Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 8 B 994/21
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 20. Mai 2021 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. März 2021 ‑ 14 K 1015/21 - wird hinsichtlich deren Ziffer 1 wiederhergestellt und hinsichtlich deren Ziffer 2 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Gründe:
1Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Auf der Grundlage der von ihm fristgerecht dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist der angefochtene Beschluss zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. März 2021 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
2Es spricht nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand Überwiegendes dafür, dass die beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen anhängige Klage des Antragstellers ‑ 14 K 1015/21 - Erfolg haben wird (dazu 1.). Davon ausgehend fällt die im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung des Interesses des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung mit dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin zugunsten des Antragstellers aus (dazu 2.).
31. Die in Ziffer 1 der Ordnungsverfügung vom 1. März 2021 angeordnete Rückschnittverpflichtung ist voraussichtlich rechtswidrig. Der von der Antragsgegnerin zum Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Ordnungsverfügung ermittelte und dokumentierte Sachverhalt lässt eine rechtserhebliche Gefahr i. S. d. § 14 Abs. 1 OBG NRW i. V. m § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO - worauf diese die Anordnung zuletzt gestützt hat - nicht erkennen. Dies gilt nicht nur, wie bereits das Verwaltungsgericht mit zutreffender Begründung ausgeführt hat, bezüglich möglicherweise herunterfallender Äste oder einer Beeinträchtigung der Straßenbeleuchtung, sondern auch im Hinblick auf die ungehinderte Passierbarkeit der Straße. Die gegenteilige Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Straße für Kraftfahrzeuge „nicht mehr ohne Weiteres passierbar“ sei, wird in dem angegriffenen Beschluss nicht weiter erläutert. Auch die Antragsgegnerin belässt es insoweit in der im erstinstanzlichen Verfahren eingereichten Antragserwiderung bei der nicht weiter begründeten Behauptung, Rettungskräfte könnten das Grundstück „Im I. “ nicht oder nur unter erhöhtem Aufwand erreichen. Ihr diesbezüglicher Verweis auf die im Verwaltungsvorgang enthaltenen Lichtbilder reicht aber bereits mangels belastbarer Feststellungen zum konkreten Ausmaß des von den auf dem Grundstück des Antragstellers befindlichen Bäumen ausgehenden Überwuchses in den Straßenraum bzw. zur noch verbleibenden Straßenbreite nicht aus. Im Gegenteil legen die vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren mit Schriftsatz vom 19. Juli 2021 vorgelegten Lichtbilder nahe, dass im Bereich des hier in Rede stehenden Überwuchses eine Fahrbahnbreite von etwa drei Metern verbleibt, und dass dies auch tatsächlich ausreicht, um das Grundstück „Im I. “ mit Fahrzeugen zu erreichen, die - wie insbesondere Feuerwehrfahrzeuge - die allgemein höchstzulässige Breite von 2,55 m (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVZO) aufweisen.
4Vgl. Ziffer 2 der Muster-Richtlinien über Flächen für die Feuerwehr - Fassung Februar 2007 -, wonach die lichte Breite der Zu- oder Durchfahrten für die Feuerwehr mindestens 3 m, die lichte Höhe mindestens 3,5 m betragen muss; siehe auch Radeisen, in: Boeddinghaus/Hahn/Schulte u. a., Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, § 5 Rn. 16 (Stand der Kommentierung: 1. Juni 2019).
5Weitere konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahrenlage i. S. d. § 14 Abs. 1 OBG NRW i. V. m § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO wurden von der Antragsgegnerin nicht benannt. Es ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, dass die angeordnete Rückschnittverpflichtung aus anderen Gründen rechtmäßig wäre. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob eine Umdeutung der zunächst auf § 22 Satz 1 StrWG NRW gestützten Ordnungsverfügung hier überhaupt in Betracht kommt bzw. ob die Ausführungen in der Antragserwiderung als nachgeschobene Ermessenserwägungen berücksichtigt werden können,
6vgl. zu den hierfür maßgeblichen Anforderungen BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 46.12 -, juris Rn. 35; OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris Rn. 18,
7und ob die Beschwerdebegründung insoweit dem Darlegungserfordernis genügt.
