Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 24/18

Tenor

Das Beschwerdeverfahren des Antragstellers wird entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 1. Kammer - vom 21. Dezember 2017 geändert:

Dem Antragsgegner wird untersagt, vor einer rechtskräftigen Entscheidung über die zum Az. 1 A 59/17 beim Verwaltungsgericht anhängigen Hauptsacheklage aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber der Antragstellerin durchzuführen. Die Verpflichtung, sich auf Anordnung der Antragsgegnerin (fach)ärztlich untersuchen zu lassen, bleibt hiervon unberührt.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Parteien je zur Hälfte.

Gründe

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Der Prozessbevollmächtigte hat die Beschwerde mit Schriftsatz vom 2. Februar 2018 auf die Antragstellerin  beschränkt. Das Beschwerdeverfahren des Antragstellers war deshalb entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

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Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig; sie hat auch Erfolg.

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Der Senat sieht das Vorliegen eines Duldungsgrundes wegen Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG spätestens nach der im Beschwerdeverfahren erfolgten Vorlage der ärztlichen Stellungnahme zur Reisefähigkeit vom 22. Februar 2018 als glaubhaft gemacht an. Ein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt u.a. dann vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben und damit für die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Grundrechte zu befürchten ist. Besteht diese Gefahr unabhängig vom konkreten Zielstaat, kommt ein sogenanntes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen Reiseunfähigkeit in Betracht und dies in zwei Fällen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange ein Ausländer wegen einer Erkrankung transportunfähig ist, das heißt, wenn sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des Reisens wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne). Außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs kann sich zum anderen eine konkrete Gesundheitsgefahr aus dem ernsthaften Risiko ergeben, dass sich der Gesundheitszustand gerade durch die Abschiebung als solche wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (sogenannte Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Die beschriebenen Gefahren können sich auch aus einer festgestellten psychischen Erkrankung ergeben (OVG Schleswig, Beschl. v. 9. Dezember 2011 – 4 MB 63/11 – Umdruck S. 4; Bayr. VGH, Beschl. v. 5. Juli 2017 – 19 CE 17.657 -, juris Rn. 20, jeweils m.w.N.). Dabei bedarf es im Falle der Geltendmachung einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne wegen psychischer Erkrankung einer Abgrenzung zur Fallgruppe des sogenannten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG, dessen Nichtvorliegen im Asylverfahren vorliegend gemäß § 42 Satz 1 AsylG mit Bindungswirkung für die Ausländerbehörde festgestellt worden ist.

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Das inlandsbezogene Abschiebungshindernis der Reiseunfähigkeit (im weiteren Sinne) liegt dann vor, wenn – ohne Berücksichtigung der allgemeinen Versorgungssituation im Zielstaat – eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes gerade infolge der Abschiebung zu erwarten wäre. Erforderlich ist ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Abschiebevorgang (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 10. August 2017 – 11 S 1724/17 -, juris Rn. 6). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es in Einzelfällen zur Wahrung der Grundrechte der Betroffenen geboten sein, dass die deutschen Behörden vor einer Abschiebung mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und gegebenenfalls zum Schutz des Ausländers Vorkehrungen treffen. Insbesondere besteht eine Verpflichtung der mit dem Vollzug einer Abschiebung betrauten Stellen, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand eines Ausländers folgende tatsächliche Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten. Die der zuständigen Behörde obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, kann es in Einzelfällen gebieten, sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer regelmäßig auf den dort allgemein üblichen Standard zu verweisen ist (BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 17.September 2014 – 2 BvR 732/14 -, juris Rn. 14).

