Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 MB 11/10
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – Einzelrichter der 8. Kammer – vom 03. Mai 2010 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert beträgt 7.500,-- Euro.
Gründe
I.
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Die Antragsteller wenden sich als Nachbarn gegen das Bauvorhaben der Beigeladenen auf dem Grundstück … . Sie sind der Ansicht, dieses Bauvorhaben füge sich nicht in die nähere Umgebung ein, weil die faktische hintere Baugrenze missachtet werde. Das Bauvorhaben wirke zudem rücksichtslos, weil es zu einer Verschattung ihrer Terrasse aus der Hauptsonnenrichtung (Südwest) führen werde.
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Das Verwaltungsgericht – Einzelrichter der 8. Kammer - hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 16. November 2009 mit Beschluss vom 03. Mai 2010 abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde.
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Die Antragsgegnerin und die Beigeladene halten die Beschwerde für unbegründet und beantragen deren Zurückweisung.
II.
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1) Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag nach §§ 80 Abs. 5 S. 1, 80 a Abs. 3 S. 2 VwGO zu Recht abgelehnt. Die angefochtene Baugenehmigung verletzt keine Rechte der antragstellenden Nachbarn.
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Der Senat folgt den Gründen des erstinstanzlichen Beschlusses und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen darauf Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe rechtfertigen keine für die Antragsteller günstigere Beurteilung.
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a) Dem Bauvorhaben der Beigeladenen kann die Überschreitung einer „faktischen hinteren Baugrenze“ nicht entgegengehalten werden.
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Baugrenzen und Baulinien dienen in beplanten Bereichen in der Regel öffentlichen (städtebaulichen) Belangen. Für die Annahme, dass sie darüber hinaus auch Rechte des Nachbarn schützen sollen, bedarf es besonderer Anhaltspunkte. Diese können in Plangebieten aus speziellen planerischen Zielvorstellungen oder aus der Planbegründung entnommen werden. In unbeplanten Bereichen – wie hier - fehlen solche Grundlagen; eine planerische Entscheidung der Gemeinde ist hier nicht gegeben. Damit fehlt eine Grundlage für eine zu Gunsten der Antragsteller bestehende drittschützende Wirkung der „faktischen hinteren Baugrenze“ (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.11.1994, 8 S 2937/94, Juris [Tz. 3]). Es könnte allenfalls erwogen werden, ob aus den Genehmigungen über die bisher entstandenen Bauvorhaben „faktisch“ eine Aussage zum Nachbarschutz abgeleitet werden kann. Das scheitert indes schon daran, dass die Bebauung am … kein derart homogenes Gepräge aufweist, dass daraus eine bestimmte, auf den Schutz der Nachbarn gerichtete Einschränkung der Bebauungstiefe im Sinne einer „faktischen hinteren Baugrenze“ abgeleitet werden könnte.
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Selbst wenn man eine – auch die Nachbarschaft schützende – „faktische hintere Baugrenze“ annehmen wollte, wäre daraus noch keine Rechtsverletzung der Antragsteller abzuleiten. Der von ihnen angenommene Verlauf der hinteren Baugrenze in gerader Verlängerung der rückwärtigen Gebäudefluchten auf den Grundstücken …erscheint als einseitig - im Sinne der Interessen der Antragsteller – gewählt. Würde man die „faktische“ Grenze in Anlehnung an die hinteren Gebäudefluchten auf den Grundstücken …, … und … sowie unter Berücksichtigung des Straßenverlaufs und der „Tiefe“ der Grundstücksbebauung definieren, ergäbe sich ein anderes Bild, das – bezogen auf das Bauvorhaben der Beigeladenen – allenfalls eine geringe Überschreitung einer „faktischen hinteren Baugrenze“ um max. ca. 4 m ergäbe. In einem Fall (…) ist die Bebauung ähnlich „tief“, wie es für das Vorhaben der Beigeladenen vorgesehen ist; die Bebauungstiefe auf den Grundstücken … (ca. 16 – 18 m) wird von den meisten anderen Grundstücken überschritten (ca. 20 – 25 m).
