Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Saarlandes - 2 A 69/18
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 5. Februar 2018 – 3 K 1613/17 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens trägt die Beklagte.
Gründe
I.
Die 1995 in A in Syrien geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige, Araberin und sunnitische Muslima. Sie reiste nach ihren Angaben im August 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.
Bei einer Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit ihres Asylantrags gab die Klägerin unter anderem an, dass ihr Anfang August 2017 in Ungarn Fingerabdrücke abgenommen worden seien.
Im Rahmen einer persönlichen Anhörung Anfang September machte die Klägerin geltend, sie habe vor ihrer religiösen Heirat im September 2013 in T in der Provinz R und anschließend bis zur Ausreise aus Syrien im Februar 2016 in R selbst gewohnt. Da es keine funktionierenden Gerichte gegeben habe und ihr Mann A vom Wehrdienst „desertiert“ sei, habe die Hochzeit nicht mehr standesamtlich nachvollzogen werden können. Sie habe 2012 Abitur gemacht, sei ein Jahr zu Hause geblieben und habe dann geheiratet. Am 20.2.2016 seien sie und ihr Mann zu Fuß in die Türkei geflohen, dann nach Griechenland gereist, wo sie in Zelten gelebt hätten, und im Oktober 2016 nach Serbien gefahren. Dort seien sie neun Monate geblieben. Ungarn habe täglich fünf Personen von einer Liste einreisen lassen. Nachdem sie die ungarische Grenze übertreten hätten, seien sie sofort verhaftet worden, 15 Tage inhaftiert gewesen und wie Terroristen behandelt worden. Wenn jemand zum Arzt gemusst habe, sei er von vier bis fünf Polizisten begleitet worden. Wie Gefangene seien sie alle, ob schwerbehindert oder Kinder, in Containern untergebracht worden. Sie hätten etwas unterschreiben müssen, aber nichts von einem Asylantrag gewusst. Dann seien sie in ein Lager an der österreichischen Grenze gebracht worden, wo man sie aufgefordert habe, nach Deutschland zu gehen („Go to germany“). Sie seien mit dem Zug über Österreich nach Deutschland gefahren, wo sie eineinhalb Jahre nach der Flucht angekommen seien. Aus Syrien seien sie wegen des Krieges geflohen. Im ganzen Land gebe es keine Sicherheit mehr. Sie habe immer Angst vor Soldaten, Milizen, vor dem Islamischen Staat und vor Bombardierungen gehabt und versucht, das Haus nicht mehr zu verlassen. R sei damals unter der Kontrolle des Islamischen Staats gewesen und Frauen seien in der Öffentlichkeit gezüchtigt worden, wenn sie nicht richtig verschleiert gewesen seien. Sie habe damals eine Fehlgeburt erlitten und danach nicht mehr schwanger werden können. Es habe in R nur eine Ärztin gegeben. Nach der Desertion ihres Mannes hätten sie aber nur noch im Gebiet des Islamischen Staats leben können. Da das aber kein Leben mehr gewesen sei, seien sie ausgereist. Wenn sie nach Syrien zurückkomme, würden sie getötet.
Auf ein Wiederaufnahmeersuchen teilte die zuständige ungarische Stelle (Dublin Coordination Unit) am 8.9.2017 mit, dass die Regelungen der Dublin III–Verordnung nicht einschlägig seien, da der Klägerin in Ungarn bereits am 11.8.2017 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden sei. Für eine Rückführung sei daher das deutsch-ungarische Rückübernahmeabkommen einschlägig. Insoweit wurde auf die dafür zuständige Stelle beim ungarischen Polizeihauptquartier (National Police Headquarters) verwiesen.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Asylantrag der Klägerin im September 2017(vgl. den Bescheid des Bundesamts vom 15.9.2017 – 7202476-475 –) als unzulässig ab (Ziffer 1), verneinte das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote (Ziffer 2), forderte sie auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung oder nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihr für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Ungarn oder in einen anderen zur Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat, ausdrücklich ausgenommen Syrien, an (Ziffer 3). In der Begründung heißt es – soweit hier von Belang (zu Ziffern 1 und 2) – unter anderem, der Antrag auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland sei unzulässig. Die Klägerin habe bereits in Ungarn Schutz erhalten. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Ungarn zähle als Mitgliedstaat der Europäischen Union zu den sicheren Drittstaaten. Die derzeitigen humanitären Bedingungen führten auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Ihr drohe in Ungarn auch keine individuelle Gefahr für Leib und Leben.
Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben, die sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG beschränkte.
Das Verwaltungsgericht hat dieser Klage im Februar 2018 entsprochen und die Beklagte verpflichtet, im Falle der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.(vgl. VG des Saarlandes, Urteil vom 5.2.2018 – 3 K 1613/17 –) In den Entscheidungsgründen heißt es, zwar treffe zu, dass Ungarn Mitglied der Europäischen Union sei und daher prinzipiell die Vermutung bestehe, dass auch anerkannte Flüchtlinge gemäß den Vorschriften der EMRK behandelt würden. Diese Vermutung könne allerdings widerlegt werden, wenn ernsthafte und durch Tatsachen belegte Gründe für die Annahme vorlägen, dass ein Ausländer Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, den die geltenden asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union konkretisierten, ausgesetzt zu werden. Die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) gebe Mindeststandards vor, wie anerkannte Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten zu behandeln seien. Ein Abschiebungsverbot liege vor, wenn ernsthaft zu befürchten sei, dass die Aufnahmebedingungen im jeweiligen Mitgliedstaat systemische Mängel aufwiesen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des in diesen Mitgliedstaat abgeschobenen Ausländers implizierten. Nach diesen Maßstäben bestehe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Es sei nicht sichergestellt, dass die anerkannt Schutzberechtigten in Ungarn menschenwürdig behandelt würden, so dass ihrer Rückführung Art. 3 EMRK entgegenstehe. Der Senat habe in einem Grundsatzurteil vom März 2017 im Einzelnen ausgeführt, dass Ungarn ein System der flüchtlingsrechtlichen Verantwortungslosigkeit betreibe. Änderungen an der geschilderten Flüchtlingspolitik seien nicht ersichtlich.
Die Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil.
II.
Dem nach § 78 Abs. 2 Satz 1 AsylG statthaften Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 5.2.2018 – 3 K 1613/17 –, mit dem sie unter teilweiser Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.9.2017 verpflichtet wurde, im Falle der Klägerin das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, kann nicht entsprochen werden. Die Beklagte hat den Asylantrag hinsichtlich des insoweit nach dem § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG ergänzend beachtlichen Entscheidungsprogramms bezogen auf den Abschiebezielstaat Ungarn(vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 3.4.2017 – 1 C 9.16 –, NVwZ 2017, 1207, wonach sich die nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu treffende Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, in Fällen unzulässiger Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG nicht auf den Herkunftsstaat des Asylbewerbers, sondern auf den Zielstaat der Abschiebung bezieht, weil die Feststellung von Abschiebungsverboten in Bezug auf das Herkunftsland bei einer beabsichtigten Überstellung in einen EU-Mitgliedstaat „keinen Sinn ergäbe“) zu Unrecht abgelehnt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Das den Prüfungsumfang im Zulassungsverfahren begrenzende Vorbringen in der Antragsbegründung (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) rechtfertigt nicht die von der Beklagten begehrte Zulassung des Rechtsmittels wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinn, wenn sie eine im angestrebten Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird.(vgl. statt vieler OVG des Saarlandes, Beschluss vom 4.7.2016 – 2 A 161/16 –, SKZ 2017, 61, Leitsatz Nr. 1, zu § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
Die insoweit von der Beklagten aufgeworfenen Fragen, ob (1.) „für jeden in Ungarn internationalen Schutzberechtigten nach dessen Anerkennung eine Situation besteht, in der der Schutzbereich des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. des Art. 3 EMRK in einem generell nicht mehr zumutbaren Ausmaß beeinträchtigt ist“, sowie (2.) „nach welchen Maßstäben das Vorliegen einer Ausnahmekonstellation festzustellen ist, die vom Konzept der normativen Vergewisserung bei der Bestimmung eines sicheren Drittstaats nicht erfasst ist, d.h. insbesondere ob insoweit die Vorgaben der so genannten Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen sind“, rechtfertigen die begehrte Rechtsmittelzulassung nicht. Sie wären in dem angestrebten Berufungsverfahren nicht klärungsbedürftig beziehungsweise (weiter) klärungsfähig.
