Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 6 B 1365/14
Tenor
Der Beschluss wird, soweit er sich auf die zu Gunsten des Beigeladenen zu 2. getroffene Auswahlentscheidung bezieht, geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, eine der frei gehaltenen Beförderungsstellen einer Justizamtsinspektorin/eines Justizamtsinspektors für eine Beamtin/einen Beamten, die/der überwiegend Sachbearbeiteraufgaben nach Abschnitt I a) der RV des JM NRW vom 22. April 2013 in der Fassung vom 8. Juli 2013 – 2325 – Z.24 - wahrnimmt, ausgeschrieben im Justizministe-rialblatt vom 15. Oktober 2013, mit dem Beigeladenen zu 2. zu besetzen, bis erneut über die Bewerbung der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entschieden worden ist.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu ½. Die weitere Hälfte sowie die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen dem Antragsgegner zur Last. Die außergerichtlichen Kosten tragen die Beigeladenen in beiden Rechtszügen selbst.
Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Instanzen jeweils auf die Wertstufe bis 10.000,00 Euro festgesetzt
1
G r ü n d e:
2Die zulässige Beschwerde, mit der die Antragstellerin bei verständiger Würdigung des Beschwerdevorbringens ihren Bewerbungsverfahrensanspruch nur noch bezüglich der zugunsten des Beigeladenen zu 2. getroffenen Auswahlentscheidung weiterverfolgt, ist begründet.
3Die von der Antragstellerin dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO) rechtfertigen die Änderung des angefochtenen Beschlusses. Der auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtete Antrag ist im tenorierten Umfang begründet. Die Antragstellerin hat insoweit das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht, vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
4Die Antragstellerin kann beanspruchen, dass die Besetzung der ausgeschriebenen Beförderungsstelle mit dem Beigeladenen zu 2. vorerst unterbleibt, weil die Auswahlentscheidung des Antragsgegners den sich aus Art. 33 Abs. 2 GG, § 9 BeamtStG und § 20 Abs. 6 Satz 1 LBG NRW ergebenden Anspruch der Antragstellerin auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über ihre Bewerbung verletzt. Sie erweist sich als rechtswidrig und die Auswahl der Antragstellerin erscheint in einem neuen Auswahlverfahren zumindest als möglich.
5Ob die Auswahlentscheidung bereits deshalb rechtlichen Bedenken unterliegt, weil der Antragsgegner bei dem von ihm vorgenommenen Bewerbervergleich die Einzelfeststellungen der aktuellen, im Gesamturteil gleichlautenden Beurteilungen der Antragstellerin und des Beigeladenen zu 2. nicht in der gebotenen Weise in den Blick genommen und dem Beigeladenen zu 2. im Verhältnis zur Antragstellerin vorschnell unter Rückgriff auf das Kriterium der Leistungsentwicklung den Vorzug eingeräumt hat, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Zweifel ergeben sich, weil im Auswahlvermerk vom 13. März 2014 lediglich ausgeführt worden ist, dass in den Überqualifikationen keine leistungs- und/oder eignungsschärfenden Zusätze oder Einfügungen enthalten seien. Der Vermerk verhält sich jedoch nicht zu der Frage, ob in den der Antragstellerin und dem Beigeladenen zu 2. erteilten Erstbeurteilungen der Leitenden Oberstaatsanwälte Differenzierungen in der Bewertung einzelner Leistungskriterien oder in der verbalen Gesamtwürdigung enthalten sind. Sind – wie hier – Bewerber mit dem gleichen Gesamturteil bewertet worden, muss der Dienstherr die herangezogenen Beurteilungen indes zunächst inhaltlich ausschöpfen, d.h. (im Wege einer näheren "Ausschärfung" des übrigen Beurteilungsinhalts) der Frage nachgehen, ob die jeweiligen Einzelfeststellungen eine ggf. unterschiedliche Prognose in Richtung auf den Grad der Eignung für das Beförderungsamt, also für die künftige Bewährung in diesem Amt ermöglichen. Dabei ist es Sache des Dienstherrn, bei der gebotenen inhaltlichen Ausschöpfung der Beurteilungen einer ungerechtfertigten Überbewertung nur geringfügiger Unterschiede zu begegnen, etwa dadurch, dass er die Einzelfeststellungen in ihrer Wertigkeit gewichtet. Will der Dienstherr allerdings sich aufdrängenden oder zumindest nahe liegenden Unterschieden in den dienstlichen Beurteilungen keine Bedeutung beimessen, so trifft ihn insoweit eine Begründungs- und Substantiierungspflicht.