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Unter den dargestellten Umständen kann hinsichtlich einer „faktischen hinteren Baugrenze“ auch kein nachbarrechtliches „Austauschverhältnis“ angenommen werden, wie es für seitliche Baugrenzen zwischen den an der derselben Grundstücksseite liegenden Nachbarn bestehen kann (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 17.12.2009, 8 S 1669/09, Juris [Tz. 9]).
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b) Die Antragsteller können dem Bauvorhaben der Beigeladenen auch nicht entgegenhalten, dass es sich – insbesondere hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche - in die nähere Umgebung nicht einfüge (§ 34 Abs. 1 BauGB).
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Der planungsrechtlichen Bestimmung in § 34 Abs. 1 BauGB kommt grundsätzlich keine drittschützende Wirkung zu (BVerwG, Urt. v. 13.06.1969, 4 C 234.65, BVerwGE 32, 173). Nur in besonderen Fällen, in denen durch die Art oder das Maß der baulichen Nutzung, durch die Bauweise oder durch die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, das Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, kann Nachbarschutz in Betracht kommen, wenn von dem Bauvorhaben eine qualifizierte Störung ausgeht (BVerwG, Urt. v. 23.05.1986, 4 C 34.85, NVwZ 1987, 128; Beschl. v. 20.01.1992, 4 B 228.91, Juris; Mampel, Nachbarschutz im öff. Baurecht, 1994, Rn. 1012 m. w. N.).
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Im vorliegenden Fall ist ein solcher Fall nicht gegeben. Die Ansicht der Antragsteller, dass der „grundstücksübergreifende Gartenbereich“ aufgehoben und das gesamte Baugebiet „in seiner Struktur verändert“ werde (S. 6 der Beschwerdebegründung), erscheint in Anbetracht der tatsächlichen, aus den vorgelegten Lageplänen ablesbaren Situation als überzogen. Die Nutzung des Gartens der Antragsteller wird durch das Vorhaben der Beigeladenen nicht wesentlich gestört. Allein eine partielle Sichtfeldeinschränkung in südwestlicher Richtung ist nicht rücksichtslos; die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Erhaltung einer ungeschmälerten Aussicht auf Nachbargärten.
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c) Eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Beigeladenen lässt sich – schließlich - weder unter dem Aspekt einer Verschattung des Garten- und Ruhebereichs des Gartens der Antragsteller noch im Hinblick auf die Abstandsfläche begründen.
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Nach den für Kiel maßgeblichen 12.00 Uhr - Sonnenstandswinkeln von max. 60° im Sommer, ca. 35° im Frühjahr und Herbst bzw. von min. 12° im Winter (vgl. das Diagramm „Kiel“ im Internet unter cgi.stadtklima-stuttgart.de) sind morgens bis frühnachmittags Verschattungen zu erwarten, die im Sommer gering ausfallen, im Frühjahr/Herbst und im Winter dagegen weiter in Teile des Grundstücks der Antragsteller hineinreichen werden. Allein diese Wirkungen, die nur für einen Teil des Tages und bei „klarer“ Sonne spürbar sind und bei südwestlicher Sonne – also ab ca. 15.00 Uhr - den (bisher) „freien“ Garten der Antragsteller nicht betreffen können, begründen keine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens. In bebauten innerörtlichen Bereichen muss mit derartigen (begrenzten) Verschattungs-wirkungen ebenso gerechnet werden, wie mit veränderten Möglichkeiten des Ausblicks oder der Einsichtnahme. Das Rücksichtnahmegebot gewährleistet keine bestimmte Dauer oder "Qualität" der Tagesbelichtung oder die unveränderte Beibehaltung einer einmal gegebenen Besonnung eines Grundstücks. Diese Frage wird nur mittelbar - über das Abstandsflächenrecht – erfasst (Urt. des Senats vom 20.01.2005, 1 LB 23/04, NordÖR 2005, 314; vgl. auch OVG Münster, Beschl. V. 09.02.2009, 10 B 1713/08, NVwZ-RR 2009, 459/460).
