Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 11605/06

Tenor

Unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Juli 2006 und unter Abänderung von Ziffern 3 und 4 des Bescheids vom 27. April 2006 wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass hinsichtlich der Klägerin zu 1) ein Abschiebeverbot i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Serbien besteht.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge haben die Kläger drei Viertel und die Beklagte ein Viertel zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zu 1) zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die am ... Januar 1965 in Zabren geborene Klägerin zu 1) ist (nunmehr) serbische Staatsangehörige bosnischer Volkszugehörigkeit, ausgewiesen durch den jugoslawischen Nationalpass mit der Nummer ..... Der am ... Mai 1992 in Novi Pazar geborene Kläger zu 2), die am … September 1998 in Novi Pazar geborene Klägerin zu 3) und die am ... Juli 2001 in Offenbach am Main geborene Klägerin zu 4) sind die Kinder der Klägerin zu 1); sie sind ebenfalls serbische Staatsangehörige.

2

Die Kläger reisten im November 1999 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurden zunächst als Bürgerkriegsflüchtlinge geduldet. Nachdem die Ausländerbehörde der Stadt Offenbach am Main die Klägerin zu 1) mit Bescheid vom 15. September 2005 unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise aufgefordert hatte und am 29. März 2006 ein Abschiebeversuch gescheitert war, stellte sie unter dem 19. April 2006 für sich und die Kläger zu 2) bis 5) bei der Beklagten einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.

3

Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab die Klägerin zu 1) im Wesentlichen an, sie sei vor ihrer Ausreise von drei Serben vergewaltigt worden, die ihren damaligen Mann gesucht hätten. Sie befinde sich seit 2002 in psychiatrischer Behandlung. Für die Kläger zu 2) bis 4) wurden keine eigenen Asylgründe geltend gemacht.

4

Der Asylantrag der Kläger wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 27. April 2006 abgelehnt.

5

Die hiergegen erhobene Klage wurde durch Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Juli 2006 – soweit noch anhängig – abgewiesen. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, die Klägerin zu 1) könne sich nicht auf ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG berufen. Es könne offen bleiben, ob sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Zu berücksichtigen sei nämlich, dass die Klägerin zu 1) nach eigenen Angaben an einer durch Kriegserlebnisse ausgelösten psychischen Erkrankung leide, die eine allgemeine Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstelle. Bei einer solchen Gefahr könne im Falle des Fehlens einer ausländerpolizeilichen Leitentscheidung nach § 60 a AufenthG Abschiebungsschutz nur gewährt werden, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletze, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Eine derartige Gefahrenlage bestehe nicht. Hiergegen spreche zum einen, dass sich die Klägerin zu 1) nach ihrer Ausreise im Jahr 1999 erst 2002 in psychiatrische Behandlung begeben und diese zudem mehrfach unterbrochen habe. Zum anderen sei eine Behandlung psychischer Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen in Serbien und Montenegro sowohl im Rahmen der staatlichen Gesundheitsfürsorge als auch in Privatpraxen möglich. Soweit die Klägerin zu 1) Suizidgedanken habe, stellten sich diese nicht als zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot dar. Gleiches gelte auch für eine etwaige Reiseunfähigkeit. Schließlich begründe auch die allgemeine Lage in Serbien und Montenegro sowie der Umstand, dass die Klägerin zu 1) der Minderheit der moslemischen Bosniaken aus dem Sandzak angehöre, kein Abschiebeverbot. Für die Kläger zu 2) bis 4) seien keine Abschiebeverbote geltend gemacht worden.

6

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter.

7

Die Kläger beantragen,

8

das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Juli 2006 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung von Ziffern 3 und 4 des Bescheids vom 27. April 2006 zu verpflichten festzustellen, dass in ihren Personen ein Abschiebeverbot i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht.

9

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

11

Der Senat hat zu der Frage, ob bei der Klägerin zu 1) eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, und ob diese bejahendenfalls eine solche Intensität aufweist, dass bei einer erzwungenen Rückkehr nach Serbien und Montenegro ungeachtet etwaiger medizinisch-psychologischer Behandlungsmöglichkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit eine erhebliche, bis zu einer lebensgefährdenden Lage führende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu erwarten ist, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie der R.-M.-Fachklinik A., Dr. med. K., vom 10. Juli 2007 sowie dessen ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 27. September 2007 verwiesen.

