Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 10988/16

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Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 20. Juli 2016 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung seitens des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn der Kläger nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Dem Kläger wird für den zweiten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin N... O..., Rüsselsheim, bewilligt.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … Januar 1974 geborene Kläger, ein syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 17. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 28. April 2016 einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er anlässlich seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 12. Mai 2015 im Wesentlichen geltend, er habe sich angesichts der täglichen Bombardierungen in Syrien entscheiden müssen, ob er leben oder sterben wolle. Zudem habe er seine Arbeit und sein Haus verloren. Er sei seit 1996 als Lehrer und von 2013 bis zu seiner Ausreise als Schuldirektor in D... tätig gewesen. Dort habe er auch gelebt. Aufgrund von Bombardierungen habe er schon zweimal seine Wohnung verloren und umziehen müssen. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien hätte er dort keine Arbeit und keine Wohnung und würde mithin ins Nichts zurückkehren. Zudem werde man, wenn man zurückkehre, von allen Seiten als Verräter angesehen.

4

Mit Bescheid vom 17. Mai 2016 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab, weil der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

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Mit seiner hiergegen am 31. Mai 2016 erhobenen Klage rügte der Kläger, seine Angaben anlässlich des Anhörungstermins beim Bundesamt seien nicht in allen wesentlichen Punkten im Anhörungsprotokoll wiedergegeben. Er wiederholte sein Vorbringen und machte vertiefend geltend, seine Stadt sei zunächst durch das syrische Regime eingekesselt und bombardiert worden. Anschließend habe sie der IS eingenommen und kontrolliere sie bis heute. Da der Kläger in die Armee habe einberufen werden müssen und sich geweigert habe, wäre er im Falle einer Rückkehr entweder verpflichtet, dem Assad-Militär zuzugehören oder für den IS Verbrechen zu begehen. Bis heute werde er wegen Wehrdienstentziehung gesucht. Im Falle einer Weigerung gelte er als Feind und müsse mit Verhaftung und Folter rechnen. Zudem drohe ihm auch eine Verfolgung im Hinblick auf seine politischen Aktivitäten wie friedlichen Demonstrationen gegen das Regime und dann gegen den IS. Auch die Tatsache, dass Familienmitglieder festgenommen und gefoltert worden oder immer noch spurlos verschwunden seien, deute auf eine erhöhte Verfolgungsgefahr hin. Abgesehen davon verlange auch die allgemeine Situation in Syrien die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für alle illegal ausgereisten Personen, die einen Asylantrag gestellt oder sich länger im Ausland aufgehalten hätten, sowie für Oppositionelle und Mitglieder der Protestbewegung.

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Das Verwaltungsgericht Trier verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom 20. Juli 2016, der Beklagten zugestellt am 28. Juli 2016, dem Kläger über den gewährten subsidiären Schutz hinaus auch die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit sei beachtlich wahrscheinlich, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, mit der einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

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Auf Antrag der Beklagten vom 23. August 2016 hat der Senat mit Beschluss vom 16. September 2016 die Berufung zugelassen; am 6. Oktober 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

8

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

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Die Beklagte beantragt,

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unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

13

Er ist der Ansicht, sehr wohl bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich von politischer Verfolgung bedroht zu sein. Unabhängig davon seien in seiner Person individuelle Verfolgungsgründe gegeben. Hierzu wiederholt und vertieft er zunächst sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt er vor, dass die syrische Regierung nach wie vor in weiten Teilen Syriens präsent sei und an ihren repressiven Methoden festhalte. Zwischen 2012 und 2014 habe er an mehreren Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen. Auch sei er in den sozialen Medien aktiv gewesen und habe dort regierungskritische Texte verfasst. Überdies komme er aus D..., einer Hochburg des IS. Dieser suche nach ihm, weil er sich nicht dem bewaffneten Kampf gegen die Regierung angeschlossen und auch nicht dessen Lehrplan angenommen und die Schüler nach den Vorstellungen des IS unterrichtet habe. Er sei aufgrund der vom IS verübten Gräueltaten geflohen. Im Falle einer Rückkehr werde man ihn als Ungläubigen ansehen und bestrafen. Auf der anderen Seite unterstelle die Regierung den Bewohnern der Stadt, Terroristen zu unterstützen. Am 3. September 2014 sei er bei einer regierungsfeindlichen Demonstration in D... von Angehörigen des syrischen Geheimdienstes verhaftet, 14 Tage festgehalten und gefoltert worden. Da er aufgrund der Kämpfe seine Arbeit nicht mehr habe ausführen können und auch der Anordnung der syrischen Regierung, sich in Damaskus zu melden, nicht nachgekommen sei, werde er namentlich gesucht. Als Beamter habe er in einem besonderen Vertrauensverhältnis zum syrischen Staat gestanden, welches er durch seine regierungskritischen Aktivitäten und seine Flucht aus Syrien gebrochen und sich dadurch besonders ins Visier des Regimes gebracht habe. Überdies werde er vom Bruder seiner geschiedenen Frau, M... A...-A..., einem hochrangigen syrischen Politiker, im Zusammenhang mit dem beantragten Familiennachzug für seine 2. Ehefrau massiv bedroht. Wegen der erlebten Folter sei er von seinem Arzt zur Mit- und Weiterbehandlung an die Psychiatrie überwiesen worden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakte der Beklagten (1 Heft) Bezug genommen, welche Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