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Die Ausländerbehörden sind gehalten, zu prüfen, ob eine „vorläufige“ beziehungsweise „momentane“ Reiseunfähigkeit im Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung noch andauert (BVerfG, Kammerbeschl. v. 26. Februar 1998 – 2 BvR 185/98 -, juris Rn. 4). Dies folgt aus dem Umstand, dass es sich bei einer geltend gemachten Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne und einer möglicherweise daraus oder aus den besonderen Belastungen einer Abschiebung resultierenden Selbstmordgefahr um eine Abschiebung regelmäßig nur vorübergehend hindernde Umstände handelt. Auch bei einer nicht völlig auszuschließenden Suizidgefahr liegt nicht zwangsläufig ein krankheitbedingtes Abschiebungshindernis vor, wenn die Abschiebung von der Ausländerbehörde so gestaltet werden kann, dass der Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (Bayr. VGH, Beschl. v. 5. Juli 2017 – 19 CE 17.657 -, juris Rn. 29). Ob dies hinreichend sichergestellt ist, kann allerdings nicht abstrakt, sondern nur unter Würdigung der Einzelfallumstände beantwortet werden.

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Ferner ist in den Blick zu nehmen, dass nach der Bestimmung des mit Wirkung zum 17. März 2016 (Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 – BGBl. I, S. 390) eingeführten § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG gesetzlich vermutet wird, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht (Satz 2). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände enthalten, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben (Satz 3). Bereits zuvor entsprach es der Rechtsprechung, dass vom Ausländer selbst vorgelegte ärztliche Stellungnahmen zu psychischen Erkrankungen nachvollziehbar die tatsächlichen Umstände anzugeben hatten, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt war (Befundtatsachen) sowie gegebenenfalls die Methode der Tatsachenerhebung zu benennen hatten. Ferner waren die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) nachvollziehbar ebenso darzulegen wie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben (prognostische Diagnose), wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalles richten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 2. November 2017 - OVG 11 B 8.16 - , juris Rn. 23; BVerwG, Urt. v. 10. September 2007 – 10 C 10/17 -, juris Rn. 15).

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Vorliegend hat das Verwaltungsgericht die Auffassung vertreten, dass durch die ärztlichen Stellungnahmen des Zentrums für Integrative Psychiatrie (ZIP) vom 8. Februar 2016, 4. August 2016 und vom 24. März 2017 die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt worden sei. Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen stellten nur fest, dass eine Reiseunfähigkeit vorliege, ohne konkret darzulegen, dass sich das Krankheitsbild infolge einer Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Es werde nur auf die möglichen Folgen einer Unterbrechung oder eines Abbruchs der Behandlung abgestellt. Es sei nicht nachvollziehbar, auf welchen Befundtatsachen die prognostischen Diagnosen beruhten. Aus der ärztlichen Feststellung einer behandlungsbedürftigen Erkrankung könne nicht ohne die erforderliche qualifizierte Begründung gefolgert werden, die Antragstellerin sei nicht reisefähig. Ein Attest, dem nicht zu entnehmen sei, wie es zur prognostischen Diagnose komme und welche Tatsachen dieser zugrunde liegen, sei nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen. Im Übrigen könne einer Suizidgefahr mit der verfügten Maßgabe begegnet werden, dass die Abschiebung nur in Begleitung eines Arztes / einer Ärztin unter Mitgabe eines Vorrats von erforderlichen Medikamenten durchgeführt werden dürfe und die Empfangnahme der Antragstellerin am Flughafen des Zielstaats durch einen Arzt sichergestellt sei, der über die eventuell erforderliche weitere Behandlung – etwa eine stationäre Aufnahme – entscheide.

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Die vom Verwaltungsgericht angesprochenen Defizite rechtfertigen es spätestens nach Vorlage der im Beschwerdeverfahren zuletzt noch eingereichten aktuellen Stellungnahme nicht, die Ausführungen zur Suizidgefahr im Kontext der Abschiebung unberücksichtigt zu lassen.

