Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 19 A 1090/22.A
Tenor
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
I. Der Prozesskostenhilfeantrag für das Verfahren zweiter Instanz ist unbegründet. Der Berufungszulassungsantrag hat aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
2II. Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
4Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.
5Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
6Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
7BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.
8Diese Anforderungen erfüllen die durch die Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Die Kläger halten für grundsätzlich bedeutsam die Fragen,
91. ob es für alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern ohne unterstützende Familien- und Sozialstrukturen angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation in Nigeria möglich ist, das Existenzminimum durch eigene Arbeit zu sichern,
102. ob es rechtlich zulässig ist, minderjährige nigerianische Staatsangehörige darauf zu verweisen, ihre mit ihnen zurückkehrende Mutter könne auch ohne soziales und familiäres Netzwerk in Nigeria ein ausreichendes Existenzminimum erwirtschaften und es sei insofern zumutbar, sich in Nigeria niederzulassen,
113. ob die dargestellte gerichtliche Erwartung an das Verhalten der Kläger bei Rückkehr nach Nigeria mit ihren Grundrechten aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 und Art. 6 GG sowie den Normen der UN-Kinderrechtskonvention vereinbar ist.
12Die Fragen zu 1. und 2. im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Nigeria sind – soweit sie überhaupt in generalisierender Weise klärungsfähig sind – nicht mehr klärungsbedürftig, weil sie in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt sind. Der Senat hat auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie festgestellt, dass grundsätzlich auch alleinstehende Frauen mit Kleinkindern ohne unterstützende Familien- und Sozialstrukturen am Ort ihres Aufenthalts das Existenzminimum durch eigene Arbeit sichern können, wobei nicht verkannt wird, dass die bereits allgemein schwierige soziale und ökonomische Lage für diese Personen prekär ist.
13OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2021 ‑ 19 A 4604/19.A ‑, juris, Rn. 65 bis 67.
14Einer weiteren Klärung dieser generalisierenden Tatsachenfeststellungen bedarf es nicht. Der Senat hat ausdrücklich festgestellt, dass jeweils die individuellen Umstände zu berücksichtigen sind, wobei Bildung, berufliche Fähigkeiten, die familiäre und psychologische Situation, der ökonomische Status und etwaige Kontakte in Nigeria von Bedeutung sein können.
15OVG NRW, Urteile vom 22. Juni 2021 ‑ 19 A 4386/19.A ‑, juris, und vom 18. Mai 2021, a. a. O., jeweils Rn. 67.
16Ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall bei der Prüfung etwa der Möglichkeit und Zumutbarkeit internen Schutzes (§ 3e AsylG) im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes, oder auch bei der Prüfung von Abschiebungsverboten vorliegen, ist eine Frage der Rechtsanwendung im Einzelfall. Nach diesem Maßstab steht die ausdrücklich einzelfallbezogene Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots an eine alleinstehende nigerianische Schwangere und Mutter von bereits zwei kleinen Kindern durch das VG Osnabrück, Urteil vom 20. August 2020 ‑ 4 A 304/17 ‑, juris, Rn. 35 ff., 45 ff., auf welche die Kläger sich berufen, in keinem Widerspruch zum angefochtenen Urteil. Der Zulassungsantrag ergibt keinen erneuten oder weitergehenden Klärungsbedarf in Bezug auf diese Tatsachenfeststellungen. Zum Teil bezieht sich der Zulassungsantrag nur auf Quellen, die angesichts der aktuellen – auch vom Verwaltungsgericht zitierten – Rechtsprechung des Senats überholt sind. Zum Teil führt er Medienberichte an, die sich mit den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Versorgungslage in Afrika beschäftigen. Ein konkreter Bezug zur spezifischen Situation in Nigeria wird hierin jedoch nicht hergestellt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Inwiefern insoweit das Verwaltungsgericht die Pflicht zur gleichsam „tagesaktuellen“ Erfassung und Bewertung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage,
17vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 9. Februar 2021 ‑ 2 BvQ 8/21 ‑, BayVBl. 2021, 340, juris, Rn. 7, und vom 25. April 2018 ‑ 2 BvR 2435/17 ‑, NVwZ 2018, 1563, juris, Rn. 34,
18nicht beachtet haben könnte, zeigt der Zulassungsantrag nicht substantiiert auf.
19Unabhängig davon unterlassen die Kläger jegliche Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnissen insbesondere zu den verfügbaren Unterstützungsprogrammen und Starthilfen in Nigeria, wie auch mit den individuellen Feststellungen zur Fähigkeit der Klägerin zu 1., allein für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt sicherzustellen.
20Auch die Frage zu 3. führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Sie zielt allein auf die konkrete Rechtsanwendung im Einzelfall, ohne dass ihre generalisierende Klärungsfähigkeit oder auch -bedürftigkeit aufgezeigt wird. Auch aus dem diesbezüglichen Zulassungsvorbringen (S. 6 bis 9 des Zulassungsantrags) ergibt sich, dass die Kläger in der Sache die aus ihrer Sicht unzutreffende einzelfallbezogene Bewertung des Verwaltungsgerichts rügen, einer Abschiebung nach Nigeria stehe der im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu beachtende Art. 3 EMRK nicht entgegen. Letztlich wenden sich die Kläger damit nur gegen eine ihr Asylverfahren betreffende vermeintlich fehlerhafte Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Im Berufungszulassungsverfahren ist jedoch im Regelfall – und so auch hier – kein Raum, diese im Einzelfall zu überprüfen.
21Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
22Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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