Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 19 A 1540/22.A
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
2Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
3Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.
4Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
5Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
6BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.
7Diesen Anforderungen genügen die durch den Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Der Kläger hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen:
81. Sind im Rahmen einer Anfechtungsklage Umstände zu berücksichtigen, die nach Erlass des Verwaltungsakts eintraten, wenn er durch diese Umstände rechtswidrig geworden ist?
92. Entsteht das Aufenthaltsrecht eines Asylantragstellers, wenn ihm Abschiebungsverbote zuerkannt werden oder die Abschiebung in sein Heimatland untersagt wird, mit der Stellung des Asylantrags (Antrag auf internationalen Schutz)?
103. Sind Duldungsgründe im Rahmen einer Rückkehrentscheidung nach dem AsylG zu berücksichtigen?
114. Ist die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Rückführungsrichtlinie?
125. Ist das Kindeswohl im Rahmen einer Rückkehrentscheidung ‑ hier Abschiebungsandrohung ‑ mit zu berücksichtigen?
136. Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsandrohung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?
147. Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?
158. Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?
16Die aufgrund ihres sachlichen Zusammenhangs gemeinsam zu betrachtenden Fragen zu 3. bis 8. führen nicht zur Berufungszulassung. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, inwieweit sich diese Fragen für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich gestellt haben und welche konkreten inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse es nicht berücksichtigt haben soll. Hat das Verwaltungsgericht inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse einzelfallbezogen verneint, ist die vom Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Rechtsfrage in der Regel entscheidungsunerheblich, ob die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt vor ihrem Erlass zur Prüfung solcher Hindernisse verpflichtet ist.
17BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 ‑ 1 C 24.21 ‑, juris, Rn. 16 ff.
18Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht hat jene Fragen letztlich im Ergebnis dahinstehen lassen, aber gleichwohl ‑ unter Unterstellung, die Abschiebungsandrohung sei eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt müsse stets die rechtlich geschützten Interessen als inlandsbezogene oder tatsächliche Vollstreckungshindernisse bei einer Rückkehrentscheidung prüfen ‑ festgestellt, dass hier weder die Verfahrensgarantien des Art. 5 der Richtlinie noch Grundrechte des Klägers, insbesondere das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens oder sonstige Rechte durch die Abschiebungsandrohung verletzt wären (S. 33 f. des Urteils).
19Auch die Fragen zu 1. und 2. führen nicht zur Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Der Zulassungsantrag (S. 2 des Zulassungsantrags) führt insoweit aus, dass das Verwaltungsgericht die letzte mündliche Verhandlung als maßgeblichen Zeitpunkt für die Entscheidung verkenne. Auch wenn man davon ausgehe, dass es sich um eine Anfechtungsklage handele, müssten die neu hinzugetretenen Umstände berücksichtigt werden, um die Bestätigung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und damit Amtshaftungsansprüche zu vermeiden (Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 15. November 1967 ‑ 1 C 43.67 ‑ zu einer Gewerbeuntersagung). Auch sei nach den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichts maßgeblich, wann das Aufenthaltsrecht der Kindesmutter (der Lebensgefährtin des Klägers) und damit die familiären Bindungen der gemeinsamen Kinder (der Kläger in den Verfahren 19 A 1400/22.A = 5 K 907/19.A VG Münster und 19 A 1422/22.A = 5 K 1045/20.A VG Münster) entstanden seien. Das Aufenthaltsrecht der Mutter sei mit Stellung des Schutzgesuchs entstanden und damit vor Erlass der Abschiebungsandrohung des Klägers (S. 3 des Zulassungsantrags). Mit diesem Vorbringen wird ‑ auch in Zusammenschau mit den weiteren im Zusammenhang mit den übrigen Grundsatzfragen erhobenen Einwendungen ‑ eine Klärungsbedürftigkeit der Fragen nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargelegt. Die zentrale Annahme des Verwaltungsgerichts, Art. 5 der Rückführungsrichtlinie fordere allenfalls die Berücksichtigung der etwaig einschlägigen Belange „vor Erlass“ der Abschiebungsandrohung, im Übrigen bleibe es für nachfolgend eingetretene Belange bei der bisherigen Einordnung als etwaiges inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (S. 37 des Urteils), stellt das Zulassungsvorbringen nur pauschal und ohne substantiierte Auseinandersetzung mit der vom Verwaltungsgericht zur Begründung dieser Annahme herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Frage. Unabhängig davon unterlässt der Zulassungsantrag bezogen auf die Fragen zu 1. und 2. eine ‑ nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG gebotene ‑ Auseinandersetzung mit der eingehenden Argumentation des Verwaltungsgerichts zu den Auswirkungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Lebensgefährtin des Klägers und Mutter der gemeinsamen Kinder (S. 34 bis 36 des Urteils).
20Weiter unabhängig davon ist die Frage zu 1. in dieser Allgemeinheit auch deshalb nicht klärungsfähig, weil ihre Beantwortung vom jeweiligen Rechtsgebiet und dem maßgeblichen materiellen Recht abhängt, auf dessen Grundlage der angefochtene Verwaltungsakt ergeht. Selbst wenn man die Frage nur auf einen belastenden Verwaltungsakt auf asylrechtlicher Grundlage bezieht, ist sie aus § 77 Abs. 1 AsylG ohne Weiteres zu bejahen. Ob das Verwaltungsgericht diese Vorschrift im vorliegenden Einzelfall zutreffend angewandt hat, ist für die Beantwortung der Grundsatzfrage unerheblich. Für die Frage zu 2. gilt Entsprechendes: Auch sie ist aus dem Gesetz heraus ohne Weiteres zu bejahen, weil der Aufenthalt des Ausländers bei der Stellung des Asylantrags ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes gestattet ist (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Für die Beantwortung auch dieser Grundsatzfrage ist unerheblich, wann im vorliegenden Einzelfall nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils das Aufenthaltsrecht der Kindesmutter entstanden ist.
21Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
22Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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