6Vgl. hierzu sowie allgemein zur Frage der inhaltlichen Ausschöpfung von dienstlichen Beurteilungen OVG NRW, Beschluss vom 1. August 2011 - 1 B 186/11 -, juris, Rn. 11 ff., = NRWE, m. w. N.
7Ob der Antragsgegner seiner Pflicht zur inhaltlichen Ausschöpfung der in Rede stehenden Beurteilungen, wie das Verwaltungsgericht meint, nachgekommen ist, lässt sich dem Auswahlvermerk nicht ohne Weiteres entnehmen.
8Ungeachtet dessen erweist sich die Auswahlentscheidung jedenfalls deshalb als rechtswidrig, weil der Antragsgegner im Weiteren von der unzutreffenden Annahme ausgegangen ist, die zur Bewertung der Leistungsentwicklung herangezogenen früheren dienstlichen Beurteilungen der Antragstellerin und des Beigeladenen zu 2. belegten eine über ein Jahr längere Dauer der mit der Bestnote beurteilten Tätigkeit des Beigeladenen zu 2. im kontingentgerechten Bereich, weshalb sich für ihn ein „erheblicher Vorsprung“ ergebe. Die Antragstellerin hat jedoch ausweislich der vorgelegten Verwaltungsvorgänge die Bestnote mit der Beurteilung vom 19. März 2009 und der Überqualifikation vom 27. April 2009 für den Beurteilungszeitraum ab dem 3. August 2005 und der Beigeladene zu 2. mit der Beurteilung vom 19. September 2006 und der Überqualifikation vom 4. Oktober 2006 für den Beurteilungszeitraum ab dem 16. August 2005 erhalten, so dass in Bezug auf die mit der Bestnote beurteilten Zeiträume kein signifikanter Unterschied besteht.
9Nur ein solcher kann aber nach dem vom Antragsgegner bei seiner Entscheidung herangezogenen Grundsatz 1.4 der „Zusammenstellung Anwendung der Beförderungsgrundsätze einschließlich der Gewichtung von Hilfskriterien nach Maßgabe der Verfügung vom 4. September 2006 (232-64)“ in der Fassung der Gesprächsergebnisse zwischen dem Generalstaatsanwalt und dem Bezirkspersonalrat vom 4. und 8. Mai 2009 (vgl. Bl. 128 ff. der Gerichtsakte) den angenommenen Qualifikationsvorsprung rechtfertigen. Dort heißt es: „Relevant sind Leistungs- und Eignungsvorsprünge, soweit diese lediglich aus der Dauer der erteilten Gesamtnoten hergeleitet werden, von jeweils einem Jahr soweit keine überlangen Unterschiede in den Beurteilungszeiträumen bestehen (…). Bei Bewerbungen um JAI-Stellen des Sonderschlüssels IT (ADV)“, wie sie hier in Rede stehen, „ist bei der Feststellung der Dauer der Note zuvörderst auf die Zeit der (überwiegenden) Verwendung in diesen Aufgabenstellungen abzustellen“.