12

Die Beteiligten erhielten Gelegenheit, sich zum Ergebnis der Beweisaufnahme zu äußern. Die Beklagte führt aus, aus dem Gutachten ergebe sich nicht, dass bei der Klägerin zu 1) eine Erkrankung vorliege, die im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsbeeinträchtigung führe. Die vom Gutachter erstellte Diagnose einer seit 1999 bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung, aus der sich eine andauernde Persönlichkeitsänderung entwickelt haben solle, sei nicht nachvollziehbar. Hieraus ergebe sich zugleich, dass die Prognose einer Suizidgefahr keine Stütze habe. Darüber hinaus werde die prognostizierte Suizidgefahr nicht durch die Verhältnisse im Herkunftsstaat bedingt, sei also nicht zielstaatsbezogen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten in den Gerichtsakten verwiesen. Dem Senat liegt 1 Heft Verwaltungsakten der Beklagten vor. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe

14

Die Berufung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

15

Das Verwaltungsgericht hätte der Klage – soweit sie noch anhängig war - hinsichtlich der Klägerin zu 1) stattgeben müssen, denn in ihrer Person liegt ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Hinsichtlich der Kläger zu 2) bis 4) hat das Verwaltungsgericht die Klage zu Recht abgewiesen, da die Kläger zu 2) bis 4) betreffende Abschiebungsverbote nicht ersichtlich sind.

16

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Vorschrift, die im Gegensatz zu der bis 31. Dezember 2004 geltenden Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht als Ermessensvorschrift ausgestaltet ist, sondern die Aussetzung der Abschiebung in der Regel beinhaltet (vgl. Ziffer 60.7.2 der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: 22. Dezember 2004), ansonsten aber inhaltlich § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entspricht (vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz, BT-DrS 15/420, Seite 91), umfasst – ebenso wie die übrigen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG (Folter, Todesstrafe oder erniedrigende oder unmenschliche Behandlung) – also solche Gefahren, die dem Ausländer im Zielstaat drohen (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG BVerwG, Urteile vom 02. September 1997 – 9 C 40.96 – und vom 09. September 1997 – 9 C 48.96 –). Im Gegensatz zu den Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG kommt es bei einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch nicht darauf an, von wem die Gefahr ausgeht; vielmehr reicht es aus, dass überhaupt eine „konkrete Gefahr“ besteht, die sich aus einem Eingriff, einem störenden Verhalten oder einem Zusammenwirken mit anderen – auch anlagebedingten – Umständen ergeben kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 – 9 C 58.95 –).

17

Hinsichtlich des Gefahrenmaßstabs, der an ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Erkrankung des Asylbewerbers anzulegen ist, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17. Oktober 2006 (NVwZ 2007, 712 f.) Folgendes ausgeführt:

18

„Nach den in der Rechtsprechung des BVerwG entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist (vgl. zuletzt Urt. des Senats v. 18. 7. 2006 - 1 C 16/05, BeckRS 2006, 25786 Rdnr. 18 unter Hinweis auf BVerwG, InfAuslR 1998, 125 [dialysepflichtige Niereninsuffizienz] und BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524 [angeborener Herzfehler/Vorhofseptumdefekt]; BVerwG, Urt. v. 29. 7. 1999 - 9 C 2/99, juris [u.a. Folgen von Total-Endo-prothesen-Operationen, Diabetes mellitus und Immunthrombozytopenie]).

19

Maßgeblich hierfür war die Erwägung, dass der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift hinsichtlich des Entstehungsgrundes der Gefahr nicht einschränkend auszulegen ist und eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben auch dann vorliegen kann, wenn sie durch die bereits vorhandene Krankheit konstitutionell mit bedingt ist.

20

Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers auf Grund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht.

21

Ein strengerer Maßstab gilt in Krankheitsfällen nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG ausnahmsweise nur dann, wenn zielstaatsbezogene Verschlimmerungen von Krankheiten als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren sind.

22

Dies kommt allerdings bei Erkrankungen nur in Betracht, wenn es - etwa bei Aids - um eine große Anzahl Betroffener im Zielstaat geht und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. auch hierzu zuletzt Urt. v. 18. 7. 2006, BeckRS 2006, 25786, unter Hinweis auf BVerwG , Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 12 = NVwZ 1998, 973).

