Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 17 B 605/22
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.250,00 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
3Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder aufzuheben.
4I. Die Beschwerde wendet sich gegen die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 verfügte Abschiebungsandrohung sei rechtmäßig. Dieser Annahme liegt die Erwägung zugrunde, der Antragsteller sei gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die angeordnete Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 8 K 4282/21 (VG Gelsenkirchen) gegen die Ausweisungsverfügung der Antrags-gegnerin vom 20. Oktober 2021 lasse die Wirksamkeit der Ausweisung des Antragstellers, zu dessen Gunsten auch ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 unterstellt werde, gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt. Die Ausweisung sei unter Gesamtabwägung der Interessen rechtmäßig erfolgt mit der Folge, dass die in der Vergangenheit erlassene Niederlassungserlaubnis des Antragstellers nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erloschen sei. Im Übrigen erweise sich die verfügte Ausweisung als offensichtlich rechtmäßig.
5Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch.
61. Die Beschwerde wendet ein, die Vorschrift des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG finde wegen der Stillhalteklauseln im Assoziationsrecht EU-Türkei für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Anwendung. Die Bestimmung stelle eine Verschlechterung beim Aufenthaltsrecht dar, die nach Inkrafttreten der europarechtlichen Normen in das deutsche Gesetz aufgenommen worden sei (so auch: VG Darmstadt, Beschluss vom 08. Februar 2010 ‑ 5 L 1833/09.DA ‑). Maßgeblicher Bezugspunkt sei Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80 vom 01. Dezember 1980. Zu diesem Zeitpunkt habe noch das Ausländergesetz vom 28. April 1965 gegolten, das keine mit § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bzw. mit dem wortgleichen Vorgänger § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG vergleichbare Regelung gekannt habe. Daher sei der Aufenthalt des Antragstellers nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage weiterhin rechtmäßig mit der Folge, dass es an einer Ausreisepflicht fehle und eine Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden könne.
7Diesem Vorbringen ist nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht zu folgen.
8Der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in den Fällen, in denen eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringt, stehen assoziationsrechtliche „Stand-still-Klauseln“ nicht entgegen. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG enthält keine „neuen Beschränkungen“ oder „neuen Hindernisse“. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und auch der vorausgegangene, durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 09. Juli 1990 eingefügte inhaltsgleiche § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG zeichnen nur einen bereits zuvor bestehenden Rechtszustand nach, und sind nichts anderes als eine gesetzliche Formulierung der damals in der Praxis der Gerichte ohnehin schon herrschenden Vollziehbarkeitstheorie. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt seit den 1950er Jahren im Grundsatz unverändert die Auffassung, dass die aufschiebende Wirkung einer Anfechtung nicht die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts oder das Inkrafttreten der durch ihn getroffenen Regelung beseitigt, vielmehr der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nur nicht vollzogen werden darf (sog. Vollziehbarkeitstheorie).
9vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Januar 2021 ‑ 3 ME 355/20 ‑, juris, Rn. 22 ff., m. w. N.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. November 2020 ‑ 11 S 2328/10 , juris, Rn. 15;
10a. A: VG Darmstadt, Beschluss vom 08. Februar 2010 ‑ 5 L 1833/09.DA ‑, juris, Rn. 9 f.,
11Die Beschwerde moniert ferner, der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG stehe in den Fällen, in denen wie hier eine Ausweisung ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zum Erlöschen bringe, der europarechtliche Grundsatz des „effet utile“ entgegen.
12Auch dieser Einwand greift nicht durch.
13Zwar wird gegen eine Anwendbarkeit des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, im Falle einer Ausweisung aus unionsrechtlicher Sicht eingewandt, dass es sich verbiete, im Zusammenhang mit einer nicht bestandskräftigen Ausweisung einen schematischen und pauschalen, sofort wirksamen Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts anzuerkennen, der keine Rechtfertigung im konkreten Einzelfall habe. Die Mitgliedstaaten seien nicht befugt, das dem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar durch das Unionsrecht verliehene Recht auf Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit und das hiermit korrespondierende Recht, sich zu diesem Zweck im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, in der Weise zu beschränken, dass eine Einzelfallprüfung nicht gewährleistet ist.
