Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 8 B 1344/20
Tenor
Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 1. September 2020 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners vom 17. Juni 2020 wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 14.250 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen ist begründet. Auf der Grundlage der von der Beigeladenen fristgerecht dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist der angefochtene Beschluss zu ändern und der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners vom 17. Juni 2020 abzulehnen.
3Dieser Bescheid, mit dem die Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 11. Februar 2020 auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage des Typs Enercon E‑147 EP5 mit einer Leistung von 4.300 kW, einer Nabenhöhe von 155,10 m und einem Rotordurchmesser von 147 m in Q. , Gemarkung E. , Flur , Flurstücke , , und , für die Dauer von elf Monaten ausgesetzt worden ist, erweist sich bei der hier allein gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig (dazu I.). Ausgehend davon überwiegend das Interesse der Beigeladenen an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (dazu II.).
4I. Der Zurückstellungsbescheid ist voraussichtlich rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB liegen vor; das Vorhaben der Antragstellerin ist geeignet, die weitere Durchführung der Planung der Beigeladenen wesentlich zu erschweren (dazu 1.). Dem steht nicht entgegen, dass das Einvernehmen der Beigeladenen zum Vorhaben der Antragstellerin nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt und dass sich das Vorhaben in einer Konzentrationszone für die Windenergienutzung des derzeit geltenden Flächennutzungsplans befindet (dazu 2.). Dasselbe gilt für den Umstand, dass ein Vorsorgeabstand zwischen Windenergieanlage und Wohnbebauung anders berechnet werden kann, als die Beigeladene es überlegt, und das Vorhaben der Antragstellerin nach anderer Berechnung außerhalb des Vorsorgeabstands stehen könnte (dazu 3.). Der Zurückstellungsbescheid des Antragsgegners weist auch keine Ermessensfehler auf (dazu 4.).
51. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB lagen hier im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides vor. Im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses war (und ist noch) zu befürchten, dass die Durchführung der Planung der Beigeladenen durch das Vorhaben der Antragstellerin unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, weil das Vorhaben der Antragstellerin möglicherweise innerhalb eines von der Beigeladenen erwogenen Vorsorgeabstands zwischen Windenergieanlagen und Wohnbebauung errichtet würde.
6a) Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB hat die Baugenehmigungsbehörde auf Antrag der Gemeinde die Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 für einen Zeitraum bis zu längstens einem Jahr nach Zustellung der Zurückstellung des Baugesuchs auszusetzen, wenn die Gemeinde beschlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen, zu ändern oder zu ergänzen, mit dem die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 erreicht werden sollen, und zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde.
7Die Befürchtung, dass die Flächennutzungsplanung mit dem Ziel der Ausweisung von Konzentrationszonen für Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB mit der Wirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, besteht, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben der gemeindlichen Planung – nach dem jeweiligen Stand des Planungsverfahrens und gemessen an der Planungskonzeption und den Planzielen – widerspricht oder dass ein solcher Widerspruch zumindest möglich ist. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn die nach der Planung künftig zulässige Nutzung des Grundstücks, auf dem das Vorhaben durchgeführt werden soll, nicht geklärt ist. Um eine Sicherung der Planung schon in einem möglichst frühen Planungsstadium zu ermöglichen, sind an den Nachweis des Sicherungserfordernisses keine besonders hohen Anforderungen zu stellen. Bloße Vermutungen reichen allerdings nicht aus. Das Mindestmaß an planerischen Vorstellungen der Gemeinde kann sich nicht nur aus den Niederschriften über Gemeinderatssitzungen, sondern auch aus allen anderen erkennbaren Unterlagen und Umständen ergeben.
