Urteil vom Sozialgericht Detmold - S 8 AL 133/02
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 01.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2002 verurteilt, dem Kläger ab 29.07.2002 weiterhin Arbeitslosengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
1
Tatbestand:
2Der Kläger bezieht seit 02.05.2001 durchgängig Arbeitslosengeld von der Beklagten. Am Samstag, dem 27.07.2002 erhielt der Kläger die Nachricht, dass seine Mutter in Italien schwer erkrankt sei und mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Am Montag, dem 29.07.2002 machte sich der Kläger in den frühen Morgenstunden auf den Weg nach Italien. Zugleich beauftragte er einen Bekannten, einen Herrn G, beim Arbeitsamt Mitteilung zu machen und den dem Kläger zustehenden Urlaub zu beantragen. Am 29.07.2002 erschien Herr G im Arbeitsamt Paderborn und teilte im Auftrage des Klägers mit, dass sich dieser in Italien aufgrund Erkrankung der Mutter aufhalte.
3Mit Bescheid vom 01.08.2002 hob die Beklagte die Entscheidung über den Bezug von Arbeitslosengeld ab 29.07.2002 wegen Ortsabwesenheit auf. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und fügte dem Widerspruch eine Bescheinigung des behandelnden Arztes der Mutter, des E. B T, bei. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.09.2002 lehnte die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung ab, dass der Kläger gegen die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) verstossen habe. Hiernach sei nur dann Erreichbarkeit des Arbeitslosen gegeben, wenn das Arbeitsamt zu einer bis zu dreiwöchigen Abwesenheit im Kalenderjahr im Vorhinein die Zustimmung erteilt habe. Eine solche vorherige Zustimmung sei von dem Kläger aber nicht beantragt worden. Dass eine solche Genehmigung Voraussetzung für den weiteren Bezug von Arbeitslosengeld gewesen sei, habe der Kläger zumindest aufgrund des erhaltenen Merkblattes gewusst.
4Hiergegen richtet sich die Klage vom 01.10.2002, mit der der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Er verweist insbesondere darauf, dass er in Anbetracht der Umstände nicht mehr habe machen können, als seinen Bekannten, den Herrn G, zum Arbeitsamt zu schicken. Im übrigen habe er dann davon ausgehen dürfen, dass ihm ein dreiwöchiger Urlaub genehmigt werden würde. Er habe sich dann auch vorbildlich pflichtgemäss verhalten, indem er auch lediglich drei Wochen in Italien verblieben sei, um gegen keine Auflage des Arbeitsamtes zu verstossen.
5Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäss,
6die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 01.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2002 zu verurteilen, dem Kläger ab 29.07.2002 weiterhin Arbeitslosengeld nach Massgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
7Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäss,
8die Klage abzuweisen.
9Sie verweist auf die nicht erteilte Zustimmung zum auswärtigen Aufenthalt des Klägers und die entsprechenden Vorschriften der Erreichbarkeits-Anordnung.
10Das Gericht hat zur Ermittlung des Sachverhaltes Erörterungstermin am 29.04.2003 abgehalten. In dem Termin haben die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit dem Erlass eines Gerichtsbescheides erklärt.
11Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird verwiesen auf die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte. Diese haben der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegen.
12Entscheidungsgründe:
13Das Gericht konnte gemäss § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da die Streitsache keine wesentlichen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer solchen Verfahrensweise erklärt haben.
14Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 01.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2002 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten im Sinne des § 54 SGG. Der Kläger hat auch ab 29.07.2002 weiterhin Anspruch auf Arbeitslosengeld.
15Denn der Kläger ist trotz Ortsabwesenheit erreichbar gewesen im Sinne der Vorschriften des § 119 Abs. 3 Nr. 3 des Dritten Buches, Sozialgesetzbuch (SGB III). Soweit die Beklagte hinsichtlich der Erreichbarkeit auf § 3 Abs. 1 der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) verweist, hält das Gericht die zitierte Vorschrift für zu eng gefasst.
16Nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB III hat Anspruch auf Arbeitslosengeld wer arbeitslos ist. Arbeitslos ist aber ein Arbeitnehmer, der eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht (§ 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht (§ 119 Abs. 1 Nr. 2 SGB III). Zum Begriff der Beschäftigung gehört auch der Begriff der Arbeitsfähigkeit. Nach der gesetzlichen Definition ist arbeitsfähig ein Arbeitsloser, der u.a. den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf (§ 119 Abs. 3 Nr. 3 SGB III). Die Bundesanstalt für Arbeit ist gemäss § 152 Nr. SGB III in Verbindung mit § 376 Abs. 1 Satz 1 SGB III ermächtigt, durch Anordnung Näheres über die Pflichten des Arbeitslosen zu bestimmen. Die Anordnungsermächtigung für die Bundesanstalt für Arbeit hat ihren Niederschlag in der "Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können (Erreichbarkeits-Anordnung -EAO-)" gefunden. Diese, zuletzt durch Anordnung vom 16.11.2001 geänderte Anordnung regelt in § 3 Abs. 1 den Fall, dass die Verfügbarkeit des Arbeitslosen auch dann gegeben ist, wenn das Arbeitsamt vorher eine Zustimmung zu einer bis zu drei Wochen dauernden Abwesenheit im Kalenderjahr erteilt hat.
17Das Gericht erachtet die Bestimmung des § 3 Abs. 1 EAO als im Wortlaut zu eng gefasst und damit gegen die Vorschrift des § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III verstossend. Nach dieser Vorschrift kann zur Vermeidung unbilliger Härten eine verspätete Antragstellung durch das Arbeitsamt zugelassen werden. Nach Auffassung des Gerichts ist im Sinne einer teologischen Extension (Erweiterung der Vorschriften der Erreichbarkeits-Anordnung) in den Wortlaut des § 3 Abs. 1 EAO hineinzulesen, dass auch eine verspätete Antragstellung den Erfordernisssen einer zulässigen Ortsabwesenheit genügen kann. Anderenfalls würde aus Sicht des Gerichts die Erreichbarkeits-Anordnung gegen § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III verstossen. Denn bereits diese Vorschrift lässt auch eine verspätete Antragstellung zu.
18Gerade in Fällen, wie dem vorliegenden, wäre es dem Antragsteller unzumutbar und würde eine persönliche Härte darstellen, ihn bis zur wieder hergestellten Dienstbereitschaft des Arbeitsamtes, nämlich am Montag, zu warten, um dann eine im Grundsatz genehmigungsfähige Ortsabwesenheit zu beantragen. Dies kann unter dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auch vom Anordnungsgeber nicht gewollt sein. Dies würde nämlich zugleich beinhalten, dass der Arbeitslose in seiner privaten Disposition des Wochenendes dermaßen eingeschränkt wäre, dass in einen persönlichen Kernbereich der Freiheitsrechte unzumutbar eingegriffen würde. Letztendlich stellt unter Berücksichtigung des § 3 Abs. 1 der Erreichbarkeits-Anordnung nämlich auch die Beklagte nicht sicher, dass eine Antragstellung im Laufe eines Wochenendes "rund um die Uhr" möglich wäre. Gerade die festen Dienstzeiten der Beklagten zeigen, dass ohne eine teologische Extension des § 3 Abs. 1 EAO diese Vorschrift in einem unauflösbaren Widerspruch zu § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III stünde. Solange die Beklagte nicht durch die Ermöglichung einer Antragstellung auch am Wochenende dem Arbeitslosen eine vorherige Beantragung einer zulässigen Ortsabwesenheit ermöglicht, solange hat die Beklagte die Vorschrift des § 3 Abs. 1 EAO im obigen Sinne erweiternd anzuwenden. Dass neben der Beantragung die Beklagte inhaltlich sehr wohl abzuwägen hat, ob eine Ortsabwesenheit zu genehmigen ist, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Zwischen den Beteiligten steht kein ernsthafter Streit darüber, dass bei einer rechtzeitigen Beantragung der Antragsteller positiv beschieden worden wäre. Es stellt daher aber auch eine unbillige Härte dar, allein auf den formalen Akt der "vorherigen Beantragung" zu verharren, wenn inhaltlich ein solcher Antrag positiv hätte beschieden werden müssen. In Anbetracht der aktuellen Dienstzeiten der Beklagten bedarf es keiner Vertiefung der Frage, wie § 3 Abs. 1 EAO auszulegen wäre, wenn Dienstzeiten der Beklagten auch am Wochenende eine Antragstellung ermöglichen würden. Vorliegend hat die Beklagte den § 3 Abs. 1 EAO fehlerhaft ausgelegt und mit den angefochtenen Bescheiden fehlerhaft die Bewilligung von Arbeitslosengeld wegen fehlender Erreichbarkeit aufgehoben. Nach Auffassung des Gerichts wird die Beklagte künftig § 3 Abs. 1 EAO im Sinne des § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III auszulegen haben.
19Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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