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Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

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Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

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1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

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a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

20

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

21

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

22

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

23

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

24

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

25

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

26

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

27

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

28

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

29

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

30

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

31

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

32

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

33

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

34

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

35

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

36

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

37

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas Anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

38

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 17. Mai 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

39

a. Dabei kann letztlich dahinstehen, ob der Kläger bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist.

40

Der Kläger hat schon im Verwaltungsverfahren sowohl bei seiner Erstbefragung am Tag der Asylantragstellung, dem 28. April 2016, wie auch im Rahmen seiner Anhörung am 12. Mai 2016 angegeben, Schuldirektor gewesen zu sein (vgl. Bl. 31 und 39 der Verwaltungsakte). Diese bereits im frühen Verfahrensstadium und ohne jeglichen Hinweis auf irgendwelche an die entsprechende berufliche Tätigkeit erlittenen Verfolgungsmaßnahmen erhobene Behauptung hält der Senat für durchaus plausibel und hat auch auf der Grundlage des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung keine Zweifel daran, dass der Kläger wie von ihm behauptet in Syrien als Schuldirektor gearbeitet hat.

41

Anders verhält es sich indessen hinsichtlich des im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens immer weiter gesteigerten Vorbringens. So hat der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren plötzlich die Teilnahme an Demonstrationen und die Festnahme von Familienmitgliedern behauptet sowie, wegen Wehrdienstentziehung gesucht zu werden – obwohl er bei seiner Anhörung durch das Bundesamt unter Hinweis auf die Fehlbildung seiner linken Hand angegeben hatte, keinen Wehrdienst leisten zu müssen. Im Berufungsverfahren hat er sogar erstmals angegeben, im September 2014 bei einer regierungsfeindlichen Demonstration vom syrischen Geheimdienst verhaftet, 14 Tage festgehalten, gefoltert und gezwungen worden zu sein, den Geheimdienst künftig über regierungskritische Äußerungen seiner Schüler zu unterrichten. Diese Steigerungen hat der Kläger nach der Überzeugung des Senats auch bei seiner Befragung durch den Senat am 12. April 2018 nicht befriedigend zu erklären vermocht.

42

b. Selbst, wenn man danach – wozu der Senat neigt – nicht von einer Vorverfolgung des Klägers ausgeht, so ergibt sich eine begründete Furcht vor Verfolgung jedoch jedenfalls aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

43

aa. Zwar kann, anders als das Verwaltungsgericht in seinem Urteil meint, eine solche Gefährdung nicht schon unter Hinweis darauf bejaht werden, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

44

Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug auf sein Urteil vom 16. Dezember 2016 – 1 A 10922/16.OVG –, juris, und die zu dieser Frage bisher ergangene übereinstimmende obergerichtliche Rechtsprechung (OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 – ; Bayerischer VGH, Urteile vom 12. Dezember 2016 – 21 B 16.30364 – und vom 21. März 2017 – 21 B 16.31013 –; OVG Saarland, Urteile vom 2. Februar 2017 – 2 A 515/16 – und vom 17. Oktober 2017 – 2 A 365/17 –; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21. Februar 2017 – 14 A 2316/16.A; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 27. Juni 2017 – 2 LB 91/17 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. August 2017 – A 11 S 710/17 –; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. November 2017 – OVG 3 B 12.17 –; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 – 1 Bf 81/17.A –; OVG Bremen, Urteil vom 24. Januar 2018 – 2 LB 194/17 –; Sächsisches OVG, Urteil vom 7. Februar 2018 – 5 A 1245/17.A –; vgl. auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 29. März 2017 – 3 L 249/16 – und vom 22. Dezember 2017 – 3 L 348/17 –; offen lassend allein Hessischer VGH, Urteil vom 6. Juni 2017 – 3 A 3040/16.A –; allesamt in juris).