23

In solchen Fällen kann Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nur dann gewährt werden, wenn im Abschiebezielstaat für den Ausländer (entweder auf Grund der allgemeinen Verhältnisse oder auf Grund von Besonderheiten im Einzelfall, vgl. BVerwG, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 22 und BVerwGE 108, 77 [83] = NVwZ 1999, 666) landesweit eine extrem zugespitzte Gefahr wegen einer notwendigen, aber nicht erlangbaren medizinischen Versorgung zu erwarten ist, wenn mit anderen Worten der betroffene Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (BVerwGE 99, 324 [328] = NVwZ 1996, 199).“ (a.a.O. S. 712, 713).

24

Bei Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis kann eine zielstaatsbezogene Verschlimmerung nicht als allgemeine Gefahr qualifiziert werden, die der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG unterliegt und nur im Falle einer extremen Zuspitzung zu einer Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt führt, sondern sie ist nach dem Maßstab der „erheblichen konkreten Gefahr“ in unmittelbarer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beurteilen. Dies gilt insbesondere auch für den Fall der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Denn auch wenn nach den nicht mit der Berufung angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts Kriegserlebnisse bei einem erheblichen Teil der Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen (vgl. insoweit die Nachweise auf S. 9, 10 des Umdrucks, Bl. 104, 104 Rs. der Gerichtsakten), so bestehen angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. etwa die Darstellung in Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Auflage 2007, S. 223) für den Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Rückkehr in den Herkunftsstaat eines Traumatisierten in jedem Falle Gefahren erwarten lässt, die die Notwendigkeit von Abschiebungsschutz begründen. Es liegt vielmehr in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebenden ihre Ursache hat (vgl. auch OVG NW, Urteil vom 16. Februar 2004 – 15 A 548/04.A –, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 28. November 2005 – 7 UZ 153/05.A).

25

Ausgehend von diesen Voraussetzungen liegt in der Person der Klägerin zu 1) ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) nach 1999 eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) durchlebt hat, aus der zwischenzeitlich die chronifizierte Erkrankung nach Art der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung i. S. von ICD 10: F 62.0 hervorgegangen ist, und die im Falle einer Rückkehr nach Serbien eine „gefährliche Krise“ mit lebensbedrohendem Charakter für sie befürchten lässt (vgl. S. 12 des Gutachtens von Dr. med. K. vom 10. Juli 2006, Bl. 161 der Gerichtsakten).

26

Der Gutachter ist zu diesem Ergebnis aufgrund der Eigenanamnese der Klägerin zu 1), der Fremdanamnese der Tochter der Kläger zu 1) und der von ihm durchgeführten Exploration gelangt. Er hat zunächst das von der Klägerin zu 1) geschilderte auslösende Erlebnis – die Vergewaltigung durch einen serbischen Soldaten – zugrunde gelegt, das die Klägerin zu 1) während ihres gesamten Asylverfahrens im wesentlichen gleichbleibend geschildert hat und das im Übrigen auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen wurde. Er hat des Weiteren im Verlaufe seiner Untersuchung festgestellt, dass bei der Klägerin zu 1) mit zunehmender Dauer der Exploration und Annäherung an das Traumatisierungsthema eine erkennbare Verspannung der Betroffenen eingetreten ist. Er führt aus, dass die Klägerin darum gebeten hat, nicht direkt über dieses Thema sprechen zu müssen, dass von ihr mitgebrachte schriftliche Ausführungen in indirekter Weise besprochen wurden, wobei die sie die Emotionen nur schwer kontrollieren konnte und benennt als Beispiel hierfür, dass die Klägerin zu 1) während der gesamten Dauer der weiteren Exploration Tempotaschentücher in die Hände genommen, verdreht und in kleinste Fetzen gerissen hat. Nach Einschätzung des Sachverständigen ist es ferner unverkennbar, dass die Klägerin zu 1) von verschiedenen Gefühlen getragen wird, einerseits Scham und Verzweiflung in der Retrospektive auf die stattgehabte Vergewaltigung, dann Kränkung, Wut und Enttäuschung über ihren Ehemann und schließlich eine unkorrigierbare Angst, dass ihr und ihren Töchtern eine Widerholung des Schicksals zwangsläufig droht, wenn sie nach Serbien zurückkehren würde (vgl. S. 6, 8 des Gutachtens, Bl. 155, 157 der Gerichtsakten). Der Gutachter bezeichnet die Grundstimmung der Kläger zu 1) als kontinuierlich und tiefgreifend depressiv, stellt eine generelle Anhedonie und Antriebsarmut fest, in deren Zusammenhang sie verklausulierte Suizidabsichten für den Fall äußert, dass eine Rückkehr nach Serbien erzwungen wird, wobei als besonders problematisch die Ausdehnung ihrer Befürchtungen bezüglich ihrer eigenen Person auf die Töchter angesehen wird (vgl. S. 9 des Gutachtens, Bl. 158 der Gerichtsakten). Als Beispiel für diese unkorrigierbare Angst führt der Gutachter die Aussage der Klägerin zu 1) an, „Bevor man sie in dieses Land zurückschicke, solle man doch sie und ihre Kinder besser hier umbringen“ (vgl. S. 7 des Gutachtens, Bl. 156 der Gerichtsakten).