9

Gemäß § 60a Abs. 2 c Satz 2 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Jedenfalls unter Berücksichtigung der weiteren aktuellen ärztlichen Stellungnahme zur Reisefähigkeit des Zentrums für Integrative Psychiatrie vom 22. Februar 2018 dürfte eine Glaubhaftmachung erfolgt sein. Die Leiterin des Ambulanzzentrums Dr. W. sowie die behandelnde psychologische Psychotherapeutin, die Dipl.-Psychologin Dr. K. führen aus, diagnostisch lägen bei der Antragstellerin eine schwergradige komplexe posttraumatische Belastungsstörung basierend auf erlebten Traumatisierungen im Herkunftsland und auf der Flucht mit dissoziativen Tendenzen sowie eine rezidivierende depressive Störung mit einer bereits nunmehr sehr lang anhaltenden schweren depressiven Episode einschließlich immer wiederkehrender suizidaler Gedanken und Impulse und somatischem Syndrom vor. Die diagnostische Einschätzung beruhe auf einem qualifizierten klinischen Interview, welches durch eine erfahrene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie durch eine psychologische Psychotherapeutin und Traumatherapeutin durchgeführt worden sei. Die Diagnosen würden im Behandlungsverlauf anhand von diagnostischen Gesprächen immer wieder überprüft. Aktuell liege bei der Antragstellerin eine deutlich verminderte Aufmerksamkeit, Konzentrations- und Merkfähigkeit, ausgeprägtes Grübeln, Denken, eingeengt auf das Erlebte und das bei Abschiebung Befürchtete, ausgeprägte innere Unruhe, ständige Nervosität, Zittern, Schwitzen, Frieren, permanente ausgeprägte Muskelanspannung einschließlich Zähnepressen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle, Übelkeit, gelegentliches Erbrechen, Magen- und Darmprobleme, Taubheitsgefühle, massive Schmerzen an vielen Körperstellen, ausgeprägt depressive Stimmung mit fehlender Schwingungsfähigkeit, Interessenlosigkeit, Freudlosigkeit, ausgeprägte Antriebsstörung, schnelle Erschöpfung, ein deutlich herabgesetztes Aktivitätsniveau, diverse massive Ängste mit Meideverhalten (z.B. Meiden, das Haus zu verlassen, Meiden von Menschenmengen oder öffentlichen Verkehrsmitteln oder dies nur in Begleitung; Angst vor der prüfenden Betrachtung durch andere Menschen, Angst vor Ärzten und körperlichen Untersuchungen, Angst vor Ämtern und Behörden, ständige Sorge, den Kindern oder dem Mann könne etwas zustoßen, Angst vor der Angst), Derealisations- und Depersonalisationserleben, tagsüber und nachts Intrusionen, ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, ausgeprägtes Misstrauen, Teilnahmslosigkeit, sozialer Rückzug, deutlich vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Gefühle von Wertlosigkeit, eine extrem negative und pessimistische Zukunftsperspektive, Hoffnungslosigkeit, Dysphorie, eine massive Ein- und Durchschlafstörung mit Früherwachen und fehlender Schlaferholsamkeit und Tagesschläfrigkeit, Morgentief, verminderter Appetit, Libidoverlust, Störung der Stress- und Emotionsregulation, leichte Kontroll- und Reinigungszwänge, interaktionelle Defizite, Somatisierung, Köperproblematik, ausgeprägte Suizidgedanken mit der authentischen Aussage, sich bei Rückkehr ins Herkunftsland zu suizidieren, vor. Neben psychotherapeutischen Gesprächen sei aufgrund der Schwere der Symptomatik zusätzlich eine medikamentöse Therapie eingeleitet worden. Frau X, die sich seit Juli 2015 in regelmäßiger ambulanter psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung im Ambulanzzentrum des Zentrums für Integrative Psychiatrie in Kiel befinde, benötige eine engmaschige und längerfristige psychotherapeutische Behandlung. Neben der Anamneseerhebung, Diagnostik und Beziehungsaufbau seien bisher in ersten Schritten die gemeinsame Erarbeitung eines plausiblen Entstehungs- und Aufrechterhaltungsmodells, Psychoedukation zu den einzelnen Störungsbildern, Aufbau einer tragfähigen Tagesstruktur, Aufbau von Ressourcen, Ruheinseln, Entspannung, Bewegung, Ausbau an Selbstfürsorge, Unterstützung beim Beziehungsmanagement, Vermittlung von Fertigkeiten zur Anspannungs- und Emotionsregulation, Vermittlung von Selbstberuhigungs-, Stabilisierungs-, Distanzierungs- und Dissoziations-Stopp-Techniken sowie eine psycho-pharmakologische Beratung und Psychopharmakotherapie erfolgt. Ausschlaggebend für das Ausbleiben einer nachhaltigen Linderung der Symptomatiken sei vor allem der unklare Aufenthaltsstatus der Patientin. Sobald sich Frau X mit der Möglichkeit der Rückführung in ihr Herkunftsland konfrontiert sieht, gerate sie in eine schwere suizidale Krise und äußere glaubhaft, sich bei Rückkehr umzubringen („ich werde nur tot wieder zurückgehen“). Bei einer Unterbrechung der Behandlung und Abschiebung der Familie X in den Kosovo sei nicht nur mit einer zusätzlichen massiven Verschlimmerung des Leidens zu rechnen, sondern es sei hoch wahrscheinlich, dass sich Frau X bei Rückkehr in den Kosovo suizidieren werde. Dies äußere sie konsistent, authentisch und glaubwürdig. Der Leidensdruck sei immens. Bei der Auseinandersetzung mit der Rückführung dekompensiere die Patientin sofort und reagiere suizidal. Sowohl die fachärztliche als auch die fach-psychologische Einschätzung auf dem Boden regelmäßiger therapeutischer Kontakte und des ausführlich beschriebenen psychopathologischen Befundes würden die Einschätzung untermauern, dass sich Frau X bei Durchsetzung der Rückführung suizidieren würde. Es drohe zum einen eine lebensbedrohliche Gesundheitsgefährdung im Falle der Abschiebung; zum anderen seien akute suizidale Handlungen konkret zu befürchten. Frau X benenne ganz klar wiederholt, nachdrücklich und glaubhaft, sich das Leben zu nehmen, wenn sie in den Kosovo zurück müsse. Eine Reisefähigkeit – jenseits der Transportfähigkeit – sei daher aus therapeutischer Sicht nicht gegeben. Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht könnten medizinische Maßnahmen aktuell eine Reisefähigkeit nicht herstellen.