14Vgl. Funke/Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand der Bearbeitung: Juli 2022, § 84, Rn. 89.
15Indes ist unabhängig von der Frage, ob die neu gefassten §§ 53 bis 56 AufenthG und die auf dieser Rechtsgrundlage zu treffende Ausweisungsentscheidung nicht bereits eine Einzelfallprüfung gewährleisten, weil sie von einem umfassenden ergebnisoffenen Abwägungsprozess geprägt sind, in dem sämtliche Ausweisungs- und Bleibeinteressen angemessen zu berücksichtigen sind,
16vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Januar 2021 ‑ 3 ME 355/20 ‑, juris, Rn. 18 ff.,
17die nach der erstgenannten Ansicht für erforderlich gehaltene Einzelfallprüfung jedenfalls im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolgt.
18Die zuständige Ausländerbehörde hat es in der Hand, bei Vorliegen der hierfür notwendigen Voraussetzungen die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO aufgrund besonderer öffentlicher Interessen im Einzelfall anzuordnen. Insoweit ist dann auch die Einzelfallprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährleistet. Denn hierbei kommt es maßgeblich auf die materiell-rechtliche Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ausweisung vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 an.
19Vgl. Funke/Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand der Bearbeitung: Juli 2022, § 84, Rn. 89; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. November 2020 ‑ 11 S 2328/10 , juris, Rn. 12.
20So liegt der Fall hier.
21Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 20. Oktober 2021 die sofortige Vollziehung der verfügten Ausweisung des Antragstellers angeordnet. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 4282/21 (VG Gelsenkirchen) gegen die Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin mit der Begründung wiederhergestellt, die Antragsgegnerin habe die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügenden Weise begründet. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen im Rahmen einer an den Umständen des Einzelfalls orientierten Prüfung die (offensichtliche) materielle Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vom 20. Oktober 2021 bejaht. Der Beschwerde ist nicht konkret zu entnehmen, dass und warum diese Einzelfallprüfung unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügen sollte.
222. Namentlich greifen die Einwände der Beschwerde gegen die vom Verwaltungsgericht angenommene (offensichtliche) materielle Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung nicht durch.
23Die Beschwerde moniert, es fehle an einer von dem (straffällig gewordenen) Antragsteller ausgehenden Wiederholungsgefahr. Aus den Strafverurteilungen des Antragstellers dürfe nicht vorschnell der Schluss auf eine zukünftige Gefährdung geschlossen werden. Die Ausweisung diene der Vorbeugung künftiger Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, so dass im Rahmen der anzustellenden Gefahrenprognose in der Vergangenheit begangene Straftaten nur einen Teil der Wahrscheinlichkeitsfeststellung darstellten. An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts seien umso geringere Ansprüche zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden sei. Eine solche Prognose müsse aber eine Stütze in der Persönlichkeitsstruktur des Ausländers haben. Es sei somit auch die Persönlichkeitsentwicklung nach der Strafhaft zu berücksichtigen. Der Antragsteller habe sich in der JVA in der Absicht in Therapie begeben, an seiner Persönlichkeitsstruktur und an seinem Sozialverhalten im Nachgang der Tat zu arbeiten.
24Dieses Monitum verfängt nicht.
25Das Verwaltungsgericht ist unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 entscheidungstragend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der §§ 53 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG vorliegen. Es hat angenommen, vor dem Hintergrund dessen, dass der Antragsteller vom Landgericht F. mit rechtskräftigem Urteil vom 07. Februar 2020 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden sei, die er seit dem 22. Februar 2021 verbüße, sei auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung bis heute eine neuerliche Delinquenz des Antragstellers nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Von dem Antragsteller drohe insbesondere die konkrete Gefahr, mit der sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit Rechtsgüter von hoher Sensibilität und besonderer Tragweite zu verletzen und durch eine tiefgreifende Traumatisierung den weiteren Lebensweg seiner Opfer nachhaltig (negativ) zu prägen.