27

Ausgehend von diesen Befunden kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass die Klägerin zu 1) infolge der erlittenen Vergewaltigung zunächst an einer PTBS gelitten hat. Sie hat diese Phase ab 1999 erlebt, war jedoch nicht zuletzt einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Dokumentation weitestgehend entzogen, weil das Vermeidungsverhalten und das Verdrängen der bedrohlichen Erinnerungen über lange Zeit dominierenden Charakter hatte (vgl. S. 12 des Gutachtens). Der Gutachter führt weiter aus, dass sich im Verlauf eine chronifizierte Störung entwickeln kann, die sich ganz erheblich vom Bild der akuten PTBS unterscheidet und durch ständiges Misstrauen, völligen Rückzug, Gefühl der Leere, Hoffnungslosigkeit und zugleich der Bedrohung geprägt ist (Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, ICD 10 : F 62.0). Nach Ansicht des Gutachters liegt bei der Klägerin zu 1) eine derartige andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung vor, die auch verständlich macht, dass die Klägerin zu 1) keiner Korrektur ihrer Ängste zugänglich ist. Für den Fall einer Rückkehr nach Serbien muss eine „gefährliche Krise“ mit lebensbedrohendem Charakter für die Klägerin zu 1) befürchtet werden, da sie zwar das Wort Suizid nicht selbst ausspricht, aber es in verschiedenen Formen umschreibt. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27. September 2007 führt der Gutachter aus, die Klägerin habe in ihren Äußerungen wiederholt klar gemacht, das ihr mit Sicherheit eine Wiederholung ihres Schicksals drohe, egal wer in Serbien an der Macht sei. Hierin und in der Aussage, man solle sie lieber hier töten, als ihr eine Wiederholung der Vergewaltigungen zuzumuten, kann man nach den Ausführungen des Gutachters psychiatrisch nur die ernsthafte Ankündigung eines Suizids sehen (vgl. S. 1, 2 der ergänzenden Stellungnahme vom 27. September 2007, Bl. 176, 177 der Gerichtsakten). Eine besondere Besorgnis aus psychiatrischer Sicht sieht der Gutachter in der Ausweitung der Bedrohungsängste der Klägerin zu 1) auf ihre Töchter, für die sie das gleiche Schicksal erwartet, wenn sie nach Serbien zurückkehren müsste (vgl. S. 12 des Gutachtens, a.a.O.). Hierzu führt er ergänzend aus, dass bei depressiven Frauen mit Kindern die Gefahr eines erweiterten Suizides eine prinzipielle Möglichkeit ist. Zwar betrifft dies in erster Linie Kleinkinder, die die Klägerin zu 1) nicht mehr hat; gleichwohl – so der Sachverständige – ist auf diese Gefahr hinzuweisen, weil in der Aussage der Klägerin zu 1), sie wolle eine drohende Vergewaltigung ihrer Töchter nicht hinnehmen, ein verklausulierter Hinweis auf einen möglicherweise erweiterten Suizidversuch erkannt werden kann (vgl. S. 2 der ergänzenden Stellungnahme, a.a.O.).

