Urteil vom Sozialgericht Detmold - S 14 KR 26/03
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 10.09.01, 30.10.01, 27.11.02, 23.12.02, 20.02.03 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.04.2003 verurteilt, 1) der Klägerin die Kosten der ausgelagerten, häuslichen Krankenpflege am Arbeitsplatz in der Zeit vom 03.09.01 bis 31.03.03 zu erstatten 2) der Klägerin über den 31.03.2003 hinaus häusliche, auch ausgelagerte, Krankenpflege im verordnetem Umfang zu bewilligen bzw. der Klägerin die hierfür bislang entstandenen Kosten zu erstatten. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreit zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Streitig ist, ob und in welchem Umfang die Beklagte verpflichtet ist, die Kosten für eine Katheterisierung der Klägerin als Leistung der häuslichen Krankenpflege zu übernehmen.
3Die am 16.07.1983 geborene Klägerin, bei der Beklagten seit dem 03.09.2001 krankenversichert, leidet an einer Querschnittslähmung mit neurogener Blasenstörung.
4Am 04.09.2001 verordnete der die Klägerin behandelnde Arzt für Innere Medizin Dr. T, C, wie, da es sich um Folgeverordnungen handelte, auch zuvor im Rahmen der Familienversicherung der Klägerin bei der KKH -häusliche Krankenpflege in Form 3x täglicher/7x wöchentlicher Katheterisierung für die Zeit vom 01.09.2001 bzw. -gesondert- 1x täglichen/5x wöchentlichen Katheterisierens während der Ableistung eines montäglich bis freitäglichen Praktikums der Klägerin im C2 in C für die Zeit vom 04.09. bis 31.12.2001; diesbezüglich erbrachte die Caritas-Pflegestation die Leistung in der Mittagspause, während die sonstigen Katheterisierungen überwiegend durch die Mutter der Klägerin, teilweise durch die Caritas-Pflegestation durchgeführt wurde.
5Mit Bescheid vom 10.09.2001 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme mit der Begründung ab, eine Einmalkatheterisierung im Rahmen der Praktikumszeit sei keine Leistung häuslicher Krankenpflege, da der Anspruch voraussetze, dass sich der Versicherte in einem eigenen bzw. im Familienhaushalt aufhalte, so dass Leistungen außerhalb des Haushaltes nicht zu erbringen seien; mit weiterem Bescheid vom 30.10.2001 lehnte sie auch die Kostenübernahme der weiteren verordneten Katheterisierungen im häuslichen Bereich mit dem Hinweis ab, nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung häuslicher Krankenpflege sei lediglich der Wechsel eines Dauerkatheters nicht jedoch eine Einmalkatheterisierung Leistungsinhalt. In Abänderung letzteren Bescheides erteilte sie dann allerdings nach nochmaliger Überprüfung eine Kostenzusage hinsichtlich 2x täglicher/5x wöchentlicher und 3x täglicher/2x wöchentlicher (Samstags/Sonntags) Einmalkatheterisierung, beließ es aber im Übrigen bei ihrer Ablehnung der Kostenübernahme der Eimalkatheterisierung während der Praktikumszeit. Auf weitere Verordnungen von Dr. T für Folgequartale hin erfolgte eine Leistungszusage gleiches Umfanges, im Rahmen derer die Beklagte ihre Auffassung nochmals mit weiterem Bescheid vom 27.11.2002 bekräftigte und so z.B. unter dem 23.12.2002 die Begleichung einer Rechnung häuslicher Krankenpflege für die Zeit vom 01.11. bis 30.11.2002 verweigerte.
6Unter dem 20.02.2003 erteilte die Beklagte der Klägerin im Übrigen einen weiteren Bescheid, mit welcher sie es nunmehr auch ablehnte, die Leistung der Einmalkatheterisierung im häuslichen Bereich ab 01.04.2003 zu übernehmen, wobei sie sich wiederum auf die Verbindlichkeit der Richtlinien des Bundesausschusses über die häusliche Krankenpflege bezog. Den hiergegen ebenso wie den bereits gegen den Bescheid vom 10.09.2001 erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 30.04.2003 zurück; die Einmalkatheterisierung sei in den Richtlinien nicht als verordnungsfähige Leistung vorgesehen, vielmehr beziehe sich die nach Nr. 23 beschriebene Katheterisierung lediglich auf den Dauerkatheter.
7Hiergegen richtet sich die am 05.05.2003 erhobene Klage. Die Klägerin vertritt die Auffassung, die ihr verordneten Einmalkatheterisierungen, sowohl im häuslichen Bereich als auch im außerhäuslichen Bereich, seien verordnungsfähig. Als untergesetzliche Vorschriften, welche zudem keine abschließende Aufzählung hinsichtlich Art, Dauer und Umfang der Leistung beinhalteten, seien die Richtlinien nicht geeignet, den gesetzlichen Behandlungsanspruch einzuschränken; soweit Behandlungspflege für die Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich sei, bestehe insoweit ein Anspruch, und zwar auch im außerhäuslichen Bereich, da Sinn und Zweck der häuslichen Krankenpflege es sei, dem Versicherten den Verbleib in der häuslichen Sphäre zu ermöglichen, was mittlerweile auch das Bundessozialgericht -BSG- konstatiert habe.
8Zum Termin zur mündlichen Verhandlung, zu welchem die Bevollmächtigten der Klägerin ordnungsgemäß und unter Hinweis, dass im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden könne, ist für die Klägerin niemand erschienen.
9Die Beklagte hat daraufhin beantragt,
10nach Lage der Akten zu entscheiden.
11Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Kassenakte verwiesen.
12Entscheidungsgründe:
13Das Gericht konnte gemäß § 126 Sozialgerichtsgesetz -SGG- entscheiden.
14Die zulässige Klage ist begründet.
15Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die selbstbeschaffte Pflegekraft zur Durchführung der verordneten häuslichen Krankenpflege in Form der Einmalkatheterisierung zu erstatten bzw. sie von den Kosten freizustellen und auch diese Leistungen über den 31.03.2003 hinaus ihr zu gewähren. Die entgegenstehenden Bescheide waren von daher aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 beschweren.
16Rechtsgrundlage für den Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsanspruch der Klägerin ist § 13 Abs. 3 des 5. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB V-, der hier geregelte Kostenerstattungsanspruch umfasst dabei als Vorstufe auch einen Anspruch auf Freistellung von einer Verbindlichkeit, die bei rechtzeitiger Erbringung der streitigen Leistung als Sachentscheidung von der Krankenkasse hätte liquidiert werden müssen (BSG in SozR 3-2500 § 37 Nr. 2).
17Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten.
18Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, soweit sich die Klägerin die Behandlungspflege nach Erteilung der jeweiligen Bescheide und auch der weiteren eingeschränkten Leistungszusagen auf eigene Kosten beschafft hat, da die Beklagte die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat; für die hier vorliegenden Zeiträume liegen die Voraussetzungen ebenfalls vor, da die selbstbeschaffte Behandlungspflege eine unaufschiebbare Leistung darstellt, die die Beklagte nicht rechtzeitig hat erbringen können (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30.04.2003 -Aktenzeichen L 5 KR 116/01).
19Die Klägerin hatte ab dem 03.09.2001 einen Sachleistungsanspruch auf Gewährung von Behandlungspflege am Arbeitsplatz bzw. hat über den 31.03.2003 hinaus Anspruch auf Katheterisierungen im ihr verordneten Umfang im häuslichen Bereich.
20Gemäß § 37 Abs. 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird (sog. Krankenhausvermeidungspflege); gemäß § 37 Abs. 2 SGB V besteht