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Die im Beschwerdeverfahren eingereichte ergänzende Stellungnahme des ZIP ist im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Etwa verbleibenden Zweifeln – beispielsweise werden in keiner der Stellungnahmen des ZIP die konkrete Anzahl der bisher absolvierten Beratungstermine benannt (vgl. dazu BVerwG, U. v. 11. September 2007 – 10 C 8/07 – , juris  Rn 15) – muss gegebenenfalls im anhängigen Hauptsacheverfahren (1 A 59/17) nachgegangen werden. Selbst wenn man eines oder mehrere der in § 60a Abs. 2 c Satz 3 AufenthG bezeichneten Qualitätskriterien als nicht (hinreichend) gegeben ansehen wollte, sind im vorliegenden Falle die Stellungnahmen des ZIP zumindest als „anderweitige tatsächliche Anhaltspunkte“ für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 60 a Abs. 2 d Satz 2 AufenthG im Wege einer Gesamtschau unter Einbeziehung aller bisher verfügbaren Erkenntnisse zu berücksichtigen (vgl. zur Aufklärungspflicht der Ausländerbehörde unter Einschaltung medizinischen Sachverstands bereits Senat, Beschl. v. 23. Februar 2018 - 4 MB 96/17 -).

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Vorliegend ist in die Gesamtschau zum einen einzustellen, dass mit den Stellungnahmen des ZIP vom 8. Februar 2016, 4. August 2016, 24. März 2017, 18. September 2017 und – im Beschwerdeverfahren eingereicht – 22. Februar 2018 gleichbleibend und vertiefend eine hohe Wahrscheinlichkeit suizidaler Handlungen im Kontext der Abschiebung prognostiziert wird und zum anderen seinerzeit der Amtsarzt Dr. Kampen aufgrund einer Untersuchung vom 6. Oktober 2016 in seiner Stellungnahme vom 10. Oktober 2016 ebenfalls von einer behandlungsbedürftigen Depression und von Angststörungen ausging und ärztlicherseits ein transportbedingt erhöhtes Risiko einer erheblichen Verschlechterung der Krankheit konstatiert hat. Ferner hat er seinerzeit angenommen, bei Vollzug der Abschiebung werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine Selbstgefährdung ergeben und es auch bei der Mitreise einer medizinisch und psychologisch geschulten Begleitperson als fraglich angesehen, ob das Risiko während oder zum Ende der Reise verringert werde.

