Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2. Senat) - 2 O 107/17

Gründe

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Die Beschwerde hat Erfolg. Den Klägern ist nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO Rechtsanwalt B. in A-Stadt beizuordnen. Die Kläger können nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung auch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheint auch nicht mutwillig.

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Es spricht viel dafür, dass der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 18.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 03.05.2016 rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Zwar dürften die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere in der Person der Klägerin zu 1 derzeit nicht vorliegen. Ein Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 5 und – hiervon abgeleitet – auch der Klägerin zu 1 dürfte sich jedoch aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union vom 05.04.2011 (ABl. L 141, S.1) ergeben.

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Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gewährt Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 15.10.1968 (ABl. L 257, S. 2) Kindern eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat, um dort weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat sind, ist dabei ohne Belang (vgl. EuGH, Urt. v. 17.09.2002 – C-413/99 („Baumbast“) –, juris RdNr. 63; Urt. v. 23.02.2010 – C-310/08 („Ibrahim“) –, juris RdNr. 29; Urt. v. 23.02.2010 – C-480/08 („Texeira“) –, juris RdNr. 37). Darüber hinaus erlaubt Art. 12 VO Nr. 1612/68 dann, wenn Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, den Aufenthalt bei den Kindern, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn der Elternteil nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.09.2002 – C-413/99 –, a.a.O. RdNr. 75; Urt. v. 23.02.2010 – C-310/08 –, a.a.O. RdNr. 31; Urt. v. 23.02.2010 – C-480/08 –, a.a.O. RdNr. 39). Das Aufenthaltsrecht, das den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der im Aufnahmestaat beschäftigt ist oder gewesen ist, und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, zusteht, ist nicht davon abhängig, dass sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (vgl. EuGH, Urt. v. 23.02.2010 – C-310/08 –, a.a.O. RdNr. 59) oder dass einer der Elternteile des Kindes zu dem Zeitpunkt, zu dem es die Ausbildung begonnen hat, als Wanderarbeiter in diesem Mitgliedstaat berufstätig gewesen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 23.02.2010 – C-480/08 –, a.a.O. RdNr. 75). Die aufenthaltsrechtlich maßgebliche Regelung des Art. 12 der VO 1612/68/EWG wurde wortgleich in Art. 10 der VO 492/2011/EU übernommen. Da sich die Rechtslage insoweit nicht verändert hat, behalten die Ausführungen des EuGH zu Art. 12 der VO 1612/68/EWG auch unter Geltung des Art. 10 der VO 492/2011/EU ihre Gültigkeit.

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Hiernach setzt das Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 5 sowie der Klägerin zu 1 gemäß Art. 10 VO Nr. 492/2011 voraus, dass

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die Klägerin zu 1 die Mutter der Klägerin zu 5 ist,
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die Klägerin zu 1 (oder der Vater der Klägerin zu 5) als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland ein Aufenthaltsrecht hat oder gehabt hat,
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die Klägerin zu 5 seit diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland wohnt und
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die Klägerin zu 5 in der Bundesrepublik Deutschland die Schule besucht.
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Es spricht viel dafür, dass diese Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts der Klägerin zu 5 sowie der Klägerin zu 1 nach Art. 10 VO Nr. 492/2011 vorliegen. Nach dem Vortrag der Kläger war die Klägerin zu 1 in der Zeit vom 19.03. bis zum 17.04.2015 als Aushilfe in der Landwirtschaft bei der ABG L-Stadt beschäftigt. Darüber hinaus besucht die Klägerin zu 5 seit dem 29.04.2016 regelmäßig die Grundschule am (…) in A-Stadt. Ob die Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts der Klägerin zu 5 sowie der Klägerin zu 1 nach Art. 10 VO Nr. 492/2011 tatsächlich vollständig vorliegen, wird vom Verwaltungsgericht näher zu prüfen sein. Sollten die Voraussetzungen vorliegen, wird zu erwägen sein, ob sich ein Aufenthaltsrecht der Kläger zu 2 bis 4 aus einer entsprechenden Anwendung des § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. §§ 3, 4 FreizügG/EU ergibt.

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Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO Nr. 492/2011 dürfte der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 18.02.2015 entgegenstehen. Zwar wird hierin nach dem Wortlaut des Tenors lediglich festgestellt, dass für die Kläger ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht mehr besteht. Der Bescheid ist jedoch dahin auszulegen, dass hiermit die Feststellung getroffen werden sollte, dass ein Aufenthaltsrecht der Kläger nach allen in Betracht kommenden freizügigkeitsrechtlichen Rechtsgrundlagen – einschließlich der VO Nr. 492/2011 – nicht besteht. Dies ergibt sich aus dem Hinweis auf die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Diese Regelung wäre fehlerhaft, würde in der Person der Klägerin zu 5 und der Klägerin zu 1 ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO Nr. 492/2011 bestehen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 1 GKG und § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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