Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 1 B 1637/21
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf die Wertstufe bis 5.000,00 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.
3Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und den Antrag des Antragstellers abzulehnen,
4die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Entlassungsverfügung der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2021 wiederherzustellen.
5Zur Begründung der stattgebenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Die Entlassungsverfügung vom 29. Juni 2021 könne auf der Grundlage des bisher bekannten Sachverhalts nicht als offensichtlich rechtswidrig oder als offensichtlich rechtmäßig angesehen werden. Die Antragsgegnerin habe ihre Entscheidung, den Antragsteller zu entlassen, darauf gestützt, dass dieser von seinem früheren Kollegen T. das Video „Abfahrt“ angefordert und übermittelt erhalten und hierdurch angesichts des Inhalts dieses Videos begründete Zweifel an seiner charakterlichen Eignung für den Polizeivollzugsdienst hervorgerufen habe. Weitere Ermittlungen, die indessen zur Herstellung einer vollständigen und belastbaren Tatsachengrundlage für diese Wertung geboten seien, habe die Antragsgegnerin nicht angestellt. Das Ergebnis solcher Ermittlungen, die im Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens nachgeholt werden könnten, sei nicht absehbar.
6Die Antragsgegnerin stütze ihre erheblichen Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers für die Laufbahn eines Polizeivollzugsbeamten auf das von ihm gezeigte „Verhalten in der Zeit vom 24. Oktober 2018 bis zum 14. September 2020“. Diese Feststellung sei allerdings nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ersichtlich unzutreffend, da sich das dem Antragsteller vorgeworfene Verhalten auf den Austausch von Chat-Nachrichten am 23. März 2019 zwischen 23:45 Uhr und 23:47 Uhr beschränke. Insbesondere habe die Antragsgegnerin nicht ermittelt und festgestellt, dass der Antragsteller das erhaltene Video weiterverbreitet oder auch nur auf seinem Mobiltelefon oder anderenorts zum Zwecke einer weiteren Verwendung gespeichert (gehalten) habe. Sie habe auch nicht vorgetragen, dass der Antragsteller ansonsten während des von ihr bezeichneten Zeitraums im Kreis seiner Kollegen, bei Vorgesetzten oder Ausbildern durch Äußerungen, Gesten oder sonstige Verhaltensweisen aufgefallen wäre, die den Anschein eines Sympathisierens oder gar einer Identifikation mit den Zielen des Nationalsozialismus erweckt haben könnten und die es deshalb als zweifelhaft erscheinen ließen, dass der Antragsteller die Gewähr für ein jederzeitiges und uneingeschränktes Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung biete.
7Es spreche Überwiegendes dafür anzunehmen, dass das Anfordern, Empfangen und Ansehen des Videos als bisher allein bekanntes einmaliges Verhalten des Antragstellers (noch) keine ausreichende tragfähige Grundlage für Zweifel an dessen charakterlicher Eignung biete. Entsprechend der im Senatsbeschluss vom 9. August 2021 – 1 B 915/21 –, juris, betreffend das gegen den Antragsteller verhängte Verbot der Führung der Dienstgeschäfte könne dem Video eine eindeutige Aussage im Sinne einer Verherrlichung der nationalsozialistischen Herrschaft oder einer Verächtlichmachung der Opfer des Holocaust nicht beigemessen werden. Zu Unrecht meine die Antragsgegnerin, es sei nicht entscheidend, ob dieses Video eine eindeutige Verherrlichung der NS-Zeit beinhalte oder ob es sich als bewusst ambivalent dargestellte Propaganda klassifizieren lasse. Denn die Einordnung des Gehaltes des Videos im letztgenannten Sinne stelle für sich genommen keine hinreichend tragfähige Grundlage für die Einschätzung dazu dar, ob berechtigte Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers vorlägen oder nicht. Eine solche Einschätzung erfordere vielmehr eine berücksichtigende Einbeziehung der Umstände, unter denen der Antragsteller in den Besitz des Videos gelangt sei, und seines Verhaltens, nachdem er Kenntnis von dessen Inhalt erlangt habe.
