Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 12 A 1596/10
Tenor
Das angefochtene Urteil wird teilweise geändert.
Die Klage wird auch hinsichtlich des Begehrens der Kläger zu 2. und 3. um Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie im vollem Umfang abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden. Die Kosten des gerichtskostenfreien Beru-fungsverfahrens tragen nur die Kläger zu 2. und 3.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
G r ü n d e :
2I.
3Die Kläger haben von der Beklagten unter verschiedenen Gesichtspunkten die Kostenübernahme für eine Dyskalkulie-Therapie für die Klägerin zu 1. begehrt.
4Wegen des Sach- und Rechtsstandes im Einzelnen und hinsichtlich der Auseinandersetzung im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
5Mit diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage insoweit abgewiesen, als die Klägerin zu 1. einen Anspruch aus § 35a SGB VIII geltend gemacht hat. Hinsichtlich eines Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulie-Therapie hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, die Kläger zu 2. und 3. unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes erneut zu bescheiden.
6Die Beklagte begründet ihre – mit Beschluss des Senates vom 5. Mai 2011 zugelassene – Berufung gegen diesen Bescheidungsausspruch im Wesentlichen damit, dass ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII von vornherein keine Grundlage für die Finanzierung einer Dyskalkulie-Therapie abgeben könne, weil insoweit kein Erziehungsdefizit beim Kind vorliege, das durch Erziehungsleistungen der Eltern behoben werden könne. Die Mängellage lasse sich nicht aus dem elterlichen Erziehungsverhalten herleiten, sondern betreffe den Bereich der schulischen Bildung. Auch aus der Abkopplung der Eingliederungshilfe von der Hilfe zur Erziehung durch das 1. Gesetz zur Änderung des SGB VIII vom 16. Februar 1993, durch die nach den Gesetzesmotiven insbesondere der vielfach vertretenen Ansicht entsprochen werden sollte, einer seelischen Behinderung liege nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde, folge, dass der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung einen objektiven Ausfall der Erziehungsleistungen der Eltern voraussetze und eine generell bestehende Defizitsituation in Ausbildung und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen insoweit grundsätzlich noch nicht ausreiche.
7Die Beklagte beantragt,
8unter teilweise Abänderung des angefochtenen Urteils die Kläger in vollem Umfang mit ihrer Klage abzuweisen.
9Die Kläger beantragen,
10die Berufung zurückzuweisen.
11Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil, soweit es von einem möglichen Anspruch der Kläger zu 2. und 3. auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII ausgeht. Das Verwaltungsgericht habe zu Recht festgestellt, dass grundsätzlich eine parallele Verantwortung der Eltern auch während der Phase der schulischen Ausbildung bestehe, wobei dem Vorrang der schulischen Problemlösung ausschließlich durch das Nachrangprinzip des § 10 Abs. 1 SGB VIII Rechnung getragen würde. Voraussetzung sei allerdings, dass das Kind die erforderliche Hilfe tatsächlich von der Schule erlangen könne, was vorliegend jedoch nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts gerade nicht der Fall sei. Verbesserungen in den mathematischen Fähigkeiten der Klägerin zu 1. seien erst zu verzeichnen gewesen, als sich die Eltern außerhalb der Schule selbst um entsprechende Fördermaßnahmen durch eine fachliche Institution bemüht hätten.
12Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (2 Bände) und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (2 Hefte) Bezug genommen.
13II.
14Über die Berufung kann gem. § 130a VwGO durch Beschluss entschieden werden, weil der Senat die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130a Satz 1 VwGO). Die Beteiligten sind hierzu nach § 130a Satz 2 VwGO i. V. m. § 126 Abs. 2 Satz 3 VwGO mit gerichtlicher Verfügung vom 15. Juli 2011 angehört worden.
15Die zulässige Berufung ist begründet. Die Kläger zu 2. und 3. haben weder Anspruch auf die begehrten Leistungen der Hilfe zur Erziehung noch auf eine Neubescheidung ihres Antrags. Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger zu 2. und 3. nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO.