28

Die plausiblen und nachvollziehbaren Feststellungen des Gutachters zum Bestehen einer PTBS und zur Frage, ob diese einen solchen Schweregrad aufweist, das bei einer erzwungenen Rückkehr nach Serbien und Montenegro ungeachtet etwaiger medizinisch-psychologischer Behandlungsmöglichkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu erwarten ist, die zu einer lebensgefährdenden Lage infolge nicht kontrollierbarer Eigengefährdung führen würde, vermochte die Beklagte nicht zu erschüttern. Insbesondere hält der Senat vor dem Hintergrund der Einwendungen des Beklagten im Schriftsatz vom 18. Oktober 2007 (vgl. Bl. 185 f. der Gerichtsakten) in Anbetracht der Ausführungen des Gutachters die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich.

29

Insoweit gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass dann, wenn einem Tatsachengericht zu einer durch Beweisaufnahme zu klärenden Tatfrage bereits ein Sachverständigengutachten vorliegt, die Einholung eines weiteren Gutachtens im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985, NJW 1986, 2268; Beschlüsse vom 7. März 2003 – 6 B 16.03 –, juris, und vom 4. Oktober 2001 – 6 B 39.01 –, juris). Reicht ein bereits eingeholtes Gutachten aus, um das Gericht in die Lage zu versetzen, die entscheidungserheblichen Fragen sachkundig beurteilen zu können, und ist es von der Richtigkeit der dem Gutachten zugrunde gelegten Tatsachen und der gezogenen Schlussfolgerungen aufgrund einer selbstverantwortlichen Überprüfung und Nachvollziehung überzeugt, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens oder Obergutachtens weder notwendig noch veranlasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985, a.a.O. S. 2268; Beschluss vom 14. April 1970 – 4 B 201.69 –, Buchholz 310 § 86 II VwGO Nr. 12). Dies bedeutet, dass derjenige Verfahrensbeteiligte, der die Tatsachengrundlage bzw. die daraus gezogenen Schlussfolgerungen des Sachverständigen in Zweifel zieht, es nicht lediglich bei pauschalen Angriffen gegen das Gutachten bewenden lassen darf, sondern vielmehr im Einzelnen substantiiert und nachvollziehbar die nach seiner Auffassung bestehende Fehlerhaftigkeit des Gutachtens aufzeigen muss. Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Beklagten nicht.

30

Soweit die Beklagte gegen das Gutachten einwendet, die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht nachvollziehbar, und hierzu ausführt, der Gutachter habe zwar die Symptomatik einer PTBS beschrieben, dann aber nicht dargelegt, woher er die Erkenntnis haben wolle, „die Betroffene habe ab 1999 eine Phase mit dieser Symptomatik erlebt“ (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, Bl. 186 der Gerichtsakten), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Der Gutachter hat nämlich durchaus dargelegt, auf welcher Grundlage er zu der Überzeugung gelangt ist, die Klägerin zu 1) habe an einer PTBS gelitten, die sich zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung entwickelt habe. Er hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass die Klägerin zu 1) nach der erlittenen Vergewaltigung dieses Thema ausgeblendet und verdrängt habe sowie dass sie mit niemandem habe darüber sprechen können. Dies passt zu dem bei der Exploration aufgezeigten Verhalten, dem sich nur indirekten Annähern an das Traumatisierungsthema, dem Vermeiden von Blickkontakten. Dieses Verhalten und dazu die festgestellte generelle Anhedonie und Antriebsarmut, die auch von der Tochter der Klägerin zu 1) in deren Fremdanamnese angegeben wird (vgl. 7, 8 des Gutachtens, Bl. 156, 157 der Gerichtsakten), lassen durchaus auf die als typisches Syndrom eines PTBS auftretende emotionale Taubheit schließen. Hinzu kommt, dass der Gutachter – ausgehend von der aktuell diagnostizierten andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung – auf die PTBS rückschließen musste, weil deren Symptome in einem Zeitraum von bis zu sechs Monaten nach dem traumatisierenden Ereignis – welches vorliegend im Jahr 1999 stattgefunden hatte – auftreten. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht dessen, dass der Gutachter als Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie an der R.-M.-Fachklinik A. über die auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellten Fachkunde verfügt, hält der Senat die Ausführungen im Gutachten für überzeugend.

31

Auch der Einwände hinsichtlich der vom Gutachter festgestellten Suizidalität greifen nicht durch.

