Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 15 B 471/21
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,- Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
3die von ihm gebildeten Ratsausschüsse Haupt- und Finanzausschuss, Wahlprüfungsausschuss, Wahlausschuss, Rechnungsprüfungsausschuss, Betriebsausschuss, Umweltausschuss, Ausschuss für Familie, Soziales und Teilhabe, Ausschuss für Schule und Sport, Ausschuss für Stadtentwicklung und Liegenschaften, Ausschuss für Verkehr und Sicherheit, Ausschuss für Wirtschaft, Tourismus und Gesundheit aufzulösen und neu zu bilden.
4Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).
51. Die Beschwerde ist wirksam eingelegt worden. Der Bürgermeister konnte den Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners auch ohne vorherigen Beschluss des Rates Prozessvollmacht erteilen. Zwar folgt seine Zuständigkeit nicht aus § 63 Abs. 1 GO NRW, weil dort lediglich die Vertretung der Gemeinde geregelt ist. Die - im Außenverhältnis unbeschränkte - Vertretungsmacht des Bürgermeisters für den Rat als Gemeindeorgan ergibt sich aber aus § 40 Abs. 2 Satz 3 GO NRW, wonach dem Bürgermeister die Vertretung und Repräsentation des Rates obliegt. Dies schließt die Befugnis zur Erteilung einer Prozessvollmacht ein.
6Vgl. zum Verständnis des Begriffs „Vertretung“ als rechtliche Vertretung Küpper, NWVBl. 2001, 209, 211; Frenzen in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, Stand: 1. März 2021, § 40 GO NRW, Rn. 15.
7Im Übrigen wäre ein Mangel der Vollmacht jedenfalls durch den inzwischen am 15. April 2021 vom Rat gefassten Beschluss über die Beauftragung des Bürgermeisters zur Interessenswahrnehmung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geheilt. Ein Mangel der Vollmacht bei Einlegung eines Rechtsmittels kann auch nach Ablauf etwaiger Rechtsmittelfristen durch Genehmigung des Vertretenen mit rückwirkender Kraft geheilt werden, solange das Rechtsmittel - wie hier - noch nicht als unzulässig verworfen worden ist.
8Vgl. BVerwG, Zwischenurteil vom 21. Januar 2004- 6 A 1.04 -, juris Rn. 17; vgl. auch Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 17. April 1984 - GmS-OGB 2/83 -, juris Rn. 11.
92. Die Beschwerde ist unbegründet. Die vom Antragsgegner erhobenen Einwände, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.
10a) Die Rüge des Antragsgegners, die Antragstellerin sei schon nicht antragsbefugt, greift nicht durch. Eine Klage - bzw. ein Eilantrag - auf Feststellung des Bestehens eines organschaftlichen Rechtsverhältnisses innerhalb kommunaler Organe („kommunalverfassungsrechtliche Feststellungsklage“) ist in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch das Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden bzw. antragstellenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes wehrfähiges subjektives Organrecht handelt. Das gerichtliche Verfahren dient nicht der Feststellung der objektiven Rechtswidrigkeit eines Beschlusses oder einer anderweitigen Maßnahme, sondern dem Schutz der dem klagenden bzw. antragstellenden Organ oder Organteil durch das Innenrecht zugewiesenen Rechtsposition. Ob eine solche geschützte Rechtsposition besteht, ist durch Auslegung der jeweils einschlägigen Norm zu ermitteln.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2020 - 15 B 894/20 -, juris Rn. 6 f. m. w. N.
12Nach diesen Maßstäben ist die Antragstellerin antragsbefugt, weil sie eine Verletzung ihres Mitwirkungsrechts bei der Wahl der Ausschüsse nach § 50 Abs. 3 GO NRW geltend macht, das ihr als eigenes wehrfähiges subjektives Organrecht zusteht. Die Vorschrift ordnet für die Besetzung der Ratsausschüsse die Abstimmung in einem Wahlgang nach den Grundsätzen der Verhältniswahl an, wenn sich die Ratsmitglieder zur Besetzung der Ausschüsse nicht einstimmig auf einen einheitlichen Wahlvorschlag geeinigt haben. Unabhängig von der Frage, ob das Wahlrecht eines Ratsmitglieds generell auch das subjektive Recht auf Mitwirkung an einer den Regeln entsprechenden Wahl umfasst, sodass die Verletzung jedweder Vorschrift über das Wahlverfahren zugleich eine Verkürzung bzw. Beeinträchtigung körperschaftsinterner Mitwirkungsbefugnisse ist,
13in diese Richtung weisend OVG NRW, Beschluss vom 28. November 1991 - 15 B 3521/91 -, juris Rn. 15,
14liegt hier ein subjektives Organrecht jedenfalls deshalb vor, weil dem einzelnen Ratsmitglied eine Sperrminorität im Hinblick auf einen einheitlichen Wahlvorschlag und in der Folge das (aktive) Wahlrecht im Rahmen einer Verhältniswahl für die Besetzung der Ratsausschüsse zugewiesen wird.