16Die Beklagte musste schon im Ansatz nicht auch über einen möglichen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Dyskalkulie-Therapie aus § 27 SGB VIII – Anspruch der Eltern auf Hilfe zur Erziehung – entscheiden und auch im weiteren Verfahrensverlauf haben sich keine Umstände ergeben, die eine Bescheidung des Begehrens unter dem Gesichtspunkt des § 27 SGB VIII in Betracht kommen lassen. Bei Teilleistungsstörungen wie der Dyskalkulie scheidet ein auf die Übernahme der Kosten für eine spezielle Therapie gerichteter Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII von vornherein aus, so dass die Beklagte insoweit nicht zu einer Neubescheidung verpflichtet werden durfte.
17Der Senat folgt nicht der vom Verwaltungsgericht geteilten Meinung des VGH Baden-Württemberg in seinem – offenbar vereinzelt gebliebenen – Urteil vom 31. Mai 2005 – 7 S 2445/02 –, juris,
18der Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 6. Dezember 1999 – 2 S 891/98 –, FEVS 51, 471, juris, beruht lediglich auf der mangelnden Darlegung ernstlicher Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO,
19der sich in der Literatur erkennbar nur Stähr, in: Hauck/Heines, SGB VIII, Stand Januar 2011, K § 27 Rnrn. 21 und 58, Mrozynski, SGB VIII, 5. Aufl. 2009, § 27 Rn. 17 und Gerlach/Hinrichs, Therapeutische Hilfen für junge Menschen, in: ZfSH/SGB 2007, 451 (459 f.), eindeutig angeschlossen haben. Nach der genannten Entscheidung soll sich rein objektiv bestimmen, ob eine Teilleistungsstörung wie die Dyskalkulie Folge eines erzieherischen Defizits ist. Im Einzelnen wird ausgeführt:
20"Entscheidend ist also, ob das, was für die Sozialisation, Ausbildung und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen erforderlich ist, tatsächlich vorhanden ist. Dessen wohl ist demnach dann nicht (mehr) gewährleistet, wenn die konkrete Lebenssituation durch Mangel (z. B. an pädagogischer Unterstützung oder an Ausbildungsmöglichkeit) oder soziale Benachteiligung gekennzeichnet ist und das Sozialisationsfeld des Minderjährigen nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften diese Mangel– und Defizitsituation abzubauen und deshalb erzieherische Hilfebedürftigkeit besteht."
21Danach kommt es nicht darauf an, ob die familiäre Erziehung defizitär ist, sondern nur darauf, ob generell eine Defizitsituation in Ausbildung und Erziehung vorliegt. Dieses Normverständnis wird indes Wortlaut, Sinn und Zweck des § 27 SGB VIII als Anspruchsnorm der Eltern auf Hilfe zur Erziehung nicht gerecht, weswegen der Senat sich der engeren Auffassung des VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 6. April 2005 – 9 S 2633/03 –, ZfSH-SGB 2005, 432, juris, anschließt, die durch den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 2005 – 5 B 56.05 –, JAmt 2005, 524, juris, eine eindeutige und unmissverständliche Bestätigung gefunden hat. Eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung ist danach im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII nicht gewährleistet, wenn ein erzieherischer Bedarf (Erziehungsdefizit) des Kindes im Einzelfall vorliegt und diese Mängellage durch die Erziehungsleistung der Eltern nicht behoben wird. Es kommt also zwar auf einen (objektiven) Mangel an und nicht auf einen (subjektiven) Makel in der Person des Erzogenen oder des Erziehers; jedoch muss es sich um einen objektiven Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern handeln. Spätestens dadurch, dass der Gesetzgeber die bis dahin in § 27 Abs. 4 SGB VIII angesiedelte und als Anspruch der Personensorgeberechtigten ausgestaltete Eingliederungshilfe durch das 1. Gesetz zur Änderung des 8. Sozialgesetzbuches vom 16. Februar 1993 (BGBl. I, 237 ff.) zum 1. April 1993 von der Hilfe zur Erziehung abgekoppelt und mittels des neuen § 35a SGB VIII als eigenen Anspruch des seelisch behinderten Kindes bzw. Jugendlichen geregelt hat, ist deutlich geworden, dass im Rahmen des § 27 SGB VIII ausschließlich darauf abzustellen ist, ob ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern vorliegt.