Nach dem § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag in Deutschland (grundsätzlich) als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union, zu denen das zum 1.5.2004 beigetretene Ungarn gehört, dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.(vgl. zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen in dem Zusammenhang bei einem Mitgliedstaat aufgrund seines Umgangs mit Flüchtlingen die aus der Mitgliedschaft herzuleitende Eigenschaft eines sicheren Drittstaats im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht (mehr) zuerkannt werden kann beispielsweise OVG des Saarlandes, Urteile vom 13.12.2016 – 2 A 260/16 –, AuAS 2017, 36, und vom 10.1.2017 – 2 A 330/16 –, SKZ 232, Leitsatz Nr. 52) Das ist hier geschehen. Der Klägerin war – unstreitig – im August 2017 bereits in Ungarn der von dem § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfasste subsidiäre Schutzstatus (§ 4 AsylG) zuerkannt worden. Diese Entscheidung zu Ziffer 1 im Bescheid der Beklagten vom 15.9.2017 ist jedoch bereits nicht Gegenstand des Rechtsbehelfsbegehrens der Klägerin, so dass sich die generelle Frage, ob Ungarn (noch) als „sicherer Drittstaat“ (Art. 16a GG, § 26a AsylG)(vgl. dazu allgemein – dort bezogen auf Bulgarien – OVG des Saarlandes, Urteil vom 25.10.2016 – 2 A 90/16, 2 A 91/16 und 2 A 95/16 –, SKZ 2017, 95, Leitsatz Nr. 60) angesehen werden kann, nicht stellen würde. Daher kommt es hier auch nicht auf die dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen mehrerer Vorabentscheidungsersuchen vorgelegte Frage an, ob ein Mitgliedstaat unionsrechtlich generell gehindert ist, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Gewährung subsidiären Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU als unzulässig abzulehnen, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für subsidiär Schutzberechtigte, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits subsidiären Schutz gewährt hat, gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstößt oder den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen.(vgl. zum Beispiel BVerwG, Beschluss vom 20.3.2017 – 1 C 20.16 –, Asylmagazin 2017, 294, anhängig beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-319/17)
In Fällen einer Ablehnung unzulässiger Asylanträge muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß dem § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG allerdings immer feststellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG für die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes, hier bezogen auf Ungarn, vorliegen oder nicht. Gegen die insoweit in der erstinstanzlichen Entscheidung enthaltene Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit den Regelungen der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) im Falle der Klägerin richtet sich der mit der Grundsatzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) begründete Zulassungsantrag der Beklagten.
Das Verwaltungsgericht hat indes im Fall der Klägerin zu Recht ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG für Ungarn bejaht. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer oder eine Ausländerin unter anderem nicht in einen Staat abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention die Unzulässigkeit dieser Maßnahme ergibt. Das ist mit Blick auf das dem Art. 3 EMRK zu entnehmende Verbot einer „unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“(vgl. hierzu Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 60 AufenthG Rn 35, und VGH Kassel, Beschluss vom 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A –, wo unter Verweis auf eine drohende Verletzung der Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK bezogen auf Ungarn eine Selbsteintrittspflicht (DublinIII-VO) bejaht wurde) in Bezug auf Ungarn bei der Klägerin zu bejahen. Die Rechtsprechung des Senats zu den Verhältnissen in Ungarn rechtfertigt auch vor dem Hintergrund des umfangreichen Vorbringens in der Begründung des Zulassungsantrags der Beklagten die Feststellung des Vorliegens eines solchen Abschiebungsverbots in ihrem Fall. Einen weiteren grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt der Vortrag der Beklagten nicht auf.