15Zwar dienen die Vorschriften über das Wahlverfahren der Ausschüsse der Sicherstellung der Willensbildung innerhalb des Rates und dem Interesse seiner Fraktionen und Gruppen.
16Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Mai 2002 - 15 B 238/02 -, juris Rn. 20.
17Daraus ist aber nicht zu folgern, dass einem einzelnen Ratsmitglied grundsätzlich keine subjektiven Rechte im Hinblick auf die Einhaltung des Wahlverfahrens nach § 50 Abs. 3 GO NRW zustehen.
18So aber wohl Wagner, in: Kleerbaum/Palmen, Gemeindeordnung NRW, 3. Aufl. 2018, § 50, Ziffer VI. unter Verweis auf die vorgenannte Entscheidung.
19Denn insofern ist zwischen der Rüge der Verkürzung und Beeinträchtigung des Wahlrechts des Ratsmitglieds und der Rüge des Verstoßes gegen den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zu unterscheiden. Auch ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ist eine Verletzung des dem einzelnen Mitglied als wehrfähige Innenrechtsposition zugewiesenen Stimmrechts möglich. Deshalb ist es unerheblich, dass die Antragstellerin als einzelnes fraktionsloses Ratsmitglied nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit geltend machen kann, ihr stehe ein Sitz in einem Ratsausschuss zu.
20Vgl. zu diesem Erfordernis: OVG Saarl., Beschluss vom 7. März 2007 - 3 Q 146/06 -, juris Rn. 19 ff.
21Gleiches gilt für den Umstand, dass die Antragstellerin selbst nach § 50 Abs. 3 Satz 3 GO NRW nicht wahlvorschlagsberechtigt ist. Das Mitwirkungs- und Stimmrecht der Antragstellerin hängt nicht von dem Recht zur Einreichung eines Wahlvorschlags ab.
22b) Das Verwaltungsgericht hat auch einen Anordnungsanspruch der Antragstellerin bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung zutreffend bejaht. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn ein Erfolg in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist, das heißt, wenn der geltend gemachte materielle Anspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht.
23Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Mai 2021- 15 B 605/21 -, juris Rn. 6, und vom 30. April 2020- 15 B 606/20 -, juris Rn. 10.
24Dies ist hier der Fall.
25Die durchgeführte Wahl der Ausschüsse ist in rechtswidriger Weise und unter Verletzung der subjektiven Mitwirkungsrechte der Antragstellerin erfolgt. Das vom Antragsgegner durchgeführte Wahlverfahren, mit dem der mangels einstimmiger Beschlussfassung erfolglos gebliebene einheitliche Wahlvorschlag durch eine Fraktion erneut (unverändert) eingebracht und sodann über diesen alleinigen Wahlvorschlag im Rahmen eines Mehrheitsbeschlusses abgestimmt worden ist, widerspricht den Vorgaben des § 50 Abs. 3 Satz 2 GO NRW. Danach wird nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in einem Wahlgang abgestimmt, wenn ein einheitlicher Wahlvorschlag nicht zustande kommt. Dieses Verfahren erfordert mindestens einen weiteren Wahlvorschlag, wobei sich das Wahlrecht hier auf die Annahme oder Ablehnung nur eines Wahlvorschlags verkürzte und bereits deshalb keine Wahl nach den Grundsätzen einer Verhältniswahl stattgefunden hat.
26Der Begriff der „Verhältniswahl“ ist ein Rechtsbegriff des Bundesrechts. Er hat einen spezifisch umschriebenen Inhalt.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2003 - 8 C 16.02 -, juris Rn. 22.
28Die Verhältniswahl ist danach ein Wahlsystem, das darauf ausgerichtet ist, dass alle Wahlvorschläge in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Ihrer Struktur nach setzt die Verhältniswahl mehrere Wahlvorschläge (sog. Listen) für mindestens zwei in einem Wahlgang zu besetzende Ämter voraus.
29Vgl. BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 - 2 BvK 1/73 u. a. -, juris Rn. 55; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2003 - 8 C 16.02 -, juris Rn. 22.
30Schon begrifflich kann ansonsten eine Verteilung der zu besetzenden Ämter auf die Wahlvorschläge in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis nicht erfolgen.
31Vgl. StGH Hessen, Urteil vom 6. Januar 1971 - P. St. 589 -, BeckRS 9998, 61112.
32Diese Voraussetzungen liegen auch dem gesetzgeberischen Verständnis der „Grundsätze der Verhältniswahl“ in § 50 Abs. 3 Satz 2 GO NRW zugrunde. Das zeigt schon der Wortlaut der Norm, die unter Verwendung des Begriffs „Wahlvorschläge“ - im Plural - die Verteilung der Wahlstellen auf eben diese Wahlvorschläge regelt, was das Vorliegen von mehr als einem Wahlvorschlag voraussetzt. Die vom Gesetzgeber angeordnete Verhältniswahl entspricht auch insoweit dem dargelegten Begriffsverständnis, als bei der Wahl der Ausschussmitglieder stets mehr als zwei Ämter zu besetzen sind. Ein Ausschuss setzt eine Mehrzahl von Mitgliedern voraus.