8Bei der Prüfung des Sicherungserfordernisses sind die Besonderheiten, die Windenergiekonzentrationsflächenplanungen in der Regel gegenüber Bebauungsplänen aufweisen, zu berücksichtigen. Konzentrationszonenplanungen zielen konzeptionell neben der positiven Vorrangwirkung der Darstellung von Konzentrationsflächen insbesondere auf die den übrigen Außenbereich betreffende negative Ausschlusswirkung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB. Dazu ist ein schlüssiges Gesamtkonzept für den gesamten Außenbereich zu entwickeln, das alle relevanten Belange in der Abwägung berücksichtigt. Dieser Abwägungsprozess ist durch eine Offenheit gekennzeichnet, die im Verlaufe der Planung häufig zu einer Veränderung der Konzentrationsflächen führt, sei es, dass die Flächen verkleinert oder vergrößert werden, sei es, dass die Flächen verschoben oder geteilt werden, sei es, dass Flächen ganz aufgegeben oder neu gebildet werden.
9Um geeignete Konzentrationsflächen sachgerecht zu ermitteln, wird eine Gemeinde häufig Gutachter heranziehen. Wenn ein Gemeinderat beschließt, Windenergiekonzentrationszonen im Flächennutzungsplan auszuweisen, dürfte ein solcher Aufstellungs- oder Änderungsbeschluss daher regelmäßig im Wesentlichen (nur) das Ziel enthalten, überhaupt Konzentrationszonen darzustellen (und damit die Errichtung von Windenergieanlagen an anderen Stellen nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB grundsätzlich auszuschließen). Konkretere Angaben können zu einem solchen Zeitpunkt von einer Gemeinde bzw. von deren Rat grundsätzlich nicht verlangt werden, weil bei der Planung der gesamte Außenbereich des Gemeindegebietes in den Blick zu nehmen ist.
10Die Genehmigung von Windenergieanlagen vor Abschluss einer solchen Planung kann die wirksame Umsetzung des planerischen Gesamtkonzepts in Frage stellen. Dies gilt auch dann, wenn sich am geplanten Standort oder in der Umgebung bereits andere Windenergieanlagen befinden. Eine Gefährdung der gemeindlichen Flächennutzungsplanung hinsichtlich des negativen Planungsziels ist schon dann zu befürchten, wenn es nach dem jeweiligen Stand der Planung aufgrund objektiver Anhaltspunkte möglich erscheint, dass das Vorhabengrundstück außerhalb der Konzentrationsflächen liegen wird. Ein Vorhaben gefährdet das negative Planungsziel erst dann nicht (mehr), wenn es hinreichend verlässlich innerhalb einer Konzentrationsfläche liegen wird. Entscheidend sind jeweils die Umstände des Einzelfalls. Ein Sicherungsbedürfnis nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB liegt trotz ausreichender Konkretisierung der Planung allerdings dann nicht vor, wenn es sich um eine reine Verhinderungsplanung handelt. Die Frage, ob ein solches Sicherungserfordernis besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar.
11Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschlüsse vom 26. April 2018 - 8 B 362/18 -, juris Rn. 5 ff., und vom 2. Juni 2015 - 8 B 178/15 -, juris Rn. 16 ff., jeweils m. w. N.
12b) Gemessen an diesen Vorgaben ist das Vorhaben der Antragstellerin i. S. v. § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB geeignet, die begonnene Planung der Beigeladenen unmöglich zu machen oder wesentlich zu erschweren, auch wenn sich der Standort des Masts und der überwiegende Teil des Rotors in einer in dem insoweit wirksamen Flächennutzungsplan derzeit ausgewiesenen Vorrangzone für die Nutzung der Windenergie befinden.