26Dieser Annahme tritt die Beschwerde nicht durchgreifend entgegen.
27Allein der Umstand, dass der Antragsteller nunmehr in seiner Tätigkeit in der Bibliothek in der JVA in eine leitende Funktion berufen worden sein soll und sich in eine Therapie begeben hat, sagt noch nichts über eine nachhaltige Auseinandersetzung des Antragstellers mit der Tat und den Folgen für sein (Vergewaltigungs-) Opfer aus. Entsprechendes lässt sich auch weder dem „Kurzbericht zur Probatorik“ vom 27. Juni 2021 noch dem „Zwischenbericht zur Behandlung“ vom 28. Februar 2022 entnehmen. Im Gegenteil kommen die beiden (knappen) Berichte unter „Störungsbild“ zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller dissoziale Persönlichkeitszüge und eine kognitive Einengung auf die „Frau als Sexualobjekt“ aufweise.
28Die Beschwerde wendet ferner ein, das Verwaltungsgericht habe die gesteigerten Anforderungen an die Ausweisung eines Assoziationsberechtigten verkannt. Insoweit bedürfe es gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG einer schwerwiegenden Gefahr, die eine Ausweisung unerlässlich mache. Dies sei hier indes nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hätte in Betracht ziehen müssen, dass einer Wiederholungsgefahr in der gleichen Weise begegnet werden könne, wie dies bei Straftätern mit deutscher Staatsangehörigkeit nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe der Fall sei.
29Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen, weil das Verwaltungsgericht mit der Bezugnahme auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 (vgl. Seite 12) eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG angenommen hat. Die Beschwerde zeigt nicht konkret auf, dass und warum diese Annahme unzutreffend sein sollte. Das Monitum einer fehlenden Gleichbehandlung des (inhaftierten) Antragstellers mit Straftätern deutscher Staatsangehörigkeit, die ihre Freiheitsstrafe verbüßt hätten, bleibt unverständlich.
30Die Beschwerde macht ferner geltend, für den Antragsteller bestehe auch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, da er bis zu seiner Inhaftierung mit seiner Mutter in einer familiären Lebensgemeinschaft gelebt und diese gepflegt habe. Die gehbehinderte Mutter sei auf seine Hilfe auch angewiesen, da seine Schwester mit der Pflege überfordert sei.
31Auch dieser Einwand verfängt nicht. Er stellt die Rechtmäßigkeit der Interessenabwägung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht durchgreifend in Frage. Unabhängig davon, ob die Antragsgegnerin zu Recht einen Fall des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG verneint hat, woran angesichts des Umstands, dass der Antragsteller bis zu seiner Inhaftierung mit seiner Mutter, einer deutschen Staatsangehörigen, in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hat, Zweifel bestehen könnten, hat die Antragsgegnerin im Ergebnis zutreffend (allein) dem Umstand des Zusammenlebens kein überragendes Gewicht beigemessen.
32Dem Verhältnis von Eltern zu erwachsenen Kindern darf regelmäßig ein geringeres Gewicht beigemessen werden als dem Verhältnis von Eltern zu minderjährigen Kindern. Bei Volljährigkeit eines Kindes fehlt es, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für eine besondere Beistandsgemeinschaft vorliegen, am Fortbestand einer schützenswerten familiären Lebensgemeinschaft. Die nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft schützt die Familie in erster Linie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Eine Familie als verantwortliche Elternschaft wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt. Mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes treten Verantwortlichkeit und Sorgerecht der Eltern zurück. Die Lebensgemeinschaft kann dadurch zur bloßen Haus- bzw. Begegnungsgemeinschaft werden. Maßgebend für
33die Schutzwürdigkeit des Zusammenlebens von erwachsenen Familienangehörigen in einem Haushalt ist vor allem das Maß des Angewiesenseins auf die Lebenshilfe, die durch die Familie ihrer Funktion gemäß gewährt wird. Bei einer Hausgemeinschaft zwischen erwachsenen Familienangehörigen ergeben sich daher nur dann weitergehende Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG, wenn ein Familienmitglied auf wesentliche Lebenshilfe angewiesen ist und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe im Sinne einer besonderen Beistandsgemeinschaft tatsächlich regelmäßig erbringt.
34Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Februar 2022 ‑ 2 O 164/21 ‑, juris, Rn. 38 ff., m. w. N.
35Hiervon ausgehend ist dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen, aufgrund welcher besonderen Umstände der Antragsteller und seine Mutter auf gegenseitigen Beistand angewiesen sein sollten. Die Beschwerde legt nicht ansatzweise substantiiert dar geschweige denn legt belastbare Nachweise dazu vor, welcher konkrete Pflegebedarf bei der Mutter des Antragstellers bestehen soll und mit welchen konkreten Betreuungsleistungen er diesem jedenfalls bis zu seiner Inhaftierung begegnet sein will.
36Die Beschwerde wendet zudem ein, die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen sei fehlerhaft. Das Verwaltungsgericht nehme zwar eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung an, stelle dieser jedoch entgegen, dass der Antragsteller aufgrund der von ihm begangenen Straftat selbst für die Trennung verantwortlich sei. Indes sei das Umgangsrecht auch ein Recht des Kindes. Durch § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG werde sichergestellt, dass gerade dieses Recht auch im Rahmen einer Ausweisung berücksichtigt werde.
37Dieses Vorbringen verfängt nicht. Es übergeht, dass die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 gewürdigt hat, dass der Antragsteller Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ist, indes ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG mit der Begründung verneint hat, das Kind J. lebe mit der Mutter in T. und eine Teilung des Sorgerechts sei nicht nachgewiesen. Der Antragsteller übe derzeit ‑ seit seiner Inhaftierung ‑ kein Umgangsrecht mit seinem Sohn aus.
38Hiermit setzt sich die Beschwerde nicht substantiiert auseinander, sondern ergeht sich in allgemeinen Ausführungen zum Schutz familiärer Beziehungen bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen. Soweit die Beschwerde unter Berufung auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK allgemein geltend macht, der Sohn des Antragstellers habe als deutscher Staatsangehöriger einen Anspruch darauf, mit seinem Vater im Bundesgebiet eine familiäre Beziehung zu führen und ein regelmäßiger Kontakt sei für die Entwicklung des Kindes erforderlich, übergeht sie, dass die Antragsgegnerin diesen Umstand in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 bereits berücksichtigt und mit Blick auf den gelebten Umgang des Antragstellers mit seinem Kind bis zu seiner Inhaftierung ein schwerwiegendes Bleibeinteresse des Antragstellers gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG angenommen hat. Die Antragsgegnerin hat (auch) dieses schwerwiegende Bleibeinteresse im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung gewürdigt. Sie ist indes zu dem Ergebnis gelangt, dass die (schwerwiegenden bzw. besonders schwerwiegenden) Bleibeinteressen des Antragstellers hinter dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse zurücktreten. Die Beschwerde, die insoweit einseitig den Aspekt der Vater-Sohn-Beziehung betont, legt nicht konkret dar, dass und warum sich die Abwägungsentscheidung der Antragsgegnerin insgesamt als fehlerhaft erweisen sollte.
39Der allgemeine Einwand, das Verwaltungsgericht habe die tiefe Verwurzelung des Antragstellers in der Bundesrepublik und den daraus folgenden Schutz des Art. 8 EMRK nicht ausreichend berücksichtigt, verfängt nicht. Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid vom 20. Oktober 2021 bereits berücksichtigt, dass der Antragsteller in der Bundesrepublik verwurzelt sei, ihn diese Verwurzelung indes nicht an der Begehung von Straftaten gehindert habe. Dem weiteren Monitum der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe die wirtschaftliche Integration des Antragstellers unzureichend berücksichtigt, ist ebenfalls nicht zu folgen. Sowohl die Antragsgegnerin als auch das Verwaltungsgericht haben den Umstand der wirtschaftlichen Verankerung des Antragstellers berücksichtigt, indes im Rahmen der Gesamtabwägung der Interessen zurücktreten lassen. Soweit die Beschwerde erneut auf vorgelegte Arbeitsplatzangebote verweist, fehlt schon jede Auseinandersetzung mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, es handele sich insoweit um bloße Absichtsbekundungen.
