Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 1 A 1609/20
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 35.961,24 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Der auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 5 VwGO gestützte Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3I. Das Verwaltungsgericht hat die gegen ihre Versetzung in den Ruhestand gerichtete Klage der Klägerin im Wesentlichen mit der folgenden Begründung abgelehnt: Der Zurruhesetzungsbescheid vom 15. Januar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2018 sei formell und materiell rechtmäßig. Insbesondere sei die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen ordnungsgemäß beteiligt worden. Die Klägerin sei im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids auch dauerhaft dienstunfähig und nicht anderweitig einsetzbar gewesen. Dies stehe fest aufgrund des Gutachtens der Amtsärztin Dr. F. -U. , das eine ausreichende Grundlage biete, die Dienstunfähigkeit festzustellen. Die Feststellungen und medizinischen Bewertungen der Amtsärztin seien aus sich heraus verständlich, nachvollziehbar, widerspruchsfrei und hinreichend detailliert begründet. Weder die Amtsärztin noch der zugezogene Facharzt seien befangen gewesen. Auch noch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides sei die Klägerin deutlich länger krankgeschrieben gewesen als in § 44 Abs. 1 Satz 2 BBG gefordert. Die Amtsärztin habe nachvollziehbar und in sich schlüssig ferner die Prognose getroffen, es habe keine Aussicht bestanden, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt sei. Dem stünden die im Klageverfahren vorgelegten Stellungnahmen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. vom 2. November 2018 und des Amtsarztes des Rhein-Sieg-Kreises Dr. E. vom 4. April 2019 und 19. September 2019 nicht entgegen. Zwar gehe Dr. C. in seiner Stellungnahme von einer vollen Dienstfähigkeit der Klägerin aus. Er widerspreche dieser Bewertung jedoch selbst durch seine dringende Empfehlung, eine Versetzung sowie eine Teilzeitreglung bzw. Telearbeit zu ermöglichen. Einen solchen Widerspruch wiesen die Stellungnahmen des Amtsarztes des Rhein-Sieg-Kreises Dr. E. nicht auf, wonach die Klägerin nur für eine Tätigkeit im Hauptzollamt L. dienstunfähig sei. Habe jedoch selbst im September 2019 noch keine volle Dienstfähigkeit der Klägerin vorgelegen, so sei die Prognose im amtsärztlichen Gutachten vom 9. Oktober 2017 für den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides zutreffend. Die Prüfung einer anderweitigen Beschäftigung der Klägerin habe die Beklagte nach den Feststellungen im amtsärztlichen Gutachten unterlassen dürfen. Danach sei es nicht möglich, die Klägerin mit reduzierter Arbeitszeit oder auf einem anderen Dienstposten zu beschäftigen. Die Amtsärztin habe dies nachvollziehbar damit begründet, dass die Eignung der Klägerin fehle, in den dienstlichen Alltag eingebunden zu werden. Soweit in den Stellungnahmen des Dr. C. und des Amtsarztes des Rhein-Sieg-Kreises Dr. E. eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit der Klägerin bejaht würde, seien diese Stellungnahmen erst nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides erstellt und hätten der Behörde zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht vorgelegen. Die Frage einer späteren Dienstfähigkeit der Klägerin stelle sich im Rahmen eines Reaktivierungsverfahrens nach § 46 BBG, das die Klägerin jederzeit beantragen könne. Es bestehe keine Veranlassung, zur Frage der Dienstfähigkeit der Klägerin ein Sachverständigengutachten einzuholen. Der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag habe abgelehnt werden können. Das Gutachten der Amtsärztin Dr. F. -U. könne den Zweck erfüllen, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen. Es dränge sich aus den oben dargelegten Gründen nicht die Notwendigkeit auf, ein weiteres Gutachten einzuholen.
4II. Die Berufung hiergegen ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. „Darlegen“ i. S. v. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Die Zulassungsbegründung soll es dem Oberverwaltungsgericht ermöglichen, die Zulassungsfrage allein auf ihrer Grundlage zu beurteilen, also ohne weitere aufwändige Ermittlungen.
5Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Juni 2019 – 1 A 1559/19 –, juris, Rn. 2, und vom 18. November 2010 – 1 A 185/09 –, juris, Rn. 16 f., m. w. N.; ferner etwa Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194, m. w N.
6Hiervon ausgehend rechtfertigt das – fristgerecht vorgelegte – Zulassungsvorbringen in dem Schriftsatz vom 4. August 2020 die begehrte Zulassung der Berufung aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe.