13Der Ausschuss für Bauen, Planen und Umwelt des Rates der Beigeladenen hat am 16. Januar 2020 die Grundentscheidung getroffen, das Bauleitplanverfahren zur Aufstellung der 146. Änderung des Flächennutzungsplans zur Ausweisung von Windkraftkonzentrationszonen mit der Steuerungswirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB auf dem Gebiet der Beigeladenen einzuleiten. Anlass war das Urteil des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 2019 - 2 D 63/17.NE -, mit dem die 125. Änderung des Flächennutzungsplans der Beigeladenen insoweit für unwirksam erklärt wurde, als mit der Änderung die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB herbeigeführt werden sollen. Der 2. Senat des beschließenden Gerichts hat einen Abwägungsmangel darin gesehen, dass der Rat der Beigeladenen weite Teile des Außenbereichs, nämlich insbesondere Waldgebiete, zu Unrecht den harten Tabukriterien zugeordnet und die Wahl der weichen Tabus zumindest nicht hinreichend begründet habe. So war im Rahmen der 125. Änderung ein Vorsorgeabstand von 1.000 m für neu geplante Vorrangzonen gegenüber Siedlungsbereichen als weiches Tabukriterium berücksichtigt worden; für die damals bereits bestehenden Vorrangzonen sollte hingegen ein Vorsorgeabstand von 750 m eingehalten werden. In der Begründung der Sitzungsvorlage für die Ausschusssitzung am 16. Januar 2020 heißt es u. a., die Vorsorgeabstände für die im Regionalplan dargestellten Allgemeinen Siedlungsbereiche seien auf den Prüfstand zu stellen. Ausweislich der öffentlichen Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Bauen, Planen und Umwelt vom 16. Januar 2020 (dort unter 7. ab S. 6) sind die Abstände von Windenergieanlagen zur Wohnbebauung thematisiert worden, insbesondere im Bereich der Ortschaft E. , in deren Nähe bereits zahlreiche Windenergieanlagen stehen und auch das Vorhaben der Antragstellerin eine Bestandsanlage ersetzen soll. Die Beigeladene hat deutlich gemacht, dass sie sich die Möglichkeit offenhalten will, im Rahmen der 146. Änderung des Flächennutzungsplans die bislang abwägungsfehlerhaft als harte Tabuzonen bewerteten Flächen erneut zu überprüfen und einen (einheitlichen) Vorsorgeabstand von 1.000 m zur nächsten Wohnbebauung zu berücksichtigen.
14Die Flächennutzungsplanung der Beigeladenen war zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zurückstellungsantrag am 17. Juni 2020 im Hinblick auf das frühe Verfahrensstadium und die Komplexität des Planungsverfahrens hinreichend konkretisiert. Weitergehende Planungen und Konkretisierungen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt werden. Dem Ausschuss lagen bei seiner Beschlussfassung am 16. Januar 2020 Pläne zu harten Tabuzonen sowie zu artenschutzrechtlich relevanten Gebieten und Waldflächen jeweils betreffend das gesamte Gemeindegebiet vor. Mit dem Zurückstellungsantrag vom 22. April 2020 hatte die Beigeladene mitgeteilt, derzeit werde der gesamte Außenbereich auf seine Eignung für die Ausweisung von Windkraftkonzentrationszonen untersucht. Vor allem die Waldflächen, die Naturschutzgebiete und die im Regionalplan dargestellten Bereiche für den Schutz der Natur müssten vertiefend untersucht werden. Vorsorgeabstände für die im Regionalplan dargestellten Allgemeinen Siedlungsbereiche seien zu prüfen und dabei die Flächenpotenziale hinsichtlich ihrer tatsächlichen Entwicklung zu bewerten. Auch Pufferzonen zu Schutzgebieten und eine Mindestgröße potentieller Vorrangzonen müssten hinterfragt werden. All dies erfordere umfassende Untersuchungen.
15Wie der bei der Planung zu berücksichtigende Vorsorgeabstand konkret bemessen werden soll, insbesondere ob er von der Rotorblattspitze oder von der Mitte des Mastfußes gemessen werden soll, war zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht konkretisiert und musste dies zu diesem frühen Stadium der Neuplanung auch noch nicht sein. Davon ausgehend ist es plausibel, wenn die Beigeladene in ihrem Zurückstellungsantrag vom 22. April 2020 (dort S. 3, Ende des 3. Absatzes) ausgeführt hat, es sei derzeit nicht absehbar, ob sich die beantragte Windenergieanlage [der Antragstellerin] auch künftig vollständig innerhalb einer wirksamen Windkonzentrationszone befinde. Dass die Beigeladene auch nach dem inzwischen erreichten Planungsstand keinesfalls ausschließen möchte, die konkreten Grenzen der mit der 125. Änderung ausgewiesenen Vorrangzonen zu überprüfen sowie ggf. zu verändern und den in Erwägung gezogenen Vorsorgeabstand ab der Rotorblattspitze zu berechnen, ergibt sich auch aus ihrer Beschwerdebegründung vom 22. September 2020 (dort S. 8 unten).