8Nach bisherigem Kenntnisstand stehe lediglich fest, dass der Antragsteller Herrn T. im Rahmen des zu diesem bestehenden WhatsApp-Kontakts am 23. März 2019 um Übersendung des Videos „Abfahrt“ gebeten und dieses empfangen habe. Unklar sei, durch welche tatsächlichen Umstände der Antragsteller veranlasst worden sei, um Übermittlung des Videos zu bitten. Allein "durch das aktive Nachfragen und den damit verbundenen Austausch von Bildern bzw. einem Video mit fremdenfeindlichem Hintergrund und Darstellung verfassungswidriger Organisationen“ habe der Antragsteller entgegen der im angegriffenen Bescheid (Seite 4) vertretenen Ansicht nicht gegen seine Treuepflicht aus § 60 Abs. 1 Satz 3 BBG verstoßen. Der gegenteiligen Einschätzung der Antragsgegnerin liege die unzutreffende Annahme zugrunde, der Antragsteller habe im Zeitpunkt der Anforderung des Videos dessen Inhalt gekannt. Dies könne indessen – wie der Senat in seinem Beschluss vom 9. August 2021 – 1 B 915/21 –, juris, Rn. 21, ausgeführt habe – nicht angenommen werden.
9Ob die Antragsgegnerin sich innerhalb ihres Beurteilungs- und Ermessensspielraums halte, wenn sie darauf abhebe, dass bereits das bewusste Anfordern eines „problematischen Videos“ bzw. eines „als Verfassungsproblem erkannte(n) Videos“ ein pflichtwidriges Verhalten auch dann darstelle, wenn der betreffende Beamte kein Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sei, und die Antragsgegnerin bereits darin einen hinreichenden Anlass erblicke, berechtigte Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers zu hegen, erscheine ebenfalls zweifelhaft. Die Anforderung des dem Antragsteller nach seinem genauen Inhalt unbekannten, aber von ihm als problematisch erkannten Videos sei nach summarischer Bewertung für sich genommen nicht geeignet, den dienstpflichtwidrigen Anschein zu erzeugen, sich mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren oder auch nur mit ihm zu sympathisieren. Vielmehr erscheine es für die Beurteilung der Berechtigung bzw. Begründetheit solcher Zweifel unerlässlich, das Verhalten des Antragstellers in den Blick zu nehmen, das er nach Kenntnisnahme vom Inhalt des ihm zugänglich gemachten Videos gezeigt habe. Dieses Verhalten vermöge Aufschluss darüber zu geben, ob die durch die Anforderung des Videos ausgelösten anfänglichen Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers (die qualitativ in etwa mit einem ergebnisoffenen „Anfangsverdacht“ vergleichbar seien) sich als begründet erwiesen oder nicht. Zwar stehe nach dem Verhalten des Antragstellers die Möglichkeit im Raum, dass er sich mit rechtsstaatsfeindlichem Gedankengut identifiziere oder hierfür Sympathie aufbringe, solches billige oder eine mangelnde innere Bereitschaft aufweise, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Die Beurteilung, ob ein solcher als möglich im Raum stehender Befund tatsächlich vorliege oder nicht und ob – davon abhängig – die Wertung begründeter bzw. berechtigter Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers erfolgen könne oder nicht, erfordere eine breitere tatsächliche Grundlage als die des in Rede stehenden singulären Vorgangs des Anforderns und der Inaugenscheinnahme des besagten Videos. In dieser Hinsicht habe die Antragsgegnerin bisher keine tatsächlichen Ermittlungen angestellt oder Feststellungen getroffen.
10Selbst unterstellt, für die Annahme begründeter Zweifel an der charakterlichen Eignung genügte es, dass durch die Anforderung des besagten Videos der Anschein erzeugt worden sei, der Antragsteller hege Interesse an oder gar Sympathie für Gedankengut, das mit den Grundsätzen des freiheitlich-demokratisch verfassten Rechtsstaats nicht vereinbar sei, änderte dies nichts daran, dass dieser „Anschein“ qualitativ einem „Anfangsverdacht“ entspräche, der auf einer (noch) nicht hinreichend belastbaren Tatsachengrundlage beruhte. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass der dem vorliegenden Fall zugrunde liegende Sachverhalt nicht annähernd mit demjenigen vergleichbar sei, der dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Februar 2021 – 6 CS 21.111 – zugrunde liege, welchen die Antragsgegnerin zur Stützung ihrer Ansicht zitiere.
11Im Rahmen der notwendigen weiteren Aufklärung des Verhaltens des Antragstellers nach Erhalt und Kenntnisnahme des Videos werde namentlich zu ermitteln sein, ob er sich – wie vorgetragen – glaubhaft von dem Inhalt des Videos distanziert habe. In diesem Zusammenhang werde zum einen zu berücksichtigen sein, dass der WhatsApp-Chat zwischen dem Antragsteller und Herrn T. keine zustimmenden Äußerungen des Antragstellers enthalte. Zum anderen sei eine zeugenschaftliche Einvernahme des Herrn T. geboten, um zu ermitteln, ob die – von diesem soweit ersichtlich schriftlich bereits bestätigte – Behauptung des Antragstellers zutreffe, er habe sich diesem gegenüber vom Inhalt des Videos distanziert. Allein der Umstand, dass Herr T. kein unbeteiligter Zeuge des vorgetragenen Vier-Augen-Gesprächs gewesen sei und ein solcher unbeteiligter Zeuge nicht zur Verfügung stehe, gebe keinen berechtigten Anlass, von vorneherein auf eine Befragung des Herrn T. zu verzichten. Insbesondere könne nicht unbesehen davon ausgegangen werden, dass dessen Aussage wegen seiner Beteiligung an dem in Rede stehenden Vorgang nicht verwertbar wäre. Eine solche Annahme stelle eine unzulässige Vorwegnahme einer Beweiswürdigung dar. Überdies habe der Antragsteller vorgetragen, nicht nur Herrn T. sondern auch weiteren Kollegen gegenüber seine Abscheu und sein Unverständnis über das Video kundgetan zu haben. Zwar sei dieser Vortrag mangels Benennung dieser Kollegen bislang unsubstantiiert. Es erscheine jedoch angezeigt, den Antragsteller zu einer entsprechenden Mitwirkung anzuhalten, um seiner Behauptung nachzugehen. Zudem liegt es nahe zu prüfen, ob im Rahmen des gegen Herrn T. bei der Staatsanwaltschaft L. geführten Ermittlungsverfahrens dessen Einlassungen oder die des Antragstellers oder gegebenenfalls weiterer Zeugen Umstände offenbarten, die den Anschein einer Identifikation des Antragstellers mit rechtsstaatsfeindlichem Gedankengut, dessen Billigung oder auch nur einer geistigen Nähe hierzu in einer Weise verstärkten, dass Zweifel an seiner charakterlichen Eignung begründet seien, oder ob die betreffenden Einlassungen solche Anhaltspunkte nicht enthielten oder gar in eine gegenteilige Richtung wiesen.
12Da hiernach auf der Grundlage des bisher bekannten Sachverhalts weder von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit noch von einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides vom 29. Juni 2021 ausgegangen werden könne, bedürfe es einer von den Erfolgsaussichten des hiergegen erhobenen Widerspruchs unabhängigen Interessenabwägung. Diese gehe zugunsten des Antragstellers aus, weil die Folgen, denen er durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung seiner Entlassung ausgesetzt sei, im Falle des Erfolges in der Hauptsache schwerer wögen als die Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses, die sich bei einem Erfolg des vorliegenden Antrages und einem nachfolgenden Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren ergäben.
13In Bezug auf das öffentliche Interesse falle ins Gewicht, dass die Antragsgegnerin es dem Antragsteller bei einem Erfolg des Eilantrages ermöglichen müsse, seinen Vorbereitungsdienst fortzusetzen und – abhängig von der Dauer des Hauptsacheverfahrens – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Laufbahnprüfung abzulegen. Zudem werde sie den Antragsteller wieder alimentieren und hinnehmen müssen, einen Polizeikommissaranwärter weiter auszubilden und dienstlich zu verwenden, dessen (charakterliche) Eignung für den Polizeivollzugsdienst nach ihrer derzeitigen Einschätzung zweifelhaft sei.
14Hinsichtlich des privaten Interesses des Antragstellers sei von Belang, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Entlassung im dritten (letzten) Jahr seines Vorbereitungsdienstes befunden habe und sein Interesse an dessen Abschluss durch Ablegung der Laufbahnprüfung schon im Hinblick auf § 2 BPolBG i. V. m. § 37 Abs. 2 Satz 1 BBG so lange von besonderem Gewicht sei, wie nicht abschließend geklärt sei, ob seine Entlassung rechtfertigende Zweifel an seiner (charakterlichen) Eignung für den Polizeivollzugsdienst begründet seien oder nicht. Zugunsten des Antragstellers sei– auch in Ansehung von Art. 12 Abs. 1 GG – ferner zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit einer zeitnahen Fortsetzung seiner Ausbildung von wesentlicher Bedeutung sei. Verwehrte man dem Antragsteller für die Dauer des Widerspruchs- und eines möglicherweise anschließenden Klageverfahrens eine Weiterführung seiner Ausbildung und die Ablegung der Laufbahnprüfung, hätte dies voraussichtlich nicht unbeträchtliche Verluste der bisher erworbenen Kenntnisse und des erlernten Wissens zur Folge. Deren Wiedererlangung nach einem Erfolg in der Hauptsache bedeute neben der dann fortzusetzenden Ausbildung eine zusätzliche Belastung, die sich nachteilig auf den gesamten Ausbildungserfolg des Antragstellers und seine berufliche Perspektive auswirken könne.
15Eine Abwägung der beiderseitigen Interessen falle zugunsten des Antragstellers aus, weil das von einem Erfolg des Antrags betroffene öffentliche Interesse nicht in verhältnismäßig vergleichbarer Weise beeinträchtigt sei, wie das private Interesse des Antragstellers bei einer Ablehnung des Aussetzungsantrags. Insbesondere sei vor dem Hintergrund, dass über das Verhalten des Antragstellers seit der Anforderung des in Rede stehenden Videos keine Umstände aktenkundig geworden seien, die auf eine Bestätigung der von der Antragsgegnerin gehegten Zweifel an seiner charakterlichen Eignung hindeuteten, die Erwartung gerechtfertigt, dass eine weitere Verwendung des Antragstellers keine nachteiligen Auswirkungen für den inneren Dienst- und Ausbildungsbetrieb sowie die Erfüllung der Aufgaben des Polizeivollzugsdienstes zur Folge haben werde. Vielmehr sei zu erwarten, dass, der Antragsteller in der verbleibenden Anwärterzeit ein pflichtgemäßes, insbesondere ein seiner Treue- und Folgepflicht entsprechendes dienstliches und außerdienstliches Verhalten zeigen werde. Zudem sei nicht ersichtlich, dass die Achtung und das Vertrauen der Allgemeinheit in den Polizeivollzugsdienst durch eine weitere Verwendung des Antragstellers beeinträchtigt werden würden. Das der angegriffenen Entlassung zugrunde liegende Geschehen sei nicht öffentlich bekannt geworden. Zudem sei die Dauer des Dienstverhältnisses des Antragstellers vorerst gemäß § 2 BPolBG i. V. m. § 37 Abs. 2 Satz 2 BBG auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bestehens oder endgültigen Nichtbestehens der Laufbahnprüfung beschränkt. Über eine nach erfolgreicher Ablegung der Prüfung mögliche Einstellung des Antragstellers als Beamter auf Probe müsse zu gegebener Zeit gesondert entschieden werden.
16Das Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin zieht diese Argumentation nicht durchgreifend in Zweifel.
17Dies gilt zunächst soweit die Antragsgegnerin die Annahme des Verwaltungsgerichts rügt, die Entlassungsverfügung vom 29. Juni 2021 sei weder offensichtlich rechtswidrig noch offensichtlich rechtmäßig, da die Einschätzung betreffend die charakterliche Eignung des Antragstellers nicht auf hinreichend gesicherten tatsächlichen Feststellungen beruhe. Sie, die Antragsgegnerin, habe Erkenntnisse aus einem anderen gesetzlich geordneten Verfahren, hier dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft L. , beigezogen. Dieses Ermittlungsverfahren sei bislang nicht zum Abschluss gebracht worden. Ihre Einschätzung zur charakterlichen Eignung des Antragstellers beruhe daher nicht bloß auf einem „Anfangsverdacht". Weitere Ermittlungshandlungen seien vielmehr untunlich gewesen. Es sei gerade nicht unwahrscheinlich, dass eine Befragung des Herrn T. im Rahmen des Entlassungsverfahrens des Antragstellers den Ermittlungserfolg des Strafverfahrens beeinträchtigt hätte. Im Übrigen sei gegen diesen wegen der bis dato gewonnenen Erkenntnisse ebenfalls ein Entlassungsverfahren eingeleitet worden, sodass eine dienstliche Stellungnahme des Herrn T. wegen des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit höchst unwahrscheinlich gewesen wäre.
18Mit diesen Ausführungen benennt die Antragsgegnerin hingegen keine neu festgestellten Tatsachen, die ihre Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers untermauern könnten. Vielmehr beschränkt sich der Vortrag der Antragsgegnerin auf die Rechtfertigung, warum keine weiteren Ermittlungen durchgeführt worden sind. Aber auch unabhängig hiervon überzeugen diese Ausführungen nicht. Es erscheint nicht nachvollziehbar, dass schon eine Befragung des Herrn T. „untunlich“ sein soll. Es ist auch keineswegs ausgeschlossen, dass Herr T. im Rahmen einer solchen Befragung Auskunft zum weiteren Verhalten des Antragstellers geben würde, da dieses das Herrn T. vorgeworfene Verhalten lediglich im Randbereich tangiert.
19Das feststehende Verhalten des Antragstellers beschränkt sich daher weiterhin darauf, dass er das Video „Abfahrt“ über einen WhatsApp Chat von seinem damaligen Kollegen T. zu einem Zeitpunkt angefordert hat, zu dem der Antragsteller dessen genauen Inhalt nicht kannte. Nachdem er das Video angeschaut hatte, äußerte er sich über WhatsApp nicht zu dem Video und meldete Herrn T. auch nicht seinen Vorgesetzten. Dies erlaubt wie bereits im Senatsbeschluss vom 9. August 2021 – 1 B 915/21 –, juris, ausgeführt nicht den Schluss auf eine verfassungsfeindliche Einstellung des Antragstellers oder dessen mangelnde charakterliche Eignung. An dieser Einschätzung ist auch in Anbetracht des Beschwerdevorbringens festzuhalten.
20Einen solchen Schluss erlauben auch nicht die Gesamtumstände, auf die sich die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeschrift beruft. Hierzu führt sie aus, der Antragsteller habe keine plausible Erklärung darüber beizubringen vermocht, warum er unbedingt in den Besitz des Videos habe kommen wollen. Bis zuletzt habe er vorgetragen, die gelehrten Studieninhalte hätten ein gesteigertes historisches Interesse in ihm aufkommen lassen und seine Motivation zur Beschaffung des Videos befördert. Dieser Vortrag vertiefe ihre Eignungszweifel. Denn der Antragsteller habe das Video zu fortgeschrittener Stunde eines Samstags angefordert und regelrecht auf dessen Übersendung beharrt. Dass der Antragsteller sich im Nachgang des Erhalts und der Sichtung des Videos bewusst von dessen Inhalten im persönlichen Gespräch mit Herrn T. distanziert haben wolle, habe der Antragsteller erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt vorgetragen und sei insofern von der Motivation des historischen Interesses erheblich abgewichen.
21Dies überzeugt nicht. Es erschließt sich schon im Ansatz nicht, welche Bedeutung der Zeitpunkt oder die Tageszeit der Anforderung des Videos für das Bestehen oder Nichtbestehen eines historischen Interesses des Antragstellers haben sollte. Auch ist nicht nachvollziehbar, warum der Antragsteller dieses Motiv in Frage gestellt hätte, weil er erst später vorgetragen hat, sich in einem persönlichen Gespräch mit Herrn T. vom Inhalt des Videos distanziert zu haben. Zum einen kannte der Antragsteller den Inhalt des Videos bei dessen Anforderung noch nicht und konnte sich daher zu diesem Zeitpunkt hierzu weder zustimmend noch ablehnend äußern. Zum anderen spricht eine Distanzierung nicht gegen ein historisches Interesse des Antragstellers. Ein solches Interesse ist zunächst faktenorientiert und setzt nicht zwingend eine positive Konnotation der Thematik voraus. Ebenso wenig spricht gegen ein historisches Interesse des Antragstellers, dass sein Grundstudium bereits dezidierte Lehrveranstaltungen mit staatsrechtlichen und politischen Grundlagen rechtmäßigen Verwaltungshandelns im historischen Kontext bis hin zum europarechtlichen Bezug beinhaltet. Vielmehr könnten diese Unterrichtsinhalte das Interesse des Antragstellers gerade geweckt haben. Aber selbst wenn weniger historisches Interesse die Motivation des Antragstellers gewesen sein sollte als Neugier betreffend ein Video, über das im Kollegenkreis gesprochen wurde, weckt dies weder Zweifel am Bekenntnis des Antragstellers zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch den Anschein der Identifikation mit den Zielen des Nationalsozialismus.
22Zu Unrecht greift die Antragsgegnerin weiter die Auffassung des Verwaltungsgerichts an, dem Video könne keine eindeutige Aussage im Sinne einer Verherrlichung der nationalsozialistischen Herrschaft oder einer Verächtlichmachung der Opfer des Holocaust beigemessen werden. Diesbezüglich führt die Antragsgegnerin aus, diese Bewertung scheine sich an der Frage zu orientieren, inwieweit die in dem Video erkennbare Darstellung strafrechtlichen Unrechtsgehalt aufweise. Eine rein strafrechtliche Betrachtungsweise könne nicht allein entscheidend für die Frage sein, ob das Verhalten eines angehenden Polizeivollzugsbeamten bei seinem Dienstherrn Eignungszweifel aufkommen lasse. Ebenso wenig müsse (gemeint wohl: könne) es darauf ankommen, ob sich das gezeigte – auch einmalige – Verhalten eindeutig als Verfassungstreuepflichtverletzung identifizieren lasse. Aufgrund der Beschreibung des Videos durch die zuständige Kriminalbehörde im Strafverfahren sei davon auszugehen, dass das Video die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts zum Ziel habe. Der gezeigte Zusammenhang zwischen den alten Aufnahmen Adolf Hitlers sowie einem Zusammenschnitt von Darstellungen von Deportationszügen lasse nur den gedanklichen Schluss zu, dass im Rahmen des Videos der Abtransport der seinerzeit verfolgten jüdischen Bevölkerungsgruppe zu sehen sei. In diesem Zusammenhang sei hervorzuheben, dass die Beschreibung des Videoinhalts gerade nicht den Hinweis enthalte, dass die Person Adolf Hitlers parodistisch dargestellt bzw. der gezeigte Abtransport historisch-darstellend oder gar kritisch dem Zuschauer vermittelt werde. Vielmehr sei der Beschreibung, dass die Darstellung mit einem Techno-Beat sowie mit dem Wort „Abfahrt" hinterlegt worden sei, zu entnehmen, dass das Gezeigte gezielt den Eindruck einer Abneigung gegenüber der jüdischen Bevölkerungsgruppe erwecken solle. Aus Sicht der Opfer des Antisemitismus könne die Beschreibung des Videos lediglich als Verhöhnung empfunden werden. Allein die Betitelung mit dem Wort „Abfahrt“ sei für sich genommen bereits als abwertend einzuordnen. Somit sei der abwertende Gehalt des Videos dem Antragsteller bereits bei der Bitte um Übersendung bekannt gewesen.
23Auch in Anbetracht des Beschwerdevorbringens hält der Senat an seiner Auffassung fest,
24vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. August 2021– 1 B 915/21 –, juris, Rn. 19,
25dass dem Video eine eindeutige Aussage im Sinne einer Verherrlichung der NS-Herrschaft oder Verächtlichmachung der Opfer des Holocaust nicht entnommen werden kann. Eine solche ist insbesondere nicht in der Betitelung mit dem neutralen Wort „Abfahrt“ zu entnehmen, das sowohl auf das im Video wiederholt gesprochene Wort „Abfahrt“ als auch auf die fahrenden Züge Bezug nimmt. Der seitens der Antragsgegnerin dem Video entnommene Gehalt ist mit der gebotenen Eindeutigkeit weder den Filmsequenzen von Adolf Hitler eingangs des Videos noch den Darstellungen einer Deportation zu entnehmen. Auch wenn eine strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens nicht erforderlich ist, sind, sollen Zweifel an der Verfassungstreue eines Widerrufsbeamten zu dessen Entlassung führen, tatsächliche Umstände erforderlich, die mit hinreichender Sicherheit auf eine solche Gesinnung schließen lassen. Einen solchen Rückschluss lässt das Video aufgrund seiner Uneindeutigkeit nicht zu.
26Unabhängig hiervon ist das Video schon deshalb nicht geeignet, diese Zweifel entstehen zu lassen, weil der Antragsteller bei Anforderung des Videos dessen genauen Inhalt nicht kannte. Daher lässt dessen Anforderung allein nicht auf eine bestimmte Gesinnung des Antragstellers schließen. Dass der Antragsteller nach Inaugenscheinnahme des Videos diesem den seitens der Antragsgegnerin beigemessenen Inhalt entnommen und gebilligt hat, legt die Antragsgegnerin nicht dar und ist auch sonst nicht ersichtlich.
27Ferner greift die Rüge der Antragsgegnerin, das Verwaltungsgericht habe die Interessenabwägung zu Unrecht zu ihren Lasten gefällt, nicht durch. Diesbezüglich führt die Antragsgegnerin aus, das Verwaltungsgericht habe nicht beachtet, dass sie, die Antragsgegnerin, in Rahmen ihrer Ermessensentscheidung die besondere gesamtgesellschaftliche Verantwortung hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe mit jüdischen Wurzeln zwingend zu beachten habe. Weiterhin habe das Verwaltungsgericht nicht die beschränkende Wirkung von Ermittlungshandlungen der Antragsgegnerin vor dem Hintergrund laufender Strafverfahren in den Blick genommen. Auch sei es zumutbar, den Antragsteller auf die Hauptsacheentscheidung zu verweisen. Der 75. Studienjahrgang, dem der Antragsteller angehört habe, habe sein Studium bereits beendet. Die Mitstudierenden des Antragstellers seien zu Polizeikommissaren auf Probe ernannt worden. Der Antragsteller müsse daher zwingend in den Folgejahrgang eingegliedert werden. Dies sei beliebig möglich. Im Übrigen wäre eine Ernennung des Antragstellers zum Beamten auf Probe vor dem Hintergrund des streitbefangenen Sachverhalts auch bei Fortgang des Diplomstudiums sowie erfolgreichem Abschluss desselben höchst unwahrscheinlich gewesen. Das in Rede stehende Verhalten des Antragstellers stelle einen eklatanten Verstoß dar, der aufgrund seiner potentiell negativen Außenwirkungen auch bei Abschluss des Studiums wohl einer Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe entgegengestanden hätte. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass der Widerrufsbeamte in der Laufbahn des gehobenen Polizeivollzugsdienstes von Beginn an zur Verantwortungsübernahme mit Blick auf die spätere Verwendung als Führungskraft im operativen Bereich beschult werde.
28Diese Ausführungen rechtfertigen keine Interessenabwägung zugunsten der Antragsgegnerin. Auch ohne die besondere gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Antragsgegnerin hinsichtlich der Bevölkerung mit jüdischen Wurzeln ausdrücklich zu würdigen, hat das Verwaltungsgericht diesen Umstand hinreichend berücksichtigt. Insoweit hat es ausgeführt, dass mangels weiterer Vorfälle zu erwarten sei, dass die weitere Verwendung des Antragstellers keine nachteiligen Auswirkungen für den inneren Dienst- und Ausbildungsbetrieb haben werde. In der Sache bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass der Antragsteller auch gegenüber Angehörigen der vorgenannten Bevölkerungsgruppe seinen Dienst einwandfrei verrichten wird. Diese Prognose ist in Anbetracht dessen, dass der dem Antragsteller gemachte Vorwurf sich auf ein einmaliges Verhalten ohne unmittelbaren Dienstbezug stützt, nicht zu beanstanden.
29Auch der Umstand, dass der Studienjahrgang, dem der Antragsteller angehörte, sein Studium bereits abgeschlossen hat, rechtfertigt keine abweichende Interessenabwägung. Insbesondere ist ihm nicht deshalb ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache zumutbar. Das Beschwerdevorbringen berücksichtigt nicht hinreichend, dass der Antragsteller ohne die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die streitgegenständliche Entlassungsverfügung seinen Vorbereitungsdienst für einen längeren Zeitraum nicht fortsetzen könnte. Die damit verbundenen beruflichen Nachteile für den Antragsteller haben ein umso größeres Gewicht, als die mit dessen vorübergehender Weiterbeschäftigung für die Antragsgegnerin verbundenen nachteiligen Auswirkungen, insbesondere auf den Dienstbetrieb, gering sind. Zudem ist das Geschehen, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht und von der Antragsgegnerin unbeanstandet hingewiesen hat, nicht öffentlich bekannt geworden. Dass und ob es vom Zufall abhängt, ob der Inhalt von Messenger-Kommunikation Dritten gegenüber bekannt wird, ist insoweit nicht relevant.
30Ob eine Ernennung des Antragstellers zum Beamten auf Probe unwahrscheinlich ist, hat für die vorliegend in Rede stehende Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf geringeres Gewicht, da es vorliegend zunächst um den Abschluss des Vorbereitungsdienstes und die Ablegung der Laufbahnprüfung geht. Dies sieht § 2 BPolBG i. V. m. § 37 Abs. 2 Satz 1 BBG im Regelfall („soll“) auch im Falle einer Entlassung eines Widerrufsbeamten vor. Gründe, die ein Abweichen von dieser Regel rechtfertigen könnten, werden von der Antragsgegnerin nicht dargelegt und sind nach gegenwärtiger Sachlage auch nicht ersichtlich. Dementsprechend führt auch der Hinweis der Antragsgegnerin, Widerrufsbeamte wie der Antragsteller würden mit dem Ziel der Übernahme von Führungsaufgaben ausgebildet, nicht zu einer Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsgegnerin.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
32Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung (hier: 14. Oktober 2021) bekanntgemachten, für Beamtinnen und Beamte des Bundes geltenden Besoldungsrechts für das innegehabte Amt im Kalenderjahr der Beschwerdeerhebung zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG und wegen der im Eilverfahren nur begehrten vorläufigen Sicherung auf ein Viertel zu reduzieren. Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des innegehabten Amtes eines Anwärters im gehobenen Dienst für das maßgebliche Jahr 2021 auf 18.305,58 Euro (Januar, Februar und März 2021 jeweils ein Anwärtergrundbetrag in Höhe von 1.511,86 Euro, für die übrigen Monate jeweils i. H. v. 1.530,00 Euro). Die Division des o. g. Jahresbetrages mit dem Divisor 4 führt auf einen Wert von (aufgerundet) 4.576,40 Euro, der in die im Tenor festgesetzte Streitwertstufe fällt.
33Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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