Im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Rückführung von Asylbewerbern nach Ungarn im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO hat der Senat im vergangenen Jahr in einer Vielzahl von Berufungsurteilen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer deutscher Obergerichte entschieden, dass eine Überstellung von Schutzsuchenden nach Ungarn gegenwärtig wegen der in diesem Land bestehenden systemischen Schwachstellen im Asylverfahren im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, vgl. die Urteile vom 21.12.2011 – C-411/10 – u.a., NVwZ 2012, 417, und vom 10.12.2013 – C 394/12 –, NVwZ 2014, 208), die für die Betroffenen die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtecharta (EGC) mit sich bringen, nicht zulässig ist.(vgl. dazu grundlegend OVG des Saarlandes, Urteile vom 9.3.2017 – 2 A 364/16 –, SKZ 2017, 233, Leitsatz Nr. 55, und vom 10.5.2017 – 2 A 373/16 –; ebenso OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.12.2016 – 8 LB 184/15 –, bei juris, und VGH Mannheim, Urteil vom 13.10.2016 – A 11 S 1596/16 –, DVBl. 2016, 1615) Danach fügen sich die rechtlichen und tatsächlichen Defizite im Asylverfahren in die generelle Ausrichtung der ungarischen Flüchtlingspolitik und die zugehörige Gesetzgebung ein. Die staatlich verordnete und organisierte Fremden- und Flüchtlingsfeindlichkeit, die mit dem Geist des gemeinschaftsrechtlichen Anliegens der angemessenen Aufnahme und Versorgung der vor Krieg und Verfolgung geflohenen Menschen fundamental unvereinbar ist, wird durch die öffentlichen Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán belegt, der beispielsweise anlässlich einer Pressekonferenz am 26.7.2016 Einwanderung in „sein“ Land generell als "Gift" bezeichnet hat:
"Ungarn braucht keinen einzigen Migranten, damit die Wirtschaft funktioniert. Deshalb braucht es keine europäische Einwanderungspolitik. Wer immer Migranten braucht, kann sie nehmen, doch zwingt sie uns nicht auf, wir brauchen sie nicht. Jeder einzelne Migrant stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar. Für uns ist Migration keine Lösung, sondern ein Problem. Nicht Medizin, sondern ein Gift, wir wollen es nicht und schlucken es nicht." (vgl. Zeit online vom 26.7.2016)
Diesen „markigen“ Aussagen hat die ungarische Regierung in vielfältiger Weise bis heute auch Taten folgen lassen, die mit dem europäischen Flüchtlingsrecht nicht vereinbar sind.(vgl. etwa zur Verschärfung von ungarischen Asylgesetzen im März 2017: Saarbrücker Zeitung vom 8.3.2017, Seite A 3, „Hinter Stacheldraht – Das neue Gesetz über die Festsetzung von Asylbewerbern in Ungarn ruft Kritik hervor. Der Regierungschef sieht das gelassen.“) Die dem Geist des gemeinschaftsrechtlichen Schutzanliegens für Flüchtlinge beziehungsweise subsidiäre Schutzberechtigte fundamental widersprechenden gezielten staatlichen Maßnahmen lassen unschwer erkennen, dass insoweit keinerlei Differenzierung vorgenommen wird zwischen „bösen“ Migranten, die sich (noch) im Asylverfahren befinden und „guten“ oder gar willkommenen Schutzsuchenden, denen der ungarische Staat, wie im Falle der Klägerin, auch wenn diese das offenbar selbst nicht einmal gemerkt hat, „auf dem Papier“ eine Schutzzusage erteilt hat.