16Im Übrigen ist die Gemeinde letztlich auch nicht verpflichtet, jede nach der abschnittsweise erfolgten Ausarbeitung des Plankonzepts verbleibende Potenzialfläche als Konzentrationszone auszuweisen. Die Einzelfallentscheidung für oder gegen die Windenergienutzung auf den verbleibenden Potenzialflächen zählt zum Bereich der Abwägung.
17Vgl. Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 87 ff. (90).
18Selbst bei grundsätzlicher – nach dem Planungsstand zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung noch nicht feststehender – Beibehaltung der bisherigen Vorrangzone würde das Vorhaben der Antragstellerin mit einem Teil des Rotors einen etwaigen 1.000 m-Abstand zwischen dem Ende der Rotorblattspitze und der nächsten Wohnbebauung (Allgemeines Wohngebiet im Osten der Ortslage E. ) um 75 m unterschreiten. Würde es vor Abschluss der 146. Änderung des Flächennutzungsplans realisiert, würde die planerische Möglichkeit der Beigeladenen, mittels Konzentrationszonen für die Windenergienutzung einen solchen generellen Vorsorgeabstand zu gewährleisten, dadurch wesentlich erschwert.
19Es ist auch nicht erkennbar, dass die Beigeladene nur eine vordergründige Planung betrieben hätte. Nachdem der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 17. Januar 2019 - 2 D 63/17.NE - die Ausschlusswirkung der vormaligen Konzentrationszonenplanung im Flächennutzungsplan für unwirksam erklärt und das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 4 BN 30.19 - zurückgewiesen hatte, bestand aller Anlass für die Beigeladene, den Bau von Windenergieanlagen in ihrem Gemeindegebiet durch eine erneute Änderung des Flächennutzungsplans zu steuern. Da solche Planungsverfahren sehr komplex sind und im Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides die dafür relevanten Aspekte bereits im Auftrag der Beigeladenen ermittelt wurden, deutet auch der seit dem Aufstellungsbeschluss vergangene Zeitraum nicht auf eine bewusst verzögerte Planung hin.
202. Dem angegriffenen Zurückstellungsbescheid steht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht entgegen, dass das gemeindliche Einvernehmen der Beigeladenen zum Vorhaben der Antragstellerin nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt und sich das Vorhaben der Antragstellerin in einer Konzentrationszone für die Windenergienutzung des noch geltenden Flächennutzungsplans befindet.
