Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 L 56/11

Gründe

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I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

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Der Kläger benennt schon keinen der in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Gründe, die allein eine Zulassung der Berufung erlauben. Aber auch wenn anzunehmen sein sollte, er mache ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend, kann der Zulassungsantrag keinen Erfolg haben. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht vor, wenn zwar einzelne Rechtssätze oder tatsächliche Feststellungen, welche das Urteil tragen, zu Zweifeln Anlass bieten, das Urteil aber im Ergebnis aus anderen Gründen offensichtlich richtig ist (BVerwG, Beschl. v. 10.03.2004 – 7 AV 4.03 –, DVBl 2004, 838). So liegt es hier.

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Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Klage, mit der sich der Kläger gegen die Aufhebung einer gegen den Beigeladenen am 23.01.2009 erlassenen bauaufsichtlichen Anordnung zum Verschließen zweier Dachflächenfenster mit harter Bedachung wendet und hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zum (erneuten) bauaufsichtlichen Einschreiten gegen den Beigeladenen begehrt, sei bereits wegen formeller Verwirkung unzulässig. Über seinen nachbarrechtlichen Abwehranspruch betreffend die beiden Dachfenster sei bereits bestandskräftig entschieden worden. Der Kläger habe bereits im April 2004 gegenüber der Beklagten ohne Erfolg ein Einschreiten gefordert. Das damalige Verfahren sei mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 10.02.2006 abgeschlossen worden. Das über zwei Jahre später mit Antrag vom 10.04.2008 vom Kläger erneut veranlasste Verfahren sei mithin in verwirkter Zeit anhängig gemacht worden.

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1. Der Kläger wendet hiergegen ein, eine Verwirkung setze neben dem Zeitmoment besondere Umstände voraus, die die verspätete Geltendmachung des Rechts als Verstoß gegen Treu und Glauben im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis erscheinen lassen. Dieses Merkmal, zu dem das Verwaltungsgericht nichts ausgeführt habe, sei hier nicht erfüllt. Insbesondere ein positives Tun seinerseits, wie etwa eine Erklärung, die als Einverständnis gewertet werden könnte, sei nicht ersichtlich. Zu einem Handeln sei er nicht verpflichtet gewesen, weil der streitige Dachausbau bereits abgeschlossen gewesen sei. Besondere Umstände, bei denen nach der Rechtsprechung eine Verwirkung angenommen werden könne, hätten weder im Zeitraum zwischen 2006 und dem erneuten Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten noch im Zeitraum zwischen dem Erwerb der Immobilie durch den Beigeladenen im Jahr 2002 und dem ersten Antrag im Jahr 2004 vorgelegen. Mit diesem Vorbringen vermag der Kläger im Ergebnis nicht durchzudringen.

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1.1. Zwar begegnen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur formellen Verwirkung Bedenken. Grundsätzlich ist zwischen materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Rechtspositionen zu unterscheiden, wobei die Verwirkung verfahrensrechtlicher Rechte des Nachbarn regelmäßig voraussetzt, dass eine Baugenehmigung zuvor erteilt worden ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.03.1988 – 4 B 50.88 –, NVwZ 1988,730). Dies ist hier in Bezug auf den Einbau der streitigen Dachflächenfenster – soweit ersichtlich – nicht der Fall. Ob auch dann von einer formellen Verwirkung gesprochen werden kann, wenn – wie hier – ein Nachbar einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten nicht im Klagewege weiterverfolgt, sondern die ablehnende behördliche Entscheidung hinnimmt, erscheint fraglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behörde auf einen erneuten Antrag des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten in eine neue Sachprüfung eintritt und einen Zweitbescheid erlässt, der den Klageweg neu eröffnet. Eine solche Fallkonstellation liegt hier vor. Die Beklagte hat – ungeachtet der Frage, ob ein solches Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne zu Lasten des Bauherrn zulässig ist (zweifelnd: VGH BW, Urt. v. 28.11.1989 – 10 S 1011/89 –, NVwZ 1990, 985 [988]) – den Antrag des Klägers vom 10.04.2008 zum Anlass genommen, die Zulässigkeit der Dachflächenfenster und einen eventuellen Beseitigungsanspruch des Klägers erneut zu prüfen. Die Frage, ob eine formelle Verwirkung vorliegt, kann indes offen bleiben.