Die von der Beklagten in ihrem Zulassungsantrag angeführten Gerichtsentscheidungen und Erkenntnisse sind – teilweise deutlich – älter als die genannten Entscheidungen des Senats aus dem Jahr 2017, so dass davon auszugehen ist, dass diese bei der Entscheidungsfindung Berücksichtigung gefunden haben und daher keine andere Bewertung rechtfertigen.
Die den Senatsentscheidungen zugrunde liegenden Verhältnisse in Ungarn haben sich seither jedenfalls nicht im Sinne der Flüchtlinge verbessert, eher sogar verschlechtert. Das belegt eine kleine Auswahl der Verlautbarungen vor allem des ungarischen Präsidenten aus dem laufenden Kalenderjahr. So verteidigte Viktor Orbán Anfang Januar erneut die generelle Weigerung seines Landes, insbesondere muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, mit dem Argument, dass es sich dabei in Wahrheit um „muslimische Invasoren“ und bei der Flüchtlingswelle um eine „Invasion“ handele. Sie liefen „nicht um ihr Leben“ und hätten vorher in anderen Ländern um Aufnahme bitten sollen, statt die „ungarische Grenze illegal zu durchbrechen“. Trotz der Weigerung Ungarns zur Aufnahme von Flüchtlingen nach dem von der Europäischen Union vorgeschlagenen Schlüssel bezeichnete er diese als „wunderbares Projekt“, an dem Ungarn gerne weiter teilhaben wolle. Gleichzeitig wolle man sich aber keine Flüchtlinge „aufzwingen“ lassen. Die Auflösung dieses Widerspruchs – von welcher Seite auch immer(vgl. dazu ZEIT ONLINE vom 13.9.2016 „Jean Asselborn will Ungarn aus der EU ausschließen“ oder Die Presse vom 19.2.2018, „Luxemburgs Außenminister Asselborn nennt Orban einen Diktator … und fordert dazu auf, Ungarn das Stimmrecht in der EU zu entziehen) – ist eine politische Frage, die hier nicht beschrieben werden muss.(vgl. zu dem zuvor Gesagten beispielsweise RP ONLINE vom 8.1.2028, „Orban nennt Flüchtlinge muslimische Invasoren“, FOCUS Online vom 8.1.2018, „Orban spricht von muslimischen Invasoren – seine Provokationen im Faktencheck“) Die absurdeste „Neuigkeit“ in dem Zusammenhang bildet das im negativen Sinn „konsequente“ Vorgehen der ungarischen Regierung gegen (nichtstaatliche) Organisationen, die sich für Flüchtlinge engagieren und die ihre Kosten überwiegend durch Unterstützung aus dem Ausland decken. Sie sollen mit Steuern belegt und stärker kontrolliert werden; deren ausländischen Mitarbeitern droht die Ausweisung aus Ungarn.(vgl. ZEIT ONLINE VOM 17.1.2018 „Ungarn plant Strafsteuer für Flüchtlingshelfer“ unter Bezugnahme auf entsprechende Äußerungen des ungarischen Innenministers Sándor Pintér) Das zeigt, dass die – vorsichtig ausgedrückt – „nationalkonservative“ ungarische Regierung generell verhindern will, dass den Flüchtlingen im Land überhaupt humanitäre Unterstützung auf diesem Wege zugutekommt. Den verschwörungstheoretischen Hintergrund bildet nach der Veröffentlichung die Behauptung, dass der aus Ungarn stammende US-Milliardär George Soros, der zahlreiche Zivilorganisationen finanziell unterstützt, die europäische Gesellschaft durch eine „Umsiedlung von Menschen anderer Kulturen“ verändern wolle, um Europa seiner „christlichen nationalen Identität zu berauben“. Alle diese Verlautbarungen und gesetzlichen Maßnahmen stehen in einem krassen Widerspruch zu der auch für Ungarn aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht ableitbaren Verpflichtung, sich um in Not geratene Flüchtlinge – gleich welcher Religion – zu kümmern und ihnen eine menschenwürdige Aufnahme angedeihen zu lassen. Als vorläufig letzten Höhepunkt seiner „Kampagne“ hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Ende Februar 2018 in einer „Rede zur Lage der Nation“ den Niedergang des Westens und das Ende Europas prophezeit und vorhergesagt, die europäischen Großstädte würden bald mehrheitlich muslimisch sein, die Nationen aufhören zu existieren und der Westen werde „fallen“.