10Ungeachtet des Umstandes, dass im Auswahlvermerk auf Seite 3 mit maximal acht Jahren und sieben Monaten ein kürzerer als der auf Seite 6 für die Auswahlentscheidung relevant erachtete Zeitraum von neun Jahren und zwei Monaten für die Dauer der mit der Bestnote beurteilten Tätigkeit genannt wird und insofern ein Widerspruch vorliegt, trifft es nicht zu, dass der Beigeladene zu 2. am maßgeblichen Stichtag 31. Januar 2014 bereits seit neun Jahren und zwei Monaten über eine Beurteilung mit der Bestnote verfügt hat.
11Die den Beigeladenen zu 2. betreffende Erstbeurteilung vom 16. August 2005 des unmittelbaren Dienstvorgesetzten kann wegen der unterbliebenen Überbeurteilung durch den höheren Dienstvorgesetzten nicht als Nachweis für eine Leistungsentwicklung im Sinne von Ziffer 1.4 der Beförderungsgrundsätze des Antragsgegners dienen. Die gemäß diesem Grundsatz als Kriterium für die Leistungsentwicklung relevante „Gesamtnote“ ist die Gesamtnote, die sich aus der abschließenden Beurteilung, mithin aus der - insbesondere der Durchsetzung einheitlicher Beurteilungsmaßstäbe dienenden – Überbeurteilung ergibt. Erst diese vermag die im Interesse des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG zu wahrende Vergleichbarkeit der Bewertungen der individuellen Leistungs- und Befähigungsprofile der Beamten sicherzustellen. Ist das Beurteilungsverfahren zweistufig geregelt, wie es Abschnitt II Nr. 1 der Allgemeinverfügung des Justizministers vom 20. Januar 1972 (2000 - I B. 155.1) - JMBl. NW S. 39 – vorsieht, muss neben dem unmittelbaren Dienstvorgesetzten auch der höhere Dienstvorgesetzten eine selbständige Beurteilung erstellen. An einer Überbeurteilung fehlt es hier, weil das Auswahlverfahren, anlässlich dessen seinerzeit die Erstbeurteilung vom 16. August 2005 erstellt wurde, vor der Überbeurteilung abgebrochen worden war.
12Ein aus der Dauer der Bestnote resultierender Leistungsvorsprung des Beigeladenen zu 2. ergibt sich auch nicht aus den späteren dienstlichen Beurteilungen. Einer Auslegung dahingehend, dass von der Erstbeurteilung durch den Leitenden Oberstaatsanwalt G. vom 19. September 2006 und der Überbeurteilung des Generalstaatsanwalts vom 4. Oktober 2006 nicht nur der Zeitraum ab dem 16. August 2005, sondern auch die Zeit vom 2. Dezember 2004 bis zum 16. August 2005 erfasst sei, wie sie vom Verwaltungsgericht vorgenommen worden ist, sind die dortigen Ausführungen nämlich nicht zugänglich. Die Erstbeurteilung vom 19. September 2006 grenzt den für sie maßgeblichen Zeitraum auf Seite 2 ausdrücklich auf die Zeit ab dem 16. August 2005 ein. Auch die im sonstigen Text verwandten Formulierungen lassen keinerlei Rückschlüsse auf einen hiervon abweichenden früheren Beginn des Beurteilungszeitraums zu. Soweit das Verwaltungsgericht meint, aus der Formulierung, die dienstlichen Gesamtleistungen und Fähigkeiten des Beigeladenen zu 2. verdienten weiterhin die höchste Benotung, sei zu schließen, dass auch der Zeitraum vom 2. Dezember 2004 bis zum 16. August 2005 erfasst sei, folgt der Senat dieser Wertung nicht. Diese Formulierung vermag die unmissverständliche Zeitangabe nicht zu relativieren und steht auch in keinem Bedeutungswiderspruch zu ihr. Der Leitende Oberstaatsanwalt G. hat diese Formulierung wortgleich in den ebenfalls von ihm erstellten Erstbeurteilungen vom 9. Juli 2004 und 16. August 2005 verwandt, weshalb der vom Verwaltungsgericht gezogene Schluss nicht überzeugt. Denn auch die Erstbeurteilung vom 9. Juli 2004 endet mit der Bestnote, nachdem die vorangegangene Beurteilung mit der Überbeurteilung durch den Generalstaatsanwalt noch die Einschränkung – untere Grenze – enthielt. Es spricht daher vieles dafür, dass der Leitende Oberstaatsanwalt G. mit dem Begriff „weiterhin“ das Festhalten an seiner eigenen Leistungs- und Eignungseinschätzung zum Ausdruck bringen wollte, nachdem der Generalstaatsanwalt zwei ebenfalls vom ihm erstellte frühere Erstbeurteilungen geändert und die Bestnote in Bezug auf die Eignung für das jeweils angestrebte Beförderungsamt durch den Zusatz – untere Grenze - gesenkt hatte.
