Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 19 B 976/22
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1
Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
3Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Diese Gründe rechtfertigen es nicht, dem Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO unter Änderung des angefochtenen Beschlusses stattzugeben und den Antragsgegner zu verpflichten, sie „vorläufig in die Klasse 9“ des bischöflichen L. -Gymnasiums I. „zu versetzen bis das Widerspruchsverfahren rechtskräftig und unanfechtbar abgeschlossen ist“. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht habe (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO, § 294 Abs. 1, § 920 Abs. 2 ZPO). Die Versetzungskonferenz habe nach den vorliegenden Erkenntnissen in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Versetzung nach § 22 Abs. 1 APO‑S I nicht vorlägen, weil die Lehrkräfte die Leistungen der Antragstellerin in sämtlichen im zweiten Schulhalbjahr 2021/2022 unterrichteten Fächern angesichts ihrer Fehlzeiten mangels hinreichender Bewertungsgrundlage als nicht beurteilbar eingestuft hätten, ohne dass dies durch eine Feststellungsprüfung behebbar sei. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass sich die Antragstellerin auch nicht mit Erfolg auf § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I berufen könne, weil es die Versetzungskonferenz der Schule in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgelehnt habe, die nach dieser Vorschrift erforderliche Prognose zu Gunsten der Antragstellerin zu treffen.
4Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragstellerin allein gegen die letztgenannte Bewertung des Verwaltungsgerichts zu einer Versetzung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I. Nach dieser Vorschrift kann eine Schülerin auch dann versetzt werden, wenn die Versetzungsanforderungen aus besonderen Gründen nicht erfüllt werden konnten, jedoch erwartet werden kann, dass auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich ist. Während Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „besonderen Gründe“ durch die zur Entscheidung berufene Versetzungskonferenz (§ 50 Abs. 2 SchulG NRW, § 7 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 2 Satz 1 APO-S I) der vollständigen Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte unterliegt, hat die Versetzungskonferenz bei der Entscheidung über die Versetzung aufgrund positiver Gesamtprognose („erwartet werden kann“) einen schulprüfungsspezifischen Bewertungsspielraum, der einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen ist. Bei einer solchen Prognoseentscheidung überschreitet die Versetzungskonferenz ihren prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum nach ständiger Senatsrechtsprechung nur dann, wenn sie einen Verfahrensfehler begeht, anzuwendendes Recht verkennt, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgeht, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder sich von sachfremden Erwägungen leiten lässt oder sonst willkürlich handelt.
5OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Oktober 2014 ‑ 19 B 971/14 ‑, juris, Rn. 2 (zu § 12 Abs. 3 Satz 1 APO-S I), und vom 29. Dezember 2008 ‑ 19 B 1581/08 ‑, juris, Rn. 24 (zu § 21 Abs. 3 Satz 1 APO-S I 2005); zum prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum bei anderen schul- und lehrerprüfungsrechtlichen Entscheidungen vgl. Beschlüsse vom 15. März 2022 ‑ 19 B 1649/21 ‑, juris, Rn. 7, vom 30. September 2021 ‑ 19 B 1508/21 ‑, juris, Rn. 4, und vom 29. April 2020 ‑ 19 A 110/19 ‑, juris, Rn. 32 ff., jeweils m. w. N.