71. Die Berufung kann nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
8a) Die Klägerin trägt insoweit zunächst vor, schon die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Versetzung in den Ruhestand sei formell rechtmäßig, treffe nicht zu. Die Schwerbehindertenvertretung sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden, weil weder dargelegt noch ersichtlich oder vom Verwaltungsgericht ausgeführt worden sei, dass die von der Klägerin gegen die beabsichtigte Zurruhesetzung vorgebrachten Einwendungen der Schwerbehindertenvertretung zur Verfügung gestellt worden wären. Die Tatsache, dass die Klägerin von der Schwerbehindertenvertretung nicht persönlich angehört worden sei, lege nahe, dass dies nicht der Fall gewesen sei, weil ansonsten Kontakt mit der Klägerin aufgenommen worden wäre.
9Dieses Vorbringen greift nicht durch. Die Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung entsprach vielmehr den Vorgaben des § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (ab dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Danach hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören; er hat ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen. Die Unterrichtung muss nicht nur Angaben zu der Art der beabsichtigten Maßnahme und den hierfür maßgeblichen Erwägungen des Dienstherrn, sondern auch Angaben zu den Einwendungen der schwerbehinderten Beamtin umfassen, die dieser im Zusammenhang mit der beabsichtigten Entscheidung erhoben hat. Dabei erstreckt sich die Informationspflicht grundsätzlich auf alle relevanten Tatsachen, die dem Dienstherrn bis zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Sinne des § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bekannt werden. Auch nach einer bereits erfolgten Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ist der Dienstherr gehalten, nachträglich bekannt gewordene Umstände der Schwerbehindertenvertretung mitzuteilen, sofern sie erkennbar von Gewicht sind.
10Vgl. schon OVG NRW, Beschluss vom 15. März 2010 – 6 A 4435/06 –, juris, Rn. 59 ff. zu § 95 SGB IX a.F.; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 15. November 2017 – 4 S 26.17 – juris, Rn 8; Mushoff, in: Hauck/Noftz, SGB IX, Stand Dezember 2018, § 178 Rn. 53.
11Die örtliche Schwerbehindertenvertretung hatte vorliegend rechtzeitig Kenntnis von den Einwendungen im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 BBG, die die Klägerin unter dem 17. November 2017 gegen die beabsichtigte Versetzung in den Ruhestand erhoben hat. Den beigezogenen Verwaltungsvorgängen ist zu entnehmen, dass die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen beim Hauptzollamt L. unter dem 18. Dezember 2017 von der Absicht der Beklagten unterrichtet wurde, die Klägerin in den Ruhestand zu versetzen, und um Mitteilung gebeten wurde, ob insoweit Einwände bestehen. Dem Anhörungsschreiben vom 18. Dezember 2017 war eine Mehrausfertigung des Anschreibens der Beklagten an die Klägerin vom selben Tage beigefügt, in dem sowohl die Einwendungen der Klägerin als auch die Erwägungen der Beklagten aufgeführt sind. Die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen erklärte daraufhin mit Schreiben vom 8. Januar 2018, dass Einwände gegen die Zurruhesetzung der Klägerin nicht vorgebracht werden könnten.
12Es kommt vor diesem Hintergrund nicht darauf an, dass – eine Verletzung von Beteiligungsrechten der Schwerbehindertenvertretung unterstellt – ein derartiger Verfahrensverstoß keinen Aufhebungsanspruch gemäß § 46 VwVfG begründen würde, weil die Versetzung in den Ruhestand auf der Grundlage hinreichender amtsärztlicher Gutachten erfolgt ist und damit in der Sache keine andere Entscheidung hätte ergehen können.
13Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. November 2019– 2 C 24.18 –, juris, Rn. 3 ff.
14b) Auch die Rüge der Klägerin greift nicht durch, das Verwaltungsgericht habe auf der Grundlage des amtsärztlichen Gutachtens weder feststellen dürfen, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dienstunfähig gewesen sei und nicht die Aussicht bestanden habe, dass sie innerhalb weiterer sechs Monate wieder dienstfähig würde, noch dass sie nicht anderweitig habe verwendet werden können.