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1.2. Der Kläger hat jedenfalls deshalb keinen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die beiden in Widerspruch zu § 31 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauO LSA (früher § 34 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauO LSA 1994) stehenden Dachflächenfenster, weil ein eventuelles Abwehrrecht jedenfalls materiell verwirkt ist.

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Materiellrechtliche Abwehrrechte des Nachbarn können auch gegenüber ungenehmigten Bauvorhaben verwirkt werden (BVerwG, Beschl. v. 18.03.1988, a.a.O.). Verwirkung als ein im Grundsatz von Treu und Glauben wurzelnder Vorgang der Rechtsvernichtung bedeutet, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) erscheinen lassen. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Das Verhalten des Berechtigten muss beim Verpflichteten also nicht nur die Vorstellung begründet haben, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht werde; der Verpflichtete muss sich hierauf auch tatsächlich eingerichtet haben (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. 16.05.1991 – 4 C 4.89 –, NVwZ 1991, 1182 [1184]). Die für eine Verwirkung nachbarlicher Abwehrrechte erforderliche Voraussetzung der Schaffung eines Vertrauenstatbestandes und einer Vertrauensbetätigung können auch in der Zeit nach Fertigstellung eines umstrittenen Bauvorhabens erfüllt werden, insbesondere wenn der umstrittene Baubestand über lange Jahre vom Nachbarn „widerspruchslos" hingenommen worden ist und der Bauherr in dieser Zeit Erhaltungsaufwendungen getätigt hat (vgl. SaarlOVG, Urt. v. 25.01.1994 – 2 R 12/93 –, BRS 56 Nr. 183). Dabei spielt ein Eigentumswechsel keine Rolle, da die jeweiligen Abwehrrechte dinglich, d. h. auf die beteiligten Grundstücke bezogen sind, so dass der neue Eigentümer in die Rechtsstellung des früheren einrückt (BayVGH, Urt. v. 28.03.1990 – 20 B 89.3055 –, BayVBl 1991, 725; VGH BW, Urt. v. 25.09.1991 – 3 S 2000/91 –, VBlBW 1991, 103; OVG MV, Urt. v. 05.11.2001 – 3 M 93/01 –, NVwZ-RR 2003, 15 [17], m.w.N.). Auch wenn es um die Einhaltung dem vorbeugenden Brandschutz dienender Vorschriften geht, können eventuelle nachbarliche Abwehrrechte verwirken (vgl. VGH BW, Urt. v. 25.09.1991, a.a.O.; SaarlOVG, Beschl. v. 16.02.2010 – 2 A 390/09 –, Juris, RdNr. 17).

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Gemessen daran sind Abwehrrechte des Klägers gegen die beiden streitigen Dachflächenfenster materiell verwirkt. Das erforderliche zeitliche Moment ist erfüllt. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts wurden die Fenster bereits Mitte der 90er Jahre im Zuge der Dachsanierung eingebaut, als der Beigeladene noch nicht Eigentümer des Baugrundstücks war. Der Kläger hat sich indes erstmals im April 2004 gegen die Dachfenster gewandt. Der Beigeladene durfte – wie schon der jeweilige Voreigentümer – auch darauf vertrauen, dass der Kläger eventuelle Abwehrrechte gegen den Fenstereinbau nicht mehr geltend machen werde. Nach den Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 15.05.2012 wurden alle baulichen Veränderungen und Instandhaltungen auf den Grundstücken A-Straße 8 und 9 in den 90er Jahren in gegenseitiger Absprache zwischen dem Kläger und den Rechtsvorgängern des Beigeladenen durchgeführt. Auch ist davon auszugehen, dass der jeweilige Grundstückseigentümer tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die späte Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Für den Grundstückseigentümer unzumutbare Nachteile können auch dann entstehen, wenn über Fensteröffnungen, die beseitigt werden sollen, Aufenthaltsräume belichtet werden (vgl. VGH BW, Urt. v. 25.09.1991, a.a.O.), insbesondere dann, wenn der Eigentümer das Grundstück bereits mit dem umstrittenen baulichen Bestand erworben und darauf vertraut hat, es in der vorgefundenen Weise nutzen zu können. Dies ist hier der Fall. Nach der am 21.10.2009 durchgeführten Ortsbesichtigung wird über die beiden Dachflächenfenster, die bereits beim Erwerb des Grundstücks eingebaut waren, das Badezimmer im Gebäude des Beigeladenen belichtet.