21Das Recht – und die Pflicht – der Gemeinde, ihre Bauleitpläne in eigener Verantwortung aufzustellen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB), wird durch die Erteilung des Einvernehmens zu einem konkreten Bauvorhaben nicht berührt. Die Gemeinde darf ihre Bauleitpläne immer dann aufstellen, wenn es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB). Dabei kommt es in erster Linie auf die Sicht der Gemeinde selbst an. Sie darf die städtebauliche Entwicklung in ihrem Gemeindegebiet bestimmen und sich dabei grundsätzlich von „gemeindepolitischen“ Motiven, die sich jederzeit ändern können, leiten lassen. Dem steht die Einvernehmensregelung des § 36 BauGB nicht entgegen. Zwar besteht der Zweck der Gemeindebeteiligung im Baugenehmigungsverfahren nach § 36 BauGB nicht allein darin, der Gemeinde die Möglichkeit zu einer eigenen Beurteilung des Vorhabens auf der Grundlage der gegenwärtigen planungsrechtlichen Rechtslage zu geben. Die Gemeinde soll vielmehr auch Gelegenheit erhalten, aus Anlass eines konkreten Bauantrags ihre Bauleitplanung zu ändern und zu ihrer Sicherung mit den Mitteln der §§ 14 und 15 BauGB ein bisher planungsrechtlich zulässiges Vorhaben zu verhindern. Mit der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB steht ihr hierfür ausreichend Zeit zur Verfügung. Die Gemeinde verliert ihre Planungsbefugnis jedoch nicht, wenn sie auf der Grundlage der bestehenden Rechtslage gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB ihr Einvernehmen erteilt oder wenn es nach Ablauf von zwei Monaten gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gilt. Eine gesetzliche Regelung, nach der die Einvernehmenserklärung zum Verlust der Planungsbefugnis führt, gibt es nicht. Auch aus § 36 BauGB lässt sich kein Planungsverbot herleiten. Denn diese Vorschrift gilt für die Zulassung von Vorhaben; die Aufstellung von Bauleitplänen ist nicht Gegenstand der Regelung des § 36 BauGB. Im Übrigen würde die Rechtsauffassung, dass die Gemeinde wegen der Erteilung ihres Einvernehmens das betroffene Grundstück nicht mehr überplanen dürfe, auch zu praktisch nicht lösbaren Problemen führen. Denn im Ergebnis wäre es der Gemeinde oft nicht mehr möglich, städtebaulich sinnvolle Plangebiete festzulegen, wenn sie bestimmte Grundstücke aus der Planung herausnehmen müsste.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Februar 2004 - 4 CN 16.03 -, juris Rn. 23 f.
23Für eine Veränderungssperre nach § 14 BauGB hat das Bundesverwaltungsgericht im eben genannten Urteil weiter Folgendes ausgeführt (Rn. 25):
24„Stellt also das tatsächlich oder fiktiv erteilte Einvernehmen der Gemeinde zu einem konkreten Bauvorhaben kein Hindernis für die Bauleitplanung der Gemeinde dar, so kann allerdings die Einvernehmenserteilung im Einzelfall Auswirkungen auf die materielle Rechtmäßigkeit eines ihm inhaltlich widersprechenden Bebauungsplans haben. Durch die Erteilung des Einvernehmens erlangt der Bauantragsteller eine Position, die die Gemeinde im Rahmen ihrer Bauleitplanung berücksichtigen muss. Der Zweck der Fristenregelung des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB besteht nämlich nicht nur darin, das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Vielmehr dient die Vorschrift vornehmlich dem Schutz des Bauantragstellers. Er darf darauf vertrauen, dass über eine Teilfrage des Genehmigungsverfahrens innerhalb der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB Klarheit geschaffen wird. Deshalb kann die Erteilung des Einvernehmens auch nicht widerrufen oder zurückgenommen werden; denn dies würde dem Sinn der Vorschrift widersprechen, innerhalb der Frist klare Verhältnisse über die Einvernehmenserklärung der Gemeinde zu schaffen […]. Werden die Belange eines Bauherrn, zu dessen Bauvorhaben die Gemeinde gerade erst ihr unwiderrufliches Einvernehmen erklärt hat, bei der Planung nicht ausreichend berücksichtigt, so kann der Bebauungsplan an einem Abwägungsfehler leiden. Für die Wirksamkeit einer zur Sicherung des Bebauungsplans erlassenen Veränderungssperre kommt es darauf jedoch grundsätzlich nicht an. Denn in der Regel lässt sich die Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans vor Beendigung des Planaufstellungsverfahrens nicht abschließend beurteilen. Potenzielle Rechtsmängel des künftigen Bebauungsplans können deshalb nur dann (ausnahmsweise) zur Unwirksamkeit der Veränderungssperre führen, wenn bereits sicher ist, dass sie dem Bebauungsplan unvermeidbar anhaften müssen.“
25Wegen der vergleichbaren Zielrichtung von Veränderungssperre nach § 14 BauGB und Zurückstellung nach § 15 BauGB (Sicherung der gemeindlichen Planungshoheit),
26vgl. BVerwG, Urteil vom 26. März 2015 - 4 C 1.14 -, juris Rn. 11 (zu § 15 BauGB); Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2020, § 14 BauGB Rn. 1, § 15 Rn. 3,
27gilt Entsprechendes für das Zurückstellungsverfahren.