61. Soweit die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde zunächst geltend macht, es lägen „besondere Gründe“ im Sinn von § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I vor, geht dies an der Entscheidungsstruktur des angegriffenen Beschlusses vorbei. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen von besonderen Gründen ausdrücklich offen gelassen und allein die Prognoseentscheidung der Versetzungskonferenz einer rechtlichen Prüfung unterzogen (S. 4 des Beschlusses, hierzu sogleich 2.). Die Annahme, die sowohl seitens der Versetzungskonferenz als auch des Verwaltungsgerichts unterlassene ausdrückliche Feststellung des Tatbestandsmerkmals der besonderen Gründe sei „ein Indiz dafür, dass die Konferenz den Sachverhalt möglicherweise anders beurteilt hat und andere Erwägungen hat einfließen lassen, als bei anderen erkrankten Schülern“, ist spekulativ. Es trifft auch in der Sache nicht zu, dass die Schule es unterlassen hätte, bei der Antragstellerin „Möglichkeiten der Förderung“ anzubieten, die anderen erkrankten Schülern zur Verfügung gestanden hätten. Nach Aktenlage haben Vertreterinnen der Antragstellerin, der Schule und des schulpsychologischen Dienstes in einem Gespräch vom 28. September 2021 ‑ insoweit von der Antragstellerin unwidersprochen ‑ diverse Hilfestellungen für die Antragstellerin vereinbart.
7Ebenfalls nicht zutreffend ist die Behauptung der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt hinsichtlich der unterschiedlichen Ursachen für die Fehlzeiten in der Vergangenheit nicht vollständig gewürdigt. Die seitens der Mutter der Antragstellerin noch am Nachmittag des 9. August 2022 bei Gericht eingereichten Unterlagen hat dieses bei seiner erst um 20:05 Uhr signierten Entscheidung berücksichtigt, wie sich aus den Vermerken des Einzelrichters vom 9. und 10. August 2022 ergibt. Entgegen der Beschwerde gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Versetzungskonferenz jedenfalls bei ihrer Entscheidung vom 8. August 2022 über den Widerspruch gegen die Nichtversetzung nicht die wesentlichen ärztlichen Atteste und Unterlagen vorgelegen hätten. Das Protokoll der Versetzungskonferenz verweist ausdrücklich auf die seitens der Eltern angegebenen „unterschiedlichen Gründe“ für die Fehlzeiten, und reduziert die Krankheitsgeschichte der Antragstellerin gerade nicht auf „psychosomatische Gründe“.
82. Die Beschwerde dringt auch nicht mit ihren Rügen durch, soweit sich diese gegen die Entscheidung der Versetzungskonferenz richten, wonach nicht erwartet werden könne, dass der Antragstellerin auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich sein werde. Das Verwaltungsgericht hat insoweit richtig auf die einschlägigen Maßstäbe zum prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum abgehoben und herausgearbeitet, dass Rechtsfehler nicht vorlägen. Es hat dabei insbesondere festgestellt, dass die Versetzungskonferenz sowohl einen zutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt als auch den zutreffenden Prognosemaßstab angelegt habe; es sei nicht zu beanstanden, die jüngste gesundheitliche Entwicklung in den Sommerferien nicht zur Grundlage einer positiven Prognose zu machen.
9Die hiergegen, zuletzt ergänzend und vertiefend auch mit Schriftsatz vom 12. September 2022 vorgebrachten Einwände der Beschwerde berücksichtigen nicht die Grenzen der Nachprüfbarkeit der Prognoseentscheidung und sind deshalb von vornherein nicht geeignet, der Beschwerde zum Erfolg zu verhelfen. Die Antragstellerin rügt zu Unrecht, das Verwaltungsgericht habe „verkannt“, dass ihre Leistungen im ersten Halbjahr der Klasse 8 „für die Frage der Gesamtentwicklung von Bedeutung“ seien. Die hiermit angesprochene Leistungsfähigkeit der Antragstellerin hat bereits die Versetzungskonferenz auf der Grundlage ihrer vor dem zweiten Schulhalbjahr erbrachten Leistungen grundsätzlich positiv bewertet und im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung berücksichtigt. Auch die pauschale Rüge, „seitens der Schule nicht unterstützt“ worden zu sein, greift vor dem Hintergrund der zuletzt im Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2022 ‑ betreffend die Ablehnung des Nachteilsausgleichs ‑ dokumentierten Bemühungen der Schule sowie der seitens der Eltern nicht wahrgenommenen weiteren Gesprächstermine mit der Schule nicht durch. Ungeachtet dessen ist insoweit grundsätzlich unerheblich, welche Leistungen eine Schülerin unter anderen Umständen ‑ etwa, wenn sie besser gefördert worden wäre ‑ hätte erbringen können; sie kann keine bessere oder andere Bewertung aufgrund hypothetisch möglicher besserer Leistungen verlangen.