32

Soweit die Beklagte ausführt, die Prognose einer ernstlichen Suizidgefahr finde mangels nachvollziehbarer Diagnose keine hinreichende Stütze (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, a.a.O.), ist dem nach dem vorgesagten entgegen zu halten, dass der Gutachter nachvollziehbar und in sich schlüssig eine chronifizierte Erkrankung in der Art einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung diagnostiziert und darauf aufbauend unter Nennung der Anzeichen eine ernsthafte Suizidgefahr bei der Klägerin zu 1) angenommen hat.

33

Auch der Verweis darauf, die prognostizierte Suizidgefahr werde nicht durch die spezifischen Verhältnisse im Herkunftsstaat bedingt, sei also nicht zielstaatsbezogen (vgl. vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, a.a.O.), greift nicht durch. Insoweit ist der Beklagten zwar zuzustimmen, dass eine (ernstliche) Suizidabsicht aus Angst vor einer drohenden Abschiebung ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis darstellen würde, über das nicht die Beklagte, sondern die Ausländerbehörde zu entscheiden hätte. Allerdings übersieht die Beklagte, in Bezug auf die vom Gutachter angenommene Suizidabsicht, dass vorliegend nicht die – sicherlich auch bestehende – Angst vor einer Abschiebung als solcher im Vordergrund steht, sondern die – wie es der Gutachter ausgeführt hat – unkorrigierbare Angst, dass der Klägerin zu 1) und ihren Töchtern in Serbien eine Wiederholung des Schicksals zwangsläufig droht, wenn sie dorthin zurückkehren würden. Maßgeblicher Auslöser für die prognostizierte Suizidabsicht ist – wie der Gutachter an verschiedenen Stellen ausführt – die Angst der Klägerin zu 1) vor einer erneuten Vergewaltigung, die sie zwangsläufig kommen sieht. Damit steht eindeutig ein in Serbien angelegtes Moment als für die Suizidabsicht der Klägerin zu 1) auslösender Umstand im Vordergrund.

34

In Anbetracht dessen, dass die Klägerin zu 1) ausweislich der Feststellungen des Gutachters eine unkorrigierbare Angst davor hat, dass ihr und ihren Töchtern im Falle einer Rückkehr nach Serbien zwangsläufig eine Wiederholung ihres Schicksals droht, egal wer dort an der Macht ist, und dass sie auch von Ärzten etwa in einer psychiatrischen Klinik prinzipiell keine Hilfe erwartet, ist zur Überzeugung des Senats auch davon auszugehen, dass die vom Gutachter bejahte „gefährliche Krise mit lebensbedrohendem Charakter“ ungeachtet der in Serbien grundsätzlich gegebenen Möglichkeit der Behandelbarkeit psychiatrischer Erkrankungen (vgl. insoweit Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. April 2007, S. 20 f.; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad vom 3. April 2007 an VG Köln) im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat besteht, so dass es hier auf die Frage der Behandelbarkeit – ausnahmsweise – gerade nicht ankommt.

35

Nach alledem ist in Bezug auf die Klägerin zu 1) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihr im Falle einer Rückkehr nach Serbien i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht, so dass die Beklagte unter entsprechender Abänderung von Ziffer 3 des Bescheids vom 27. April 2006 zur Feststellung eines solchen Abschiebeverbots hinsichtlich der Klägerin zu 1) zu verpflichten ist. Hieraus folgt zugleich, dass auch die in Ziffer 4 des Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung hinsichtlich des Zielstaates der Abschiebung in Bezug auf die Klägerin zu 2) abzuändern ist, denn nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist bei Feststellung eines Abschiebeverbots in der Abschiebungsandrohung derjenige Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

36

Hingegen ist die Berufung der Kläger zu 2) bis 4) zurückzuweisen, denn ein sie betreffendes Abschiebungsverbot i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Insoweit kann der Senat gemäß § 130 b VwGO auf die zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 20. Juli 2006 Bezug nehmen, zumal die Kläger zu 2) bis 4) auch im Berufungsverfahren nichts vorgetragen haben.

37

Die Kostenentscheidung folgt bezüglich der Klägerin zu 1) aus § 154 Abs. 1 VwGO und bezüglich der Kläger zu 2) bis 4) aus § 154 Abs. 2 VwGO.

38

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V. mit § 708 Nr. 10, 711 ZPO.

39

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

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