12

Zwar hat aufgrund der behördlicherseits veranlassten Untersuchung vom 28. März 2017 im Kreishaus Rendsburg-Eckernförde der hinzugezogene Arzt B. in seiner Stellungnahme vom 28. März 2017 ausgeführt, aus ärztlicher Sicht bestünden keine Bedenken bei der geplanten Rückführungsmaßnahme auf dem Luftwege, sofern eine Begleitung durch einen Arzt sowie die Gabe von sedierenden Medikamenten (Tavor) bei Impulsdurchbrüchen erfolge. Herrn B. standen bei der Untersuchung alle dem Antragsgegner bekannten Berichte, amtsärztlichen und ärztlichen Stellungnahmen zu dem Gesundheitszustand der Antragstellerin zur Verfügung, jedoch setzt sich seine Stellungnahme weder mit der zurückliegenden Stellungnahme des Amtsarztes Dr. Kampen noch mit den bis dahin vorliegenden Stellungnahmen des ZIP auseinander.

13

Spätestens nach Vorliegen der aktuellen Stellungnahme des ZIP vom 22. Februar 2018 ist jedenfalls für das vorliegende Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes davon auszugehen, dass die Antragstellerin eine Erkrankung glaubhaft gemacht hat, die die Abschiebung beeinträchtigen kann.

14

Der Senat hat erwogen, ob die Maßgabe des Verwaltungsgerichts, mit der der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen worden ist, ausreicht, um die gesundheitlichen Belange der Antragstellerin zu wahren. Unter Berücksichtigung des grundsätzlich „momentanen“ Charakters einer Reiseunfähigkeit (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26. Februar 1998, a.a.O.) und der gebotenen Abgrenzung zur Problematik des zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses kann eine solche Maßgabe im Einzelfall ausreichend sein, um sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen während der Abschiebung und rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 -, juris Rn. 14). Gesundheitsgefahren, die mit einer drohenden Dekompensation und einer ärztlich bescheinigten Suizidalität während der Abschiebung einhergehen, kann häufig durch eine ärztliche Begleitung während des Fluges sowie einer ärztlich veranlassten Medikation begegnet werden. Im vorliegenden Falle wird eine erstmals durch das Gericht verfügte, eher abstrakte Maßgabe dem gebotenen Schutz von Art. 2 Abs. 2 GG jedoch nicht gerecht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 6. September 2017 – 2 M 83/17 – juris, Rn. 3). Bereits die (vom Verwaltungsgericht nicht zitierte) ärztliche Stellungnahme des ZIP v. 18. September 2017 führt unter der Überschrift „Reisefähigkeit“ aus, die Abschiebung würde bei der Antragstellerin mit Sicherheit eine massive Verschlechterung des psychischen Befundes herbeiführen, akute suizidale Impulse und Handlungen wären konkret zu  befürchten. Unter Berücksichtigung dieser und der weiteren im Beschwerdeverfahren eingereichten Stellungnahme (s.o.) hält der Senat eine erstmalige und notwendigerweise eher abstrakte Maßgabe durch die verwaltungsgerichtliche Entscheidung im Eilverfahren für nicht hinreichend. Dabei ist im vorliegenden Einzelfall auch zu berücksichtigen, dass nicht nur die Durchführung eines Suizids, sondern  auch das Eintreten einer massiven Gesundheitsbeeinträchtigung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Abschiebung verhindert werden muss (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 10. August 2017 – 11 S 1724/17 -, juris Rn. 31 f.).

15

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1, Abs. 2 VwGO.

16

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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