33Vgl. für eine absolute Untergrenze von drei Mitgliedern: Kallerhoff, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, Stand: 1. März 2021, § 58 GO NRW, Rn. 16; zum Organisationsermessen des Rates bei der Bestimmung der Mitgliederzahl: OVG NRW, Urteil vom 24. November 2017 - 15 A2331/15 -, juris Rn. 62 ff.
34Die Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen enthält auch nicht die Regelung, dass im Falle des Vorliegens nur eines Wahlvorschlags dieser durch einfachen Mehrheitsbeschluss als angenommen gilt.
35So indessen für das rheinland-pfälzische Kommunalrecht: § 45 Abs. 1 Satz 2 GO Rh.-Pf.
36Die Verhältniswahl für die Besetzung der Ausschüsse bei Scheitern des einheitlichen Wahlvorschlags nach § 50 Abs. 3 Satz 1 GO NRW ist nach dem geltenden Gesetzesrecht stattdessen als ein zwingendes gesetzliches Gerechtigkeitsprinzip angeordnet. Für den Rat folgt daraus die Pflicht, seine Ausschüsse im Wege der Verhältniswahl zu wählen. Dies verdeutlicht auch der Wortlaut („wird“), der dem Rat keinen Entscheidungsspielraum über das Verfahren überlässt. Das Gesetz entzieht dieses Prinzip einer Verfügung durch die Ratsmehrheit.
37Vgl. OVG NRW, Urteil vom 3. November 1954 - III A 353/54 -, OVGE 10, 143, 146.
38Deshalb verfängt auch das Argument des Antragsgegners nicht, keine Fraktion könne verpflichtet werden, einen weiteren Wahlvorschlag einzubringen. Vielmehr sind die Fraktionen und Gruppen des Antragsgegners gehalten, zu einem gesetzeskonformen Wahlverfahren beizutragen.
39Die Gegenansicht, nach der bei Vorliegen nur eines Wahlvorschlages dieser jedenfalls dann angenommen sei, wenn er die Mehrheit der Stimmen erhalte,
40vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 9. Juli 2010 - 12 K 3599/09 -, juris Rn. 57 ff. zum gleichlautenden § 35 Abs. 3 KrO NRW,
41findet demgegenüber keine Stütze im Gesetz. Denn damit würde die gesetzliche Anordnung der Verhältniswahl und die schon einer einzelnen Gegenstimme zukommende gesetzliche Sperrwirkung für die Ausnahme des einheitlichen Wahlvorschlags unterlaufen und ihres Sinnes beraubt.
42Vgl. Rohde in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht NRW, Stand: 1. März 2021, § 50 GO NRW, Rn. 22.
43Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt auch zur Ungültigkeit der Wahl. Diese ist zu wiederholen. Die Gemeindeordnung enthält keine Regelung zur Rechtsfolge eines Verfahrensfehlers bei einer Wahl nach § 50 Abs. 3 GO NRW. Insoweit kann aber auf die zum Kommunalwahlrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden. Ein Verfahrensfehler, der für das Wahlergebnis ohne Bedeutung geblieben ist, kann die Ungültigkeit und die Wiederholung einer Wahl nicht rechtfertigen. Eine Wahl muss dann wiederholt werden, wenn bei ordnungsgemäßem Verlauf die „reale Möglichkeit“ eines anderen Wahlergebnisses bestanden hätte. Daran fehlt es nur dann, wenn nach der Lebenserfahrung und den konkreten Fallumständen Auswirkungen der Unregelmäßigkeit auf das Wahlergebnis praktisch so gut wie auszuschließen sind, ganz fernliegen, höchst unwahrscheinlich erscheinen oder sich gar als lebensfremd darstellen.
44Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 22. Februar 2016- 1 K 389/15 -, juris Rn. 43 unter Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 28. November 1991 - 15 B 3521/91 -, juris Rn. 16 ff.
45Dies zugrunde gelegt besteht vorliegend die reale Möglichkeit eines anderes Wahlergebnisses, wenn die Wahl ordnungsgemäß, also mit mindestens einem weiteren Wahlvorschlag, verlaufen wäre. Das verdeutlichen etwa die von der Antragstellerin in der Antragsschrift vom 17. Februar 2021 aufgestellten Vergleichsszenarien.
46Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
47Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Der Streitwertkatalog für die sieht für Kommunalverfassungsstreitigkeiten in Ziffer 22.7 einen Streitwert von 10.000,- Euro vor. Dieser Wert war hier nicht zu halbieren, da die Entscheidung in der Hauptsache durch das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorweggenommen wird.
48Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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