10OVG NRW, Beschluss vom 7. April 2016 ‑ 19 B 1369/15 ‑, juris, Rn. 5 ff. m. w. N.
11Zu einer darüber hinausgehenden „Einbeziehung und Einordnung der erreichten Noten im 1. Halbjahr unter Beobachtung der schriftlichen Noten im 2. Halbjahr“ war die Versetzungskonferenz nach Maßgabe der vom Verwaltungsgericht rechtsfehlerfrei herangezogenen Maßstäbe zum Bewertungsspielraum gerade nicht verpflichtet. Erfolglos bleibt ebenfalls der Verweis auf die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin in der Klasse 7. Sie lässt bereits unberücksichtigt, dass es sich hierbei um eine von ihr (freiwillig) wiederholte Klasse handelt. Die weiterhin erhobene Rüge, es sei sachfremd und überschreite die Grenze des prüfungsrechtlichen Bewerteilungsspielraums, „aus vorangegangenen Fehlzeiten eine Belastungsintoleranz zu konstruieren“, ist ebenfalls zurückzuweisen. Es handelt sich bei der konkreten Prognoseentscheidung der Versetzungskonferenz nicht um eine medizinische Beurteilung, sondern um eine pädagogische Bewertung, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Mitarbeit in der nächsthöheren Klasse gegeben sind. Dass ärztliche Stellungnahmen in eine solche Entscheidung einfließen, liegt in der Natur der Sache, ändert aber nichts daran, dass sich die Erwartung, ob auf Grund der Leistungsfähigkeit, der Gesamtentwicklung und der Förderungsmöglichkeiten der Schule in der nachfolgenden Klasse eine erfolgreiche Mitarbeit möglich ist, nach pädagogischen Kriterien bemisst, deren zukunftsbezogene Beurteilung allein den Mitgliedern der Versetzungskonferenz obliegt. Weder die Versetzungskonferenz noch das Verwaltungsgericht sind insoweit von „falschen Tatsachen“ ausgegangen; auch hat das Verwaltungsgericht nicht „den Lehrern ein Beurteilungsfreiheit fern fachlicher oder sachlicher Grundlagen ermöglicht und für den Beschluss ungeprüft übernommen“. Genauso wenig haben Versetzungskonferenz und Verwaltungsgericht allein den „Blick auf die Vergangenheit“ unter Außerachtlassung „ärztliche(r) Aussagen und Feststellungen“ gerichtet. Ferner trifft der Einwand nicht zu, Versetzungskonferenz und Verwaltungsgericht hätten einen „Erfahrungssatz“ aufgestellt, wonach „bei einer bestimmten Fehlstundenanzahl, die Lücken zu groß sein müssen, als dass diese aufgearbeitet werden können“. Einen solchen allgemeinen Satz haben sie gerade nicht aufgestellt, sondern den Blick auf die Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und mithin der Antragstellerin gerichtet.
12Schließlich beruft sich die Beschwerde zu Unrecht auf § 4 Abs. 2 der Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe (APO‑GOSt) in Verbindung mit Nr. 4.2.1 VVAPO-GOSt. Die Situation bezogen auf die „besonderen Gründe“ im Sinn des § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I und die zu treffende Prognoseentscheidung sind mit den Folgefragen eines Auslandsaufenthalts in der gymnasialen Oberstufe nicht vergleichbar. Unabhängig davon schränken Erwägungen zur Bedeutung des individuellen Leistungsstands für den Fortgang der Schullaufbahn in der Oberstufe von vornherein nicht den Bewertungsspielraum der Versetzungskonferenz bei der ihnen zugewiesenen Prognoseentscheidung nach § 22 Abs. 3 Satz 1 APO-S I ein.
13Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
14Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
15Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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