28Ausgehend davon und da die Beigeladene ihr Einvernehmen mit Blick auf die geltende Rechtslage nicht hätte verweigern dürfen, ist sie nicht wegen des fingierten Einvernehmens an einer Planung gehindert, die bestehenden Konzentrationszonen in ihrem Flächennutzungsplan in einer Weise zu verändern, insbesondere zu verkleinern, dass sich das Vorhaben der Antragstellerin künftig außerhalb einer bisherigen Konzentrationszone befände. Das fingierte Einvernehmen der Beigeladenen, die Lage des Vorhabens in einer Konzentrationszone des geltenden Flächennutzungsplans und der Umstand, dass es sich um ein Repoweringvorhaben handelt, mögen zwar Aspekte sein, die bei der späteren Abwägungsentscheidung über die konkrete Änderung des Flächennutzungsplans zu berücksichtigen sein werden. Dabei ist der erstinstanzlich thematisierte Vertrauensschutz der Antragstellerin wegen des fingierten Einvernehmens hier aber dadurch eingeschränkt, dass die Beigeladene innerhalb der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB die Zurückstellung nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB beantragt hat. Bei der Prüfung eines Zurückstellungsbescheides geht es zudem grundsätzlich nicht darum, im Einzelnen zu beurteilen, unter welchen konkreten Voraussetzungen die von der Gemeinde bisher nur erwogene Flächennutzungsplanung abwägungsfehlerfrei wird erfolgen können, sondern um die Frage, ob objektive Anhaltspunkte für die Gefährdung einer bestimmten Planung bestehen und ob diese Planung aus bestimmten Gründen von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Daher galten für die Beigeladene im vorliegenden frühen Planungsstadium auch keine erhöhten Begründungsanforderungen im Vergleich zu anderen Zurückstellungsanträgen. Sie musste nicht – und damit unter unzulässiger Vorwegnahme der im Planungsverfahren erst nach Beteiligung der Öffentlichkeit (§ 3 BauGB) und der Behörden (§ 4 BauGB) durchzuführenden Abwägung – bereits in ihrem Zurückstellungsantrag näher erläutern und begründen, wie sie die Belange der Antragstellerin und sonstige Umstände, die bei einer Änderung einer bestehenden Konzentrationszone zu berücksichtigen sind, in eine Abwägung zu einem künftigen Flächennutzungsplan angemessen einbeziehen würde.
29Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine Änderung der Konzentrationszone nordöstlich der Ortschaft E. dergestalt, dass das Vorhaben der Antragstellerin nicht mehr innerhalb dieser Konzentrationszone läge, in jedem Fall mit Sicherheit rechtswidrig wäre, sind nicht ersichtlich. Das Vorhaben der Antragstellerin soll im Randbereich der Konzentrationszone verwirklicht werden, der sich am nächsten an der Ortschaft E. befindet, deren Schutz vor einer „Umfassungswirkung“ durch Windenergieanlagen in der Ausschusssitzung thematisiert worden ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Plangeber die Grenze der bestehenden Konzentrationszone weiter weg von der Ortschaft E. verschiebt und der Windenergienutzung durch Ausweisung oder Erweiterung von Konzentrationszonen an anderer Stelle im Gemeindegebiet insgesamt substantiellen Raum verschafft. Auch der Umstand, dass es sich um ein Repowering handelt, schließt eine solche Planung nicht in jedem Fall aus.