8Ohne dass es vorliegend darauf ankäme, weist der Senat darauf hin, dass die hier streitgegenständliche Verfügung auch wegen mangelnder Bestimmtheit rechtswidrig sein dürfte. Hinreichende inhaltliche Bestimmtheit im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW setzt voraus, dass insbesondere für den Adressaten des Verwaltungsakts die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass er sein Verhalten danach richten kann. Es reicht aus, wenn sich die Regelung aus dem gesamten Inhalt des Bescheides, insbesondere seiner Begründung, sowie den weiteren den Beteiligten bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen unzweifelhaft erkennen lässt. Der Verwaltungsakt muss eine geeignete Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung bilden. Im Einzelnen richten sich die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden und mit dem Verwaltungsakt umzusetzenden materiellen Rechts.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2012 ‑ 7 VR 10.12 -, juris Rn. 10, und Urteil vom 20. April 2005 - 4 C 18.03 -, juris Rn. 53.
10Nach Maßgabe dieser Grundsätze dürfte die streitgegenständliche Verfügung nicht hinreichend bestimmt sein. Soweit dem Antragsteller aufgegeben wird, den Rückschnitt seiner Bepflanzung „derart vorzunehmen, dass der Straßenkörper und der Lichtkegel entlang des Beleuchtungskörpers […] frei von Überwuchs ist“, wird hierdurch das Ausmaß der aus Sicht der Antragsgegnerin notwenigen Arbeiten nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht. Es wird auch nicht durch den Begründungsteil der Verfügung konkretisiert. Dieser enthält zum Ausmaß des verlangten Rückschnitts nämlich keine näheren Ausführungen. Soweit das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf ein der Ordnungsverfügung vorangegangenes Schreiben der Antragsgegnerin an den Antragsteller vom 27. Januar 2021 von einer hinreichenden Bestimmtheit ausgeht, dürfte dem nicht zu folgen sein. Zwar werden in diesem Schreiben Mindesthöhen für die Rückschnittarbeiten an Gehwegen (2,30 m), Radwegen (2,50 m) und sonstigen Straßenbereichen (4,50 m) aufgeführt, die die Antragsgegnerin im Übrigen erkennbar für öffentlich gewidmete Straßen für erforderlich hält. Aus dieser Aufzählung geht aber nicht hinreichend klar hervor, in welcher Höhe der streitgegenständliche Weg freizuschneiden wäre. Dessen verkehrliche Klassifizierung als Gehweg, Radweg oder sonstiger Straßenbereich dürfte nämlich angesichts der konkreten Straßengestaltung nicht ohne Weiteres bestimmbar sein. Es hätte daher einer unzweideutigen Festlegung durch die Antragsgegnerin bedurft.
112. Ausgehend von der voraussichtlichen Rechtswidrigkeit der Rückschnittverpflichtung überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an deren sofortiger Umsetzung.
12Für eine sofortige Vollziehung der auf die Rückschnittverpflichtung bezogenen Androhung der Ersatzvornahme ist nach dem Vorstehenden kein Raum.
13Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
14Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich demnach an der sich aus dem Antrag für den Antragsteller ergebenden Bedeutung der Sache. Diese ist hier mit 1.000,- Euro zu beziffern, da eine Ersatzvornahme nach Angaben der Antragsgegnerin Kosten in dieser Höhe verursachen würde. Dieser Betrag ist wegen der Vorläufigkeit dieses Verfahrens auf die Hälfte zu reduzieren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013). Die angedrohte Ersatzvornahme bleibt bei der Streitwertbemessung außer Betracht (vgl. Nr. 1.7.2 Satz 1 des Streitwertkatalogs).
15Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO 2x (nicht zugeordnet)
- § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVZO 1x (nicht zugeordnet)
- § 22 Satz 1 StrWG 1x (nicht zugeordnet)
- 14 K 1015/21 1x (nicht zugeordnet)
- 14 K 1015/21 1x (nicht zugeordnet)
- 8 A 10/17 1x (nicht zugeordnet)