22Vgl. zu dieser Argumentation im Einzelnen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. April 2005 – 9 S 2633/03 –, a. a. O., m. w. N.
23Auf einen Vorschlag des Bundesrates zum ursprünglichen KJHG, die Anspruchsinhaberschaft für die Hilfe zur Erziehung in § 27 Abs. 1 SGB VIII von den Personensorgeberechtigten auf die Kinder bzw. Jugendlichen zu erweitern, hatte die Bundesregierung aber auch schon mit Gegenäußerung vom 7. Dezember 1989 (BT-Drucks. 11/6002) die anspruchsbegründende Mängellage unmissverständlich dahin gehend eingegrenzt, dass eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung dann nicht gewährleistet ist, "wenn die Eltern selbst aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage sind, die Erziehungsaufgaben angemessen zu erfüllen und daraus Schaden für das Kind droht oder bereits eingetreten ist".
24Vgl. auch: Happe/Saurbier, in: Jans/Happe/Saurbier/
25Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, Stand Juli 2010, Erl. § 27 Art. 1 KJHG, Rn. 11.
26Danach kommt es für die Ausfüllung des Begriffs der Kindeswohlgefährdung, wie ihn § 27 Abs. 1 SGB VIII verwendet, mitnichten lediglich darauf an, ob die Eltern selbst
27– also ohne öffentliche Hilfe – die Gefährdung abwenden können. Bei dem eindeutig zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen vermögen auch die Billigkeitserwägungen, die der VGH Baden-Württemberg in seinen Urteil vom 31. Mai 2005 auf der Grundlage einer engen Verknüpfung der Erziehung des Kindes durch seine Eltern mit der schulischen Ausbildung und Erziehung sowie der Überlegung angestellt hat, das Kind würde – solange die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII noch nicht vorlägen – mangels Gewährung von Jugendhilfemitteln untherapiert bleiben und nach der offenen Formulierung des § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ("insbesondere") kämen in atypischen Konstellationen auch nicht in § 27 Abs. 2 SGB VIII aufgezählte Hilfeformen in Betracht, nicht zu greifen. Der Senat teilt die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, es folge unmittelbar aus dem Gesetz, dass die Voraussetzungen für den Anspruch eines Personensorgeberechtigten auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs. 1 SGB VIII), dass eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist, nur bei einem erzieherischen Bedarf infolge einer erzieherischen Mangelsituation gegeben ist und hierfür nicht jede beliebige Mangelsituation im Sozialisationsumfeld des Kindes oder eines Jugendlichen, namentlich nicht eine im schulischen Leistungsbereich, ausreicht. Die Hilfe zur Erziehung ist ihrer gesetzlichen Konstruktion nach eine die elterliche Erziehung ergänzende und unterstützende, diese notfalls auch ersetzende Hilfe.
28So BVerwG, Beschluss vom 12. Juli 2005 – 5 B 56.05 –, a. a. O.
29Nach alledem verlangt § 27 Abs. 1 SGB VIII eine Mangellage im elterlichen, und nicht etwa im schulischen Erziehungsbereich. Für schulische Bedarfslagen ist ausschließlich die Schule (ggfs. im Zusammenwirken mit den Eltern) verantwortlich. Legasthenie und Dyskalkulie verlangen als Teilleistungsstörungen eine schulische Förderung. Hilfe zur Erziehung kommt deshalb nicht in Betracht.
30Vgl. auch: Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 27 Rnrn. 3 und 8.
31Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
32Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit war nach § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO zu treffen.
33Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Zulassungsgründe i. S. d. § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Namentlich vermag der Senat der Rechtssache im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts 5 B 56.05 vom 12. Juli 2005, a. a. O., keine grundsätzliche Bedeutung beizumessen.
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