(vgl. FOCUS Online vom 20.2.2018, „Schock-Rede von Orban über EU: Woher die ungarische Untergangsangst kommt“) Den Flüchtlingshilfeorganisationen drohte der ungarische Regierungschef, dessen Partei Fidesz in Umfragen für die anstehende Parlamentswahl Anfang April bei etwa 50 % liegt, sie zu „schließen“, wenn sie nicht mit ihren „gefährlichen Tätigkeiten“ aufhörten.(vgl. ZEIT ONLINE VOM 18.2.2018 „Orbán droht Flüchtlingshilfsorganisationen mit Schließung“, dazu wiederum Der Tagesspiegel vom 20.2.2018 „Asselborn über Orbans Rede: Diese Einstellung passt zu einem Diktator, … dem der Machterhaltungstrieb wichtiger ist als jeglicher politischer moralischer Anstand“) Die Fülle dieser in der Tendenz einheitlichen und in der Botschaft eindeutigen Verlautbarungen und Maßnahmen garniert mit dem Slogan „Ungarn zuerst“ über einen langen Zeitraum ist auch nicht dem aktuell in Ungarn stattfindenden Wahlkampf geschuldet, sondern hat System. Der Klägerin ist daher vor dem Hintergrund des § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK derzeit trotz einer „Flüchtlingsanerkennung“ nicht zuzumuten, nach Ungarn zurückzukehren. Die insoweit in der Rechtsprechung des Senats und anderer deutscher Obergerichte zum Dublin-Verfahren für die Rückführung nach Ungarn bejahten drohenden Verletzungen der Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK wegen ernsthaft zu befürchtender unmenschlicher und erniedrigender Behandlung(vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A –, wo unter Verweis auf eine drohende Verletzung der Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK bezogen auf Ungarn eine Selbsteintrittspflicht (Dublin III-VO) bejaht wurde, ebenso OVG Bautzen, Urteil vom 6.6.2017 – 4 A 584/16.A –, juris; VGH München, Urteil vom 23.3.2017 – 13a B 17.50003 –, juris; OVG Saarland, Urteil vom 9.3.2017 – 2 A 365/16 –, Asylmagazin 2017, 156; OVG Niedersachsen, Urteil vom 15.11.2016 – 8 LB 92/15 –, DÖV 2017, 216; nachfolgend BVerwG, Beschluss vom 10.4.2017 – 1 B 11.17 –, juris; VGH Mannheim, Urteil vom 13.10.2016 – A 11 S 1596/16 –, DVBl 2016, 1615) gelten vor dem genannten Hintergrund für die in Ungarn „pro forma“ anerkannten aber ebenso unbeliebten international „Schutzberechtigten“ entsprechend. Anerkannt Schutzberechtigte haben im Rahmen des europäischen Asylsystems in gleicher Weise Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung und Unterbringung. Eine Differenzierung der ungarischen Führung hinsichtlich solcher „Invasoren“, die lediglich einen Asylantrag in Ungarn gestellt haben und (bereits) anerkannt Schutzberechtigten lässt sich den Äußerungen ungarischer Regierungsvertreter nicht ansatzweise entnehmen. Wegen der im Falle Ungarns gegenüber muslimischen Migranten generell fehlenden Aufnahmebereitschaft erscheint die beabsichtigte Rückführung der Klägerin außerdem aussichtslos. Vertieft werden muss dieser zusätzliche Aspekt hier nicht.
Von einer weiteren Begründung des Nichtzulassungsbeschlusses wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG. Der Gegenstandswert des Verfahrens ergibt sich aus dem § 30 Abs. 1 RVG.