13Aus der Überbeurteilung des Generalstaatsanwalts vom 4. Oktober 2006 ergeben sich keine weiteren, für die Auslegung der Erstbeurteilung relevanten Gesichtspunkte, da er der Erstbeurteilung lediglich nicht entgegen getreten ist, ohne selbst Weitergehendes auszuführen.
14Schließlich ist anzumerken, dass der vorgenommene Bestnotenvergleich den Umstand unberücksichtigt lässt, dass die Antragstellerin ein Statusamt der Besoldungsgruppe A 8 BBesO bereits seit 1984, der Beigeladene zu 2. hingegen erst seit dem 1. Oktober 2006 innehat. Die Erstbeurteilung des Beigeladenen zu 2. vom 19. September 2006 und die zugehörige Überbeurteilung vom 4. Oktober 2006 beziehen sich dementsprechend auf Leistungen des Beigeladenen zu 2. im Amt des Justizobersekretärs. Die Erstbeurteilung der Antragstellerin vom 19. März 2009 und die zugehörige Überbeurteilung vom 27. April 2009 haben demgegenüber die Leistungen der Antragstellerin im Amt der Justizhauptsekretärin zum Gegenstand, und zwar in dem Zeitraum seit dem 3. August 2005. Für die uneingeschränkte und vorbehaltlose Gleichstellung der in unterschiedlichen Statusämtern erzielten Gesamtnoten fehlt es jedenfalls an einer plausiblen Erklärung. Der nach ständiger Rechtsprechung geltende Grundsatz, dass der Beurteilung im höheren Statusamt ein größeres Gewicht zukommt, hat offenkundig keine Berücksichtigung gefunden.
15Die Antragstellerin hat auch die Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Die Besetzung der streitgegenständlichen Beförderungsstelle mit dem Beigeladenen zu 2. wäre im Falle eines Obsiegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren nicht ohne Weiteres wieder rückgängig zu machen.
16Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 3, 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO und berücksichtigt das Verhältnis des gegenseitigen Obsiegens und Unterliegens.
17Die Streitwertfestsetzung/-änderung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, Abs. 5 (jetzt: Abs. 6) Satz 4 i.V.m. Satz 1 Nr. 1, Satz 2 und 3 GKG. Der vom Verwaltungsgericht festgesetzte Streitwert ist mit der Wertstufe bis 13.000 Euro zu hoch bemessen. Er ist auf der Grundlage der Streitwertpraxis der mit beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren befassten Senate des OVG NRW herabzusetzen. Ausgangspunkt der vorzunehmenden (fiktiven) Berechnung der Bezüge ist das von der Antragstellerin angestrebte Amt der Besoldungsgruppe A9 BBesO sowie die von ihr erreichte Erfahrungsstufe 11. Zu berücksichtigen ist ferner die ruhegehaltfähige allgemeine Stellenzulage. Der sich ergebende Monatsbetrag (Grundgehalt i.H.v. 3.011,26 Euro + allgemeine Stellenzulage + 1/12 der jährlichen Sonderzahlung) ist mit dem Faktor 3 zu multiplizieren und der Streitwert dementsprechend auf die Wertstufe bis 10.000,00 Euro festzusetzen.
18Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. September 2014 – 6 E 723/14 –, juris.
19Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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