstück verdeckt sind. Weiter fällt das Gelände von der L1.----straße zur T. Straße stark ab.
83Danach waren die Kläger, auch wenn der rückseitige Anbau des Balkons auf dem Grundstück der Beigeladenen ohne Vorbild in der nächsten Umgebung ist, schon vor Verwirklichung des streitgegenständlichen Vorhabens Einsichtmöglichkeiten in ihrem Gartenbereich von den Fenstern des Wohnhauses der Beigeladenen und den sich anschließenden Gebäuden sowie von den Fenstern des benachbarten Gebäudes T. Straße 82 ausgesetzt. Dies wird besonders deutlich an dem von der Berichterstatterin im Ortstermin fotografisch festgehaltenen Blick aus dem rechts neben dem streitbefangenen Balkon der Beigeladenen gelegenen Fenster. Die sich aus diesem Fenster ergebende Sicht eröffnet gegenüber derjenigen von dem streitbefangenen Balkon aus nahezu identische Einsichtmöglichkeiten in den Gartenbereich der Kläger.
84Durch den Balkon der Beigeladenen entsteht auch keine neue Qualität von Einsichtmöglichkeiten. Zwar rückt die sich im neu geschaffenen Außenwohnbereich der Beigeladenen aufhaltende Person näher an den benachbarten Gartenbereich der Kläger heran; auch dient ein Balkon im Gegensatz zu Fenstern, die regelmäßig nur für (gelegentliche) Ausblicke nach Außen genutzt werden, gerade dem gegebenenfalls auch länger andauernden Aufenthalt mit der Folge, dass die Beigeladenen auf dem Grundstück der Kläger in stärkerem Maße als zuvor wahrnehmbar sind. Nach wie vor ist von diesem Balkon, der von den Beigeladenen ebenfalls als Ruhezone genutzt wird, jedoch nur eine (gegenseitige) Einblicknahme in Richtung Gartenbereich der Kläger möglich. Andere, das Grundstück der Kläger betreffende Einblicknahmen werden durch den Balkon nicht eröffnet.
85Letztlich sind die durch das streitbefangene Vorhaben erwachsenden Nachteile vor allem darauf zurückzuführen, dass die vorgegebene Hanglage die Auswirkungen des genehmigten Balkons hinsichtlich der Massivität seiner Erscheinung und der Gewährung von Einsichtmöglichkeiten verstärkt. Dies ist indessen als lagebedingter Nachteil des Grundstücks zu bewerten und als situationsbedingt hinzunehmen. Aus diesen Gründen übt der Balkon auch nicht die von den Klägern angeführte erdrückende Wirkung aus. Der Balkon hat keine übermächtige Wirkung in der Weise, dass das Grundstück der Kläger nur noch oder überwiegend als eine von dem Balkon dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird.
86Nimmt man diese konkreten örtlichen Gegebenheiten in den Blick und die Tatsache, dass das Wohnhaus der Beigeladenen am rückwärtigen, der Straße abgewandten Bereich weder über eine Terrasse noch über einen weiteren Balkon verfügt, ist die Schwelle zur baurechtlichen Rücksichtslosigkeit, jenseits derer die Wirkungen des Balkons den Klägern unter Berücksichtigung ihrer schutzwürdigen Rechtsposition nicht mehr zugemutet werden können, nicht überschritten.
87Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 2 und 3, § 159 Satz 1 und 2 VwGO.
88Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 und 713 ZPO.
89Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.
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