15aa) Die Klägerin macht insoweit zunächst geltend, das amtsärztliche Gutachten sei im maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr aktuell gewesen. Seit der mehr als 13 Monate vor dem relevanten Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung erfolgten amtsärztlichen Untersuchung habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin verbessert, was durch die fachärztliche Stellungnahme des Dr. C. vom 2. November 2018 nachgewiesen worden sei. Auch Dr. E. habe zuletzt unter dem 19. September 2019 ausgeführt, die Klägerin sei nur für den Bereich des Hauptzollamtes L. als dienstunfähig anzusehen, weil sie dort aufgrund des langjährigen Arbeitsplatzkonfliktes nicht wieder arbeiten könne. Auch für seine Annahme, es habe keine Aussicht bestanden, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder hergestellt werde, habe das Verwaltungsgericht die zwischenzeitlich erfolgte Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Klägerin nicht berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht habe nicht einfach die Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Klägerin ausblenden und auf Grundlage eines veralteten Gutachtens eine Prognoseentscheidung für einen Zeitraum treffen können, der erst am 11. März 2019, d. h. etwa eineinhalb Jahre nach der Untersuchung, geendet habe. Die Stellungnahme von Dr. C. ist auch nicht widersprüchlich. Er habe Dienstfähigkeit festgestellt. Die Empfehlung einer Versetzung sowie einer Teilzeit-/Telearbeit widerspreche dem nicht, weil es sich dabei nicht um die Feststellung handele, die Klägerin sei nur begrenzt dienstfähig. Die Empfehlung der Versetzung füge sich auch ein in die Feststellungen von Dr. E. , wonach die Klägerin zwar nicht im Hauptzollamt L. , jedoch bei der Generalzolldirektion L. arbeiten könne. Selbst dann, wenn man die Empfehlung einer Teilzeit/Telearbeit von Dr. C. zugrunde lege, sei zumindest eine begrenzte Dienstfähigkeit der Klägerin nachgewiesen. Soweit das Verwaltungsgericht ausgeführt habe, die Stellungnahmen von Dr. C. und Dr. E. seien erst nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides erstellt worden und hätten der Behörde zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht vorgelegen, sei dies irrelevant. Das Verwaltungsgericht sei verpflichtet, von Amts wegen festzustellen, dass die Klägerin am 11. September 2018 dienstunfähig gewesen sei. Dazu seien alle vorgelegten Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen zu berücksichtigen. Sie späteren Stellungnahmen lägen zeitlich deutlich näher am relevanten Zeitpunkt als das Gutachten und die Untersuchung von Dr. F. -U. .
16Mit diesem Vorbringen vermag die Klägerin die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage zu stellen, die Klägerin sei auch noch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2018 dienstunfähig und nicht anderweit verwendbar gewesen. Das Verwaltungsgericht durfte sich insoweit auf das amtsärztliche Gutachten vom 9. Oktober 2017 stützen. Dieses Gutachten bot auch bei Erlass des Widerspruchsbescheids noch eine tragfähige Grundlage, obwohl zwischen der (letzten) von der Amtsärztin veranlassten fachärztlichen Zusatzuntersuchung am 27. September 2017 und der letzten Behördenentscheidung am 11. September 2018 knapp ein Jahr lag. Entscheidend für die Verwertbarkeit einer amtsärztlichen Stellungnahme bei Erlass des Widerspruchsbescheides ist nicht in erster Linie das Datum ihrer Erstellung, sondern die Frage, ob es Umstände gibt, die unabhängig vom Zeitablauf geeignet sind, Zweifel daran zu wecken, dass die Stellungnahme den Gesundheitszustand der Beamtin zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides noch zutreffend wiedergibt.
17Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27. Februar 2020 – 4 S 807/19 –, juris, Rn. 28; auch OVG NRW, Beschluss vom 7. Januar 2021 – 1 A 1120/18 –, juris, Rn. 43 (Gutachten waren zwei bzw. gut ein Jahr alt).
18Solche Umstände lagen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 28. Mai 2020 auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens nicht vor.
19(1) Das Verwaltungsgericht hatte keinen Anlass zu der Annahme, dass die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BBG bei Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids entgegen der Feststellungen im amtsärztlichen Gutachten nicht mehr vorgelegen hätten. Danach ist eine Beamtin auf Lebenszeit in den Ruhestand zu versetzen, wenn sie wegen des körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung der Dienstpflichten dauernd unfähig (dienstunfähig) ist. Als dienstunfähig kann auch angesehen werden, wer infolge Erkrankung innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan, wenn keine Aussicht besteht, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt ist.
