Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 2560/16
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
3Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. „Ernstliche Zweifel“ im Sinne des Gesetzes sind gegeben, wenn die Richtigkeit des angefochtenen Urteils einer weiteren Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002 ‑ 7 AV 1.02 ‑, Buchholz 310 § 124b VwGO Nr. 1 = juris.
5Das ist nicht der Fall. Die Klägerin legt ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht dar. Das Verwaltungsgericht hat den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids im Wege des Wiederaufgreifens zu Recht verneint. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen ihres Verfahrens.
6I. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht zu.
71. Ein Wiederaufnahmegrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
8Eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen
9liegt vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, sodass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht. Die Sach- oder Rechtslage muss sich hinsichtlich solcher Umstände geändert haben, die für den bestandskräftigen Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren. Nicht ausreichend ist die Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen für den mit der Verpflichtungsklage erstrebten Verwaltungsakt, die für die bestandskräftige Ablehnung nicht (allein) ausschlaggebend waren.
10Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 -, juris, Rn. 13.
11An einer Änderung des für die bestandskräftige Ablehnung ausschlaggebenden Ablehnungsgrunds fehlt es hier.
12Der Ablehnungsbescheid vom 15. November 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1997 hatten das Nichtvorliegen der deutschen Volkszugehörigkeit u. a. mit der fehlenden Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen begründet. Durch rechtskräftiges Urteil vom 29. Februar 2000 - 17 K 2692/97 - hatte das Verwaltungsgericht Köln die gegen diese Bescheide gerichtete Klage u. a. mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin stamme bereits nicht von einer deutschen Volkszugehörigen ab. Zu diesem bestandskräftig festgestellten und rechtskräftig bestätigten Ablehnungsgrund hat die Klägerin einen durchgreifenden Wiederaufnahmegrund nicht geltend gemacht.
13a. In Bezug auf diesen Ablehnungsgrund kann das am 14. September 2013 in Kraft getretene Zehnte BVFG-Änderungsgesetz (BGBl. I. S. 3554) keine Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin darstellen.
14aa. Die mit diesem Gesetz erfolgten Erleichterungen der Anforderungen an das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und an die deutschen Sprachkenntnisse stehen mit dem ausschlaggebenden auf die fehlende Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen gestützten Ablehnungsgrund in keinem Zusammenhang.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 24.17 -, Rn. 16.
16bb. Die Klägerin hat auch betreffend ihre Mutter, deren fehlende deutsche Volkszugehörigkeit in den bestandskräftigen und rechtskräftig bestätigten Bescheiden ausschlaggebend für die Verneinung der Abstammung von einer deutschen Volkszugehörigen war, keine mit Blick auf das Zehnte BVFG-Änderungsgesetz ein Wiederaufgreifen rechtfertigende Gründe hinsichtlich ihres oder hinsichtlich des bestandskräftig abgeschlossenen Verfahrens ihrer Mutter geltend gemacht.
17b. Eine Änderung der Rechtslage ist nicht mit dem in der Zulassungsbegründung aufgeführten Hinweis dargetan, hinsichtlich der Abstammung könne nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2008 - 5 C 8.07 - auch auf die Großeltern abgestellt werden. Mit diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht eine umstrittene, zuvor in der Rechtspraxis überwiegend enger gehandhabte Auslegungsfrage zu dem Abstammungsmerkmal erstmals geklärt. Die erstmalige Klärung einer Rechtsfrage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung begründet ebenso wie eine Änderung dieser Rechtsprechung regelmäßig keine Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG.
18Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 -, jurist, Rn. 17.
192. Andere oder weitere Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Klägerin nicht - auch nicht sinngemäß - geltend gemacht.
20II. Der Klägerin steht auch nicht der von ihr begehrte Anspruch auf ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i. V. m. den §§ 48, 49 VwVfG zu.
21Die in § 51 Abs. 5 VwVfG verankerte Ermächtigung der Behörde, nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen, ermöglicht auch bei rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungsverfahren die nachträgliche Kontrolle inhaltlich unrichtiger Entscheidungen. Trifft die Behörde eine positive Entscheidung zum Wiederaufgreifen (Stufe 1), wird hierdurch die Rechtskraft durchbrochen und der Weg für eine neue Sachentscheidung eröffnet. Mit der Befugnis zum Wiederaufgreifen korrespondiert ein gerichtlich einklagbarer Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung. Dabei handelt die Behörde grundsätzlich ermessensfehlerfrei, wenn sie ein Wiederaufgreifen im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung in dem früheren Verwaltungsverfahren ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen der Behörde. Umstände, die ausnahmsweise eine erneute Sachentscheidung und damit ein Wiederaufgreifen gebieten, müssen in ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht mit einem der in § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG geregelten zwingenden Wiederaufgreifensgründe vergleichbar sein. Allein der Umstand, dass der rechtskräftig bestätigte Verwaltungsakt ‑ gemessen an den sich aus der aktuellen Rechtsprechung ergebenden Anforderungen - nicht rechtmäßig verfügt werden durfte, genügt hierfür nicht. Dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit kommt nämlich prinzipiell kein größeres Gewicht zu als dem Gebot der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit verdichtet sich das Ermessen der Behörde zugunsten des Betroffenen, wenn das Festhalten an dem rechtskräftig bestätigten Verwaltungsakt „schlechthin unerträglich“ wäre.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 5 C 9.11 -, BayVBl. 2012, 478 (479 f.) = juris, Rn. 29, m. w. N.
23Daran gemessen ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden vom 12. Mai 2015 und vom 18. November 2015 auch ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinn des abgeschlossenen Verfahrens abgelehnt hat.
24Das Bundesvertriebengesetz enthält keine Wertung dahin, dass bei der hier in Rede stehenden Fallgestaltung das Gebot der Rechtssicherheit hinter den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zurückzutreten hat. Das Festhalten an der rechtskräftig bestätigten Ablehnung eines Aufnahmebescheids erweist sich nicht als „schlechthin unerträglich“. Ob sich die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts als „schlechthin unerträglich“ darstellt, hängt von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab. Die Ablehnung eines Wiederaufgreifens des Verfahrens ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen. Genauso verhält es sich bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit des rechtskräftigen Urteils, mit dem der frühere Verwaltungsakt bestätigt wurde.
25Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 5 C 9.11 -, BayVBl. 2012, 478 (480) = juris, Rn. 30, m. w. N.
26Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben ist nichts ersichtlich. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Februar 2000 - 17 K 2692/97 - erweist sich auch nicht als offensichtlich fehlerhaft. Das folgt schon daraus, dass sich diese Entscheidung hinsichtlich der angenommenen Beschränkung des Abstammungsmerkmals auf die Eltern an der Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts zur früheren Rechtslage orientiert und auf die Gesetzesmaterialien zum Kriegsfolgenbereinigungsgesetz zu berufen vermocht hat (BTDrucks 12/3212 S. 23).
27Vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 5 C 9.11 -, BayVBl. 2012, 478 (480) = juris, Rn. 30, m. w. N.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
29Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
30Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
31Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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