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Die Abstandsflächen gem. § 6 Abs. 1 und 5 LBO sind unstreitig gewahrt. Dies indiziert nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats (a.a.O.), dass keine rücksichtslose Bebauung entsteht. Insbesondere eine ausreichende Besonnung ist damit gesichert (Domning/Möller/Suttkus, Bauordnungsrecht Schleswig-Holstein, Stand Okt. 2007, § 6 LBO Rn. 2).
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Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass bei Wahrung der Abstandsflächen zumindest im Regelfall keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots anzunehmen ist (BVerwG, Beschl. v. 11.01.1999, 4 B 128.98, NVwZ 1999, 879 [bei Juris Tz. 4 a. E.]). Ausnahmen bleiben möglich, wenn von einem Bauvorhaben Beeinträchtigungen ausgehen, die auch bei Abstandsflächenwahrung nicht zuzumuten sind, wie dies etwa in Fällen einer abriegelnden, „erdrückenden“ Wirkung eines Bauvorhabens der Fall sein kann (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.01.2007, 1 ME 80/07, BRS 71 Nr. 88).
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Der Ansicht der Antragsteller (S. 8 der Beschwerdebegründung), nach der Reduzierung der Abstandsflächen durch die am 01. Mai 2009 in Kraft getretene neue Landesbauordnung (§ 6 Abs. 5 LBO) von früher 1 H auf nunmehr 0,4 H sei die „Aussagekraft“ der Wahrung der Abstandsflächen für die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots entfallen, ist in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Es trifft zwar zu, dass der Landesgesetzgeber mit der Reduzierung der Abstandsfläche auf 0,4 H den „bauordnungsrechtlich zu sichernden Mindestabstand“ definieren wollte, ohne damit (weitere) „städtebauliche Nebenzwecke“ zu verfolgen. Dabei ging es um das Ziel einer ausreichenden „Ausleuchtung der Aufenthaltsräume mit Tageslicht“ (Landtags-Drs. 16/1675, S. 146, 147). Die Abstandsflächenreduzierung fällt im Bereich des früher geltenden sog. Schmalseitenprivilegs (§ 6 Abs. 6 LBO a. F.) nur geringfügig aus, indem sie 0,5 H auf 0,4 H zurückführt. Die gesetzliche Neuregelung hält an einem Mindestabstand von 3 m fest (§ 6 Abs. 5 Satz 1 LBO). Die Mindestanforderungen an den Zugang von Licht, Luft und Sonne, den Brandschutz und den „Sozialabstand“ sind damit auch in Bezug auf das Rücksichtnahmegebot definiert worden; ein Mehr an Rücksichtnahme aus tatsächlichen Gründen kann der Nachbar im Regelfall nicht verlangen (vgl. – in diesem Sinne – ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30.10.2009, 10 S 26.09, Juris [Tz. 16-17], OVG Hamburg, Beschl. v. 26.09.2007, 2 Bs 188/07, NordÖR 2008, 73 ff.).
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Soweit in der Rechtsprechung die indizielle Bedeutung der Abstandsflächenwahrung für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots bezweifelt worden ist, betraf dies die Fallgestaltungen einer „erdrückenden“ Wirkung eines Bauvorhabens (OVG Bautzen, Beschl. v. 20.10.2005, BRS 69 Nr. 128 [bei Juris Tz. 7]). Eine „eigenständige Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme“ wird nur bei einer „nachhaltigen Verkürzung der Abstandsfläche“ für geboten erachtet; „im Übrigen“ könne die Einhaltung der Abstandsfläche für die Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme aussagekräftig“ bleiben (OVG Münster, Beschl. v. 09.02.2009, a.a.O.).