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Ohne rechtliche Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der Beigeladene gegen die dem Kläger am 28.05.2010 nachträglich erteilte Baugenehmigung für den im Jahr 1993 – im Einvernehmen mit dem damaligen Nachbarn – errichteten Wintergarten Widerspruch erhob und das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt daraufhin mit (noch nicht bestandskräftigem) Widerspruchsbescheid vom 29.06.2011 die Baugenehmigung aufhob. Der Umstand, dass der Kläger den Wintergarten im Einvernehmen mit den Voreigentümern des Nachbargrundstücks errichtete, mag dazu geführt haben, dass auch eventuelle Abwehransprüche der Voreigentümer und des Beigeladenen gegen den Wintergarten in seiner bisherigen Gestalt materiell verwirkt waren. Dass der Beigeladene ungeachtet dessen die nachträgliche Baugenehmigung für den Wintergarten angefochten hat, ließ die materiell verwirkten Abwehrrechte des Klägers gegen die Dachflächenfenster aber nicht wieder aufleben. Es blieb dem Kläger vielmehr unbenommen, im Rahmen der Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid vom 29.06.2011 seinerseits eine materielle Verwirkung von Abwehrrechten des Beigeladenen gegen den Wintergarten geltend zu machen. Einer solchen Verwirkung könnte allerdings entgegen stehen, dass die im Widerspruchsverfahren aufgehobene Baugenehmigung neben der Genehmigung des bisher vorhandenen Bestandes auch die „Ertüchtigung“ des Wintergartens mit einer Brandschutzwand beinhaltet. Dadurch würde eine neue bauliche Situation im Grenzbereich zwischen den Grundstücken des Klägers und des Beigeladenen entstehen, die im Vergleich zum bisherigen Bestand zu einer zusätzlichen bzw. andersartigen Beeinträchtigung der Belange des Beigeladenen führt.

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2. Der Kläger rügt weiter, unabhängig von einer Verwirkung seiner Nachbarrechte wäre die Beklagte gleichwohl verpflichtet, gegen das Bauvorhaben einzuschreiten, weil der Abstand der Kippfenster zum Nachbargebäude den bauordnungsrechtlich geforderten Mindestabstand unterschreite und sich daraus eine erhöhte Brandgefahr ergebe. Auf Bestandsschutz könne sich der Beigeladene nicht berufen. Der seinerzeitige Ausbau des Dachgeschosses sei nicht gemäß § 69 Abs. 1 Nr. 11 BauO LSA (a. F.) baugenehmigungsfrei gewesen, weil nicht durch eine sachkundige Person schriftlich bescheinigt worden sei, dass keine Bedenken hinsichtlich des Brandschutzes bestünden.

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Auch damit vermag der Kläger nicht durchzudringen. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein ein Anspruch des Klägers auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Einbau der Dachflächenfenster, der der materiellen Verwirkung unterliegt. Besteht ein solcher Anspruch nicht (mehr), liegt es – auch wenn die Fenster der dem vorbeugenden Brandschutz dienende Vorschrift des § 31 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauO LSA (früher § 34 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BauO LSA 1994) nicht entsprechen – im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten, ob sie dagegen bauaufsichtlich einschreitet (§§ 79 Satz 1, 86 Abs. 1 BauO LSA).

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II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327, 1329).


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