45

bb. Dem Kläger droht im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien indessen zur Überzeugung des Senats beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung, weil er seinen Arbeitsplatz als Direktor einer Schule unerlaubt verlassen hat und illegal ausgereist ist, um im Ausland Schutz zu suchen.

46

Syrischen Staatsbediensteten ist das Verlassen des Landes ohne eine entsprechende Erlaubnis ihrer Beschäftigungsbehörde grundsätzlich untersagt. Zwar erhalten verschiedenen Quellen zufolge Bedienstete in nicht sensiblen Bereichen – wie etwa Lehrer – eine solche Erlaubnis in der Regel ohne Schwierigkeiten. Wer jedoch das Land unerlaubt verlassen hat, muss bei seiner Rückkehr mit einer Untersuchung rechnen, mit der die Gründe hierfür aufgeklärt werden sollen. Abhängig vom Ergebnis wird dann der Berichtslage zufolge versucht, eine Lösung zu finden, um eine Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erleichtern; die Ursache dieser Kompromissbereitschaft wird darin gesehen, dass dem Regime daran gelegen sei, sich seine Unterstützer zu erhalten (vgl. zum Ganzen Danish Refugee Council / Danish Immigration Service, August 2017).

47

Vorliegend ist der Kläger eigenem Bekunden zufolge bereits im Februar 2015 von D... nach Damaskus geflohen, hat sich dort versteckt und Syrien sodann im November 2015 verlassen. Selbst wenn man die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens einmal dahinstehen lässt und unterstellt, dass der Kläger in Wahrheit legal und mit einer Ausreiseerlaubnis versehen das Land verlassen hat, so hätte er zumindest die syrischen Behörden über den Zweck seiner Ausreise und seine Absicht, nicht nach Syrien zurückzukehren, getäuscht und müsste im Falle einer Rückkehr jedenfalls aus diesem Grunde mit einer Untersuchung rechnen.

48

Für den – hypothetischen – Fall einer solchen Untersuchung erschiene es in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger in Anknüpfung an seine illegale Ausreise eine oppositionelle Haltung unterstellt würde. Als maßgeblichen Grund hierfür sieht der Senat an, dass der Kläger als Schulleiter einer Schule mit rund 450 Schülern eine – auch nach außen hin – deutlich hervorgehobene Position im syrischen Verwaltungsapparat innehatte. Die Vergabe und das Innehalten jedenfalls eines solchen hervorgehobenen Amtes ist in diktatorischen Herrschaftssystemen wie dem syrischen der Lebenserfahrung nach mit der Erwartung loyalen Verhaltens der Führung gegenüber verbunden. Das illegale Verlassen des Arbeitsplatzes würde demgemäß nach Ansicht des Senats vom syrischen Regime beachtlich wahrscheinlich als Bruch dieser Loyalität und damit einhergehend als Ausdruck der Gegnerschaft aufgefasst werden, so dass es naheliegt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr als Oppositioneller behandelt und damit beachtlich wahrscheinlich der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre. Hierfür spricht auch der Umstand, dass Deserteuren aus der syrischen Armee – anders als Personen, die sich lediglich einer Einberufung zum Wehrdienst entzogen haben – Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur extralegalen Tötung drohen, welche einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende, auf eine vermutete oppositionelle Haltung abzielende Gerichtetheit aufweisen (vgl. dazu bereits Urteil des Senats vom 16. Dezember 2016 – 1 A 10922/16.OVG –, juris, m. w. N.).

49

Besondere Umstände, welche aus Sicht des syrischen Regimes eine abweichende Bewertung rechtfertigen könnten – beispielsweise, dass die Schule in den Händen des IS und der Kläger hierdurch im Zeitpunkt des Verlassens seiner Position dieser faktisch enthoben gewesen wäre (vgl. dazu etwa OVG Bremen, Urteil vom 24. Januar 2018 – 2 LB 194/17 –, juris) – sind vorliegend nicht erkennbar.

50

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

51

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor.

52

Die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO.

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