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Von einer „erdrückende Wirkung“ ist das Bauvorhaben der Beigeladenen weit entfernt. Aus welchen Gründen die Antragsteller die „eigentliche“ Nutzung ihres Gartens infolge dieses Bauvorhabens als „gänzlich vereitelt“ ansehen, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Eine „abriegelnde“ Wirkung nach Süden ist ebenfalls nicht zu erkennen; das Bauvorhaben der Beigeladenen kann schon nach seinen – einem „normalen“ Einfamilienhaus am … entsprechenden - Abmessungen eine solche Riegelwirkung nicht entfalten. Die dramatisierenden Rügen der Antragsteller laufen letztlich darauf hinaus, den Status Quo hinsichtlich des „freien“ Ausblicks – auch – auf den Hintergarten ihres Nachbargrundstücks zu bewahren. Ein dahin gehender Anspruch existiert nicht.
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d) Soweit die Antragsteller beanstanden, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen über ihrem Grundstück „thront“, ist auch daraus keine Rücksichtslosigkeit abzuleiten. Die Höhenlage ist, was die Bestimmung der Höhe des Erdgeschossfußbodens anbetrifft, durch den „Auflagenbescheid“ der Antragsgegnerin vom 04. Dezember 2009 – neu – auf 22,70 m über NN (zuvor: 23,68 m) bestimmt worden. Der Sache nach ist mit diesem Bescheid die Baugenehmigung geändert worden; ob dieser Rechtslage mit der Bezeichnung „Auflagenbescheid“ zutreffend entsprochen worden ist, mag auf sich beruhen. Im Widerspruchsbescheid vom 17. März 2010 hat die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung des „Auflagenbescheides“ angeordnet. Der Entscheidung über den vorliegenden Antrag der Antragsteller ist folglich der geänderte Genehmigungsinhalt zugrunde zu legen. Die „neue“ Höhenlage des Erdgeschossfußbodens von 22,70 m über NN ist nach Aktenlage unter Berücksichtigung der entsprechenden Höhe des alten (abgerissenen) Gebäudes auf dem Grundstück der Beigeladenen bestimmt worden (s. Bl. 51, 52 der Beiakte A). Durch die knapp 1 m tiefere Ausführung des Erdgeschossfußbodens wird das Vorhaben der Beigeladenen insgesamt weniger „aufragen“ als nach bisheriger Planung.
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Der Umstand, dass die Beigeladene gegen den „Auflagenbescheid“ Klage erhoben hat (VG 8 A 75/10), über die noch nicht entschieden worden ist, ändert an der angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit dieses Bescheides nichts. Die Klage der Beigeladenen könnte nur Erfolg haben, wenn die ursprünglich genehmigte Höhenlage ohne Verletzung von Nachbarrechten der Antragsteller ausgeführt werden könnte. Dies erscheint im Hinblick auf die überzeugenden Gründe des Widerspruchsbescheides der Antragsgegnerin vom 17. März 2010 zweifelhaft. Ob eine „Aufschüttung“ tatsächlich stattgefunden hat, was die Beigeladene im Klageverfahren VG 8 A 75/10 bestreitet, kann dahinstehen, wenn jedenfalls der Erdgeschossfußboden höher ausgeführt werden soll, als es bei dem abgerissenen Bau der Fall war, und der Neubau damit – im Ergebnis – über „die Höhe der umgebenden Gebäude hinausgeht“ (Widerspruchsbescheid, S. 2). Einer abschließenden Entscheidung bedarf es dazu hier nicht, weil der Rechtsschutz der Antragsteller insoweit sowohl durch die wegen der Höhenlage angeordnete Baueinstellung („Baustopp“ i. S. d. § 59 Abs. 2 Nr. 1 LBO; s. Schreiben der Beigeladenen vom 15.12.2009, Bl. 67 der Beiakte A) als auch durch ihre Beteiligung an dem Verwaltungsrechtsstreit VG 8 A 75/10 sichergestellt ist.
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2) Die Beschwerde war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen folgt aus § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 63 Abs. 2 GKG. Das im erstinstanzlichen Beschluss dazu Ausgeführte gilt auch für das Beschwerdeverfahren.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 S. 5, 66 Abs. 3 S. 3 GKG).
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