303. Das Vorhaben der Antragstellerin ist auch nicht deswegen ungeeignet, die Planung der Beigeladenen zu beeinträchtigen, weil ein Vorsorgeabstand – wie die Antragstellerin geltend macht – nicht zwingend von der Rotorblattspitze ausgehen muss, sondern auch von der Mitte des Mastfußes aus berechnet werden kann, was § 249 Abs. 3 Satz 2 BauGB in der Fassung des Gesetzes vom 8. August 2020 (BGBl. I S. 1728) vorsieht. Diese Vorschrift trat erst am 14. August 2020 in Kraft und galt im Zeitpunkt des Erlasses des Zurückstellungsbescheides noch nicht. Sie enthält eine Ermächtigung für den Landesgesetzgeber, von der in Nordrhein-Westfalen bisher kein Gebrauch gemacht worden ist. Ob und ggf. mit welchem Inhalt dies künftig erfolgt und wie sich dies auf einen möglicherweise vorher beschlossenen Flächennutzungsplan auswirkt, ist gegenwärtig offen.
31Außerdem würde eine landesgesetzliche Einführung von Mindestabständen (nur) zur Entprivilegierung von Windenergievorhaben innerhalb der Abstandsflächen führen.
32Vgl. Grigoleit/Operhalsky/Strothe, UPR 2020, 321 ff. (unter B. III.).
33Vorhaben jenseits der Mindestabstände blieben privilegierte Vorhaben, könnten aber – wie bisher auch – durch Darstellungen von Konzentrationszonen im Flächennutzungsplan mit Ausschlusswirkung gesteuert werden. Solange der Windenergienutzung insgesamt substantieller Raum verbleibt und alle abwägungsrelevanten Belange angemessen berücksichtigt werden, dürfte es der Beigeladenen im Rahmen ihrer gemeindlichen Planungshoheit daher grundsätzlich freistehen, bei Aufstellung eines Flächennutzungsplans Vorsorgeabstände zwischen Windenergieanlagen und Wohnbebauung von der Rotorblattspitze aus zu berechnen. Anhaltspunkte dafür, dass die in einem anderen rechtlichen Zusammenhang stehende Regelung in § 249 Abs. 3 BauGB eine auch bei der Flächennutzungsplanung zu berücksichtigende zwingende Vorgabe zur Bemessung des Abstands enthalten könnte, sind nicht ersichtlich.
344. Die nur nach Maßgabe von § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich zu überprüfende Ermessensentscheidung des Antragsgegners zur Dauer der Zurückstellung, die Entscheidung über den Genehmigungsantrag elf Monate lang zurückstellen, lässt keine Ermessensfehler erkennen. Mit Blick auf die vorstehend dargestellte Komplexität des Aufstellungsverfahrens erscheint dieser Zeitraum, bei dessen Bemessung der Antragsgegner den Zeitraum für die Bearbeitung des Zurückstellungsantrags als faktische Zurückstellung berücksichtigt hat, erforderlich und verhältnismäßig.
35II. Ausgehend davon überwiegt das – im Übrigen auch vom Antragsgegner in dem angefochtenen Bescheid den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO entsprechend begründete – Interesse der Beigeladenen an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Würde das Vorhaben bereits jetzt genehmigt, könnte das eine nachhaltige Einengung der Planungsfreiheit zur Folge haben, die die Beigeladene nach der § 15 Abs. 3 BauGB zugrunde liegenden gesetzlichen Wertung vorerst nicht hinzunehmen hat.
36Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig. Diese hat sich durch Stellung eines Antrags im Verfahren erster Instanz und durch Einlegung der Beschwerde einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt.
37Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat bewertet die Bedeutung des die Zurückstellung des Genehmigungsantrags betreffenden Hauptsacheverfahrens mit 1 % der Investitionssumme (hier nach den Angaben der Antragstellerin: 2.850.000 Euro). Der sich danach ergebende Betrag ist im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahrens zu halbieren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
38Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. April 2018 ‑ 8 B 362/18 -, juris Rn. 35 f., m. w. N.
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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