40Die Beschwerde wendet ferner ein, dem Antragsteller sei eine Reintegration in die Verhältnisse der Türkei nicht zumutbar, da er die türkische Sprache nicht beherrsche und in der Türkei auch über kein soziales Netzwerk verfüge. Dieser Einwand verfängt nicht. Hinsichtlich des behaupteten Fehlens türkischer Sprachkenntnisse fehlt jede Auseinandersetzung mit der Annahme der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe die Möglichkeit, sich bereits vor seiner Ausreise sowie im Rahmen von Sprachkursen in der Türkei grundlegende Sprachkenntnisse anzueignen. Auch übergeht die Beschwerde den Hinweis der Antragsgegnerin, dass in der Türkei (jedenfalls) in den Gebieten mit touristischen Schwerpunkten auch die deutsche Sprache gesprochen werde. Ebenso wenig setzt sich die Beschwerde mit der Annahme des Verwaltungsgerichts auseinander, der Antragsteller sei als volljähriger, alleinstehender Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen in der Lage, sich mit seiner abgeschlossenen Ausbildung eine wirtschaftliche Existenz in der Türkei aufzubauen, die er jedenfalls aus Urlaubsaufenthalten kenne. Das Verwaltungsgericht hat vor diesem Hintergrund auch angenommen, dass es nicht entscheidend darauf ankomme, ob der Antragsteller in der Türkei noch über familiäre Bindungen verfüge. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, inwiefern diese Annahme von vornherein unzutreffend sein sollte.
41II. Die Beschwerde richtet sich zudem gegen die Länge des verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots von 10 Jahren. Sie macht geltend, es müsse auch das junge Alter des Kindes berücksichtigt werden. Die von der Antragsgegnerin verhängte Sperre betreffe fast die komplette Kindheit und Jugend des Sohns des Antragstellers, was dem Schutz der Vater-Kind-Beziehung entsprechend Art. 6 Abs. 1 GG nicht hinreichend Rechnung trage.
42Dieser Einwand greift nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2021 zutreffend angenommen, dass deren Ermessensentscheidung, die Wirkungen der Ausweisung des Antragstellers gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auf 10 Jahre ab dem Zeitpunkt seiner Ausreise zu befristen, auch unter Berücksichtigung etwaiger aus Art. 6 GG resultierender Belange nicht zu beanstanden sei. Die Antragsgegnerin hat bei der Bestimmung der Frist nicht nur das bisherige strafrechtliche Verhalten des Antragstellers, sondern auch die für ihn sprechenden, aber im Ergebnis zurücktretenden Gesichtspunkte (u.a. familiäre Bindungen und langfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet) berücksichtigt. Die Beschwerde zeigt nicht substantiiert auf, inwiefern die Antragsgegnerin bei der Bestimmung dieser Frist die Grenzen ihres Ermessens überschritten haben oder etwa ein Fall des Ermessensfehlgebrauchs vorliegen könnte.
43Ungeachtet dessen ist eine vorzeitige oder zwischenzeitlich vorübergehende Rückkehr des Antragstellers in das Bundesgebiet nicht von vornherein ausgeschlossen. Insoweit wird auf die ‑ bei Vorliegen der entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen ‑ grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten einer nachträglichen Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sowie der Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG, durch die eventuelle vor Ablauf der Frist eintretende Härten abgemildert werden können, verwiesen.
44Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und berücksichtigt, dass sich die Beschwerde nur noch gegen die Abschiebungsandrohung und die den Streitwert nicht erhöhende Befristung des Einreise - und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG richtet.
45Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 3 ME 355/20 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 1x
- 1 ARB 1/80 2x (nicht zugeordnet)
- 8 K 4282/21 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 53 bis 56 AufenthG 4x (nicht zugeordnet)
- § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 2 O 164/21 1x (nicht zugeordnet)
- 8 K 4282/21 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 2328/10 2x (nicht zugeordnet)
- 5 L 1833/09 2x (nicht zugeordnet)