Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 19 A 1798/22.A
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AsylG genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Darlegen in diesem Sinn bedeutet, unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil fallbezogen zu erläutern, weshalb die Voraussetzungen des jeweils geltend gemachten Zulassungsgrundes im Streitfall vorliegen sollen. Das Oberverwaltungsgericht soll allein aufgrund der Zulassungsbegründung die Zulassungsfrage beurteilen können, also keine weiteren aufwändigen Ermittlungen anstellen müssen.
4Zu den Darlegungsanforderungen nach der inhaltsgleichen Regelung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2020 - 19 A 4548/18 ‑, juris, Rn. 2; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 186, 194.
5Daran fehlt es hier. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen.
6Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
7BVerwG, Beschluss vom 28. März 2022 ‑ 1 B 9.22 ‑, juris, Rn. 21 ff. (zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2022 ‑ 19 A 657/22.A ‑, AuAS 2022, 150, juris, Rn. 3, vom 27. Juli 2022 ‑ 4 A 1148/19.A ‑, AuAS 2022, 190, juris, Rn. 3, vom 18. Mai 2022 ‑ 19 A 532/22.A ‑, juris, Rn. 6, und vom 9. Februar 2022 ‑ 19 A 544/21.A ‑, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.
8Diesen Anforderungen genügen die durch den Kläger aufgeworfenen Fragen nicht. Der Kläger hält für grundsätzlich bedeutsam die Fragen:
9I.
101. Ist im Rahmen der Abschiebungsverbote eines nigerianischen Kindes zu berücksichtigen, ob einem Familienangehörigen eines Rückkehrers eine Gefahr für Leib und Leben droht?
112. Wenn zu dem geltend gemachten Gesundheitsrisiko eines Familienangehörigen noch keine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, kann dann eine realitätsnahe Rückkehrprognose ohne Berücksichtigung dieser geltend gemachten Gesundheitsgefahr erfolgen?
123. Welcher Ort ist bei einer nigerianischen Familie der Zielort der Abschiebung, wenn sie nicht zu einer ihrer Herkunftsfamilien zurückkehren kann?
134. Kann eine fünfköpfige Familie in Lagos unmittelbar nach Ankunft auf dem Flughafen eine Unterkunft bekommen?
145. Kann eine Familie, falls die Frage zu 4. bejaht wird, in der Unterkunft so lange verbleiben, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden hat?
156. Welche finanziellen Rückkehrhilfen, die keine Beratungsleistungen sind, kann eine Familie mit Kindern in Nigeria erhalten?
167. Umfassen diese Rückkehrhilfen auch Geldleistungen für Unterkunft und Ernährung?
178. Wie lange dauert es, bis diese Leistungen beantragt werden können?
189. Wo können sie in Lagos beantragt werden?
1910. Wie lange dauert es, bis dieser Leistungsantrag beschieden wird?
2011. Wann werden nach der Bescheidung die Leistungen ausgezahlt?
2112. In welcher Form werden die Leistungen ausgezahlt?
2213. Gibt es einen Ort in Nigeria, an dem eine fünfköpfige Familie ohne familiäres Netzwerk ihren Lebensunterhalt sicherstellen, eine Gesundheitsversorgung für ihre minderjährigen Kleinkinder erhalten (Malariabehandlung) und gleichzeitig auch die Gefahr der Genitalverstümmelung von minderjährigen Mädchen vermeiden kann?
2314. Welche generellen Bedingungen müssen an so einem Ort erfüllt sein?
24II.
251. Ist das Kindeswohl im Rahmen einer Rückkehrentscheidung ‑ hier Abschiebungsandrohung ‑ mit zu berücksichtigen?
262. Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsandrohung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?
273. Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?
284. Ist ein Duldungsgrund nach § 43 AsylG im Rahmen einer Rückkehrentscheidung vom BAMF zu berücksichtigen?
295. Darf eine Rückkehrentscheidung vor dem Abschluss der Asylverfahren aller Familienmitglieder ergehen?
306. Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?
311. Die aufgrund ihres sachlichen Zusammenhangs zum Themenkreis „Abschiebungsandrohung“ (S. 8 bis 14 des Zulassungsantrags) gemeinsam zu betrachtenden Fragen zu II.1 bis II.6 führen nicht zur Berufungszulassung. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, inwieweit sich diese Fragen für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich gestellt haben und welche konkreten inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse es nicht berücksichtigt haben soll. Hat das Verwaltungsgericht inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse einzelfallbezogen verneint, ist die vom Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Rechtsfrage in der Regel entscheidungsunerheblich, ob die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt vor ihrem Erlass zur Prüfung solcher Hindernisse verpflichtet ist.
32BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 ‑ 1 C 24.21 ‑, juris, Rn. 16 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 29. August 2022 ‑ 19 A 1540/22.A ‑, juris, Rn. 16.
33Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht hat ‑ unter impliziter Unterstellung, die Abschiebungsandrohung sei eine Rückkehrentscheidung im Sinn der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und das Bundesamt müsse stets die rechtlich geschützten Interessen als inlandsbezogene oder tatsächliche Vollstreckungshindernisse bei einer Rückkehrentscheidung prüfen ‑ festgestellt, dass inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, die der Abschiebungsandrohung entgegenstehen könnten, im konkreten Fall nicht vorlägen. Das Verwaltungsgericht hat hierbei die etwaigen schutzwürdigen familiären Bindungen des Klägers und die von ihm mit Schriftsatz vom 14. Juli 2022 vorgebrachten Duldungsgründe und Erwartungen auf künftige Ansprüche auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG berücksichtigt (S. 8 f. des Urteils). Mit den hierzu getroffenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts setzt sich der Zulassungsantrag nicht auseinander.
34Die Fragen zu II.4 und II.5 führen auch deshalb nicht zur Berufungszulassung, weil der Zulassungsantrag ihre Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend darlegt. Eine Auseinandersetzung mit § 43 AsylG und dessen Auswirkungen auf das konkrete Asylverfahren des Klägers leistet der Zulassungsantrag nicht. Die insoweit gegebene Zulassungsbegründung (insbesondere S. 8 bis 12 des Zulassungsantrags) erschöpft sich in der bloßen Benennung der Vorschrift und dem insoweit nicht weiter erläuterten Hinweis, „einer Rückkehrentscheidung gegen die (sic!) Kläger könnte entgegenstehen, dass die Tochter/Schwester (sic!) in einem laufenden Asylverfahren ist und deshalb über § 43 AsylG ein Duldungsgrund gegeben ist“. Über die weiteren Fragen zu II.1 bis II.6 hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt der Kläger damit nicht auf. Unabhängig davon hat das angegriffene Urteil die familiäre Situation des Klägers auch in tatsächlicher Hinsicht und nicht nur im Rahmen der Abschiebungsandrohung berücksichtigt, indem es angenommen hat, der Kläger würde zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Nigeria zurückkehren (S. 5 des Urteils).
352. Auch die Fragen zu I.1 bis I.14 im Zusammenhang mit dem Themenkreis „Abschiebungsverbote“ (S. 2 bis 7 des Zulassungsantrags) führen nicht zur Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Hinsichtlich der in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärten Maßstäbe für die asyl-, flüchtlings- und abschiebungsschutzrechtliche Rückkehrprognose und der Zugrundelegung einer realitätsnahen Rückkehrsituation wirft der Zulassungsantrag mit den Fragen zu I.1 und I.2 und der hierzu gegebenen Begründung keinen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf auf.
36Vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 ‑, BVerwGE 166, 113, juris, Rn. 16, und vom 21. September 1999 ‑ 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305, juris, Rn. 10; Beschluss vom 15. August 2019 ‑ 1 B 33.19 ‑, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Januar 2022 ‑ 19 A 1736/21.A ‑, juris, Rn. 29, und vom 15. April 2020 ‑ 19 A 915/19.A ‑, juris, Rn. 10 m. w. N.
37Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Prüfung, ob zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot festzustellen sei, zutreffend seine eigene Gefährdungslage in den Blick genommen.
38Die weiteren Fragen zu I.3 bis I.14 führen ebenfalls nicht zur Berufungszulassung. Mit diesen Fragen und seinem Vortrag hierzu verfehlt der Kläger bereits die Begründungsstruktur des angefochtenen Urteils, welches hinsichtlich der finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der Familie des Klägers gerade angenommen hat, dass der Vater des Klägers Kontakt zu einem in Nigeria lebenden wohlhabenden Cousin pflege und damit über einen hinreichenden „familiären Rückhalt“ verfüge (S. 5 f. des Urteils). Insoweit wendet der Zulassungsantrag nur pauschal ein, dass der Familie eine Rückkehr „in diesem Ort nicht möglich“ sei, „sodass eine Aufnahme beim Cousin nicht erfolgen“ könne (S. 2 f. des Zulassungsantrags). Die vom Verwaltungsgericht festgestellte Möglichkeit der ‑ auch nur rein finanziellen ‑ Unterstützung durch den Cousin ist damit nicht in Frage gestellt.
39Unabhängig davon sind die Fragen, soweit sie überhaupt in generalisierender Weise klärungsfähig sind, nicht mehr klärungsbedürftig, weil Fragen im Zusammenhang sowohl mit der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Situation in Nigeria als auch mit den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf diese in der Rechtsprechung des beschließenden Senats geklärt sind.
40OVG NRW, Urteile vom 22. Juni 2021 ‑ 19 A 4386/19.A ‑, juris, und vom 18. Mai 2021 ‑ 19 A 4604/19.A ‑, juris.
41Der Zulassungsantrag zeigt keinen erneuten oder weitergehenden Klärungsbedarf in Bezug auf die dazu getroffenen Tatsachenfeststellungen auf, und zwar auch nicht durch den gänzlich unsubstantiierten Hinweis auf die „Nahrungsmittelverknappung durch den Ukraine Krieg“ (S. 6 des Zulassungsantrags).
42Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
43Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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