20Das Verwaltungsgericht hat zunächst zutreffend angenommen, dass die Klägerin auch noch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides als dienstunfähig angesehen werden konnte, weil sie innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat. Die Klägerin, die seit dem 4. November 2016 keinen Dienst getan hatte, hat noch bis zum 12. April 2019 weiter durchgehend Krankmeldungen wegen Dienstunfähigkeit vorgelegt. Danach hat sie nur deshalb von einer weiteren Vorlage solcher Bescheinigungen abgesehen, weil sie hierzu rechtlich nicht verpflichtet sei. Ihre Reaktivierung hat sie erst am Tag nach der mündlichen Verhandlung beantragt. Es fehlte im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ferner an Anhaltspunkten für die Annahme, die Prognose der Amtsärztin (und der Beklagten), es bestehe keine Aussicht, dass die Dienstfähigkeit innerhalb weiterer sechs Monate wieder voll hergestellt sei, sei im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides nicht mehr zutreffend gewesen. Weder die von der Klägerin vorgelegte fachärztliche Stellungnahme ihres behandelnden Arztes vom 2. November 2018 noch die von der Beklagten eingeholten amtsärztlichen Stellungnahmen vom 14. April 2019 und vom 19. September 2019 vermögen die Prognose bezogen auf diesen Zeitpunkt zu entkräften. In der Sache attestiert nämlich auch der die Klägerin behandelnde Facharzt wie der Amtsarzt Dr. E. im Jahr 2019 trotz der Wortwahl („ist von einer vollen Dienstfähigkeit …auszugehen“) nicht wie von § 44 Abs. 1 Satz 2 BBG gefordert eine uneingeschränkte Dienstfähigkeit der Klägerin, sondern lediglich eine teilweise – zweifelsfrei u. a. unter dem Vorbehalt einer Versetzung stehende – Dienstfähigkeit. Diese Auslegung wird durch den Vortrag der Klägerin schon im erstinstanzlichen Verfahren eindeutig bestätigt. Die Klägerin hat im Schriftsatz vom 17. Juli 2019 (Seite 9, Punkt 8.) erklärt, dass die bis zum 12. April 2019 durchgängig eingereichten Atteste gerade des behandelnden Facharztes sich „ausschließlich“ auf eine Dienstunfähigkeit beim Hauptzollamt L. bezogen haben. Die Behauptung der Klägerin in der Zulassungsbegründung, der behandelnde Facharzt habe am 2. November 2018 dagegen eine uneingeschränkte Dienstfähigkeit (d. h. auch für das Hauptzollamt L. ) attestieren wollen, ist daher nicht nachvollziehbar.
21(2) Die erstinstanzlich vorgelegten fach- und amtsärztlichen Stellungnahmen boten dem Verwaltungsgerichts auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin – anders als von der Amtsärztin in dem Gutachten vom 9. Oktober 2017 angenommen – im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 3 BBG jedenfalls teilweise (außerhalb des Hauptzollamtes L. ) wieder dienstfähig und anderweit verwendbar war. Die amtsärztlichen Stellungnahmen aus April und September 2019 beruhen auf einer erneuten Begutachtung der Klägerin am 4. April 2019. Sie verhalten sich daher ersichtlich nur zu der Sachlage im Zeitpunkt ihrer Erstellung und erlauben keinen Rückschluss auf die Sachlage im September 2018. Ein solcher Rückschluss kann aber auch nicht aus der fachärztlichen Stellungnahme vom 2. November 2018 gezogen werden. Anders als die Klägerin meint weist die fachärztliche Stellungnahme schon für den Zeitpunkt ihrer Erstellung nicht substantiiert nach, dass die Klägerin jedenfalls teilweise dienstfähig war. Der Facharzt setzt sich nämlich nicht im Ansatz mit den Feststellungen in dem amtsärztlichen Gutachten auseinander, die Klägerin sei grundsätzlich nicht geeignet, in den dienstlichen Alltag eingebunden zu werden, und es müsse im Rahmen der Nachbegutachtung geklärt werden, ob die Klägerin, entlastet von beruflichen Pflichten, eine so weitgehende Belastbarkeit erreichen könne, dass sie in den Dienst zurückkehren könne. Angesichts dieser Aussagen konnte der Schluss von einer suffizienten psychopsychischen Belastbarkeit (nur) im privaten Bereich auf eine entsprechende (jedenfalls an anderer Stelle gegebene) Belastbarkeit auch im dienstlichen Bereich nicht unmittelbar gezogen werden, sondern hätte einer vertieften Begründung bedurft, um das Gutachten vom 9. Oktober 2017 entkräften oder zumindest in Frage stellen zu können. Es fehlt zudem ungeachtet dessen an jeglichen Angaben zu dem konkreten Zeitpunkt, ab dem der als dynamisch beschriebene Gesundheitszustand der Klägerin sich derart gebessert haben soll, dass jedenfalls eine Dienstleistung an anderer Stelle möglich gewesen wäre. Die bloße zeitliche Nähe zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides reicht nicht aus, die Verbesserung schon für diesen Zeitpunkt zu belegen. Die Aussagen, der Zustand und „sicherlich“ die Belastbarkeit hätten sich „allmählich“ gebessert sowie „während der multimodalen Behandlung“ sei ein beschwerdefreier Zustand und eine suffiziente psychophysische Belastbarkeit erreicht worden, sind, weil zeitlich völlig unbestimmt, insoweit ebenfalls unergiebig.
22bb) Der Zulassungsvortrag der Klägerin, sie halte Dr. F. -U. und Dr. T. -T1. auch weiterhin für befangen, weil in keinem der (früheren) Entlassungsberichte die Rede von einer Zurruhesetzung gewesen sei, rechtfertigt ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Es ist schon nicht ersichtlich, wie und warum sich gerade aus dem genannten Umstand eine Besorgnis der Befangenheit der beiden Ärzte ergeben sollte. Der Klägerin war im Gegenteil bekannt, dass beide Ärzte sie zu ihrer Dienstfähigkeit und damit gerade im Zusammenhang mit der von der Beklagten angedachten Versetzung in den Ruhestand untersuchen sollten. Sie musste daher auch mit einem für sie ungünstigen Ergebnis rechnen. Eine irgendwie geartete Bindung der beiden Ärzte an frühere Entlassungsberichte bestand auch für die Klägerin erkennbar ganz offensichtlich nicht.
232. Die Berufung kann auch nicht § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zugelassen werden. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
24Die Klägerin macht insoweit geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht abgelehnt, entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag der Klägerin ein Sachverständigengutachten zu deren gesundheitlicher Situation zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides einzuholen. Eines Gutachtens bedürfe es immer dann, wenn das vorliegende amtsärztliche Gutachten nicht den ihm obliegenden Zweck erfüllen kann, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts notwendige Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die für die Entscheidung notwendige Überzeugungsbildung zu ermöglichen. In diesem Sinne könne ein amtsärztliches Gutachten für die Entscheidungsfindung des Gerichts ungeeignet oder jedenfalls unzureichend sein, wenn es nicht mehr hinreichend aktuell sei und demzufolge von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehe. Dies sei hier der Fall.
25Damit dringt die Klägerin nicht durch. Liegt – wie hier – bereits ein Gutachten vor, so steht es nach § 98 VwGO, §§ 404 Abs. 1, 412 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Verwaltungsgerichts, ob es zusätzliche Sachverständigengutachten einholt. Es kann sich dabei ohne Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO auf Gutachten oder gutachterliche Stellungnahmen stützen, die von der zuständigen Behörde im vorausgehenden Verwaltungsverfahren eingeholt worden sind. Das Verwaltungsgericht ist nur verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung eine weitere Sachaufklärung aufdrängen muss, d. h. wenn das vorhandene Gutachten nicht (hinreichend) geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den Nichtsachkundigen erkennbare (grobe) Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters gibt. Die Verpflichtung zur Einholung eines weiteren Gutachtens folgt hingegen nicht schon daraus, dass ein Beteiligter das vorliegende Gutachten als Erkenntnisquelle für unzureichend hält.
26St. Rspr. des BVerwG, etwa Beschluss vom 16. Mai 2018 – 2 B 12.18 –, juris, Rn. 9; auch: OVG NRW, Beschlüsse vom 15. November 2017 – 1 A 2597/16 –, juris, Rn. 27 f., vom 11. Dezember 2019 – 1 A 1815/17 –, juris, Rn. 13 f., und vom 22. April 2022 – 1 E 39/22 –, juris, Rn. 11 ff.
27Wie oben unter 2. dargelegt, hatte das Verwaltungsgericht weder mit Blick auf das Alter des amtsärztlichen Gutachtens vom 9. Oktober 2017 noch aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten fach- und amtsärztlichen Stellungnahmen Anlass, an der weiteren Verwertbarkeit des amtsärztlichen Gutachtens zu zweifeln. Es konnte daher davon absehen, den Sachverhalt weiter aufzuklären, und durfte auch eine weitere Beweiserhebung ablehnen.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
29Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 und 3 GKG. Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
30Das angefochtene Urteil ist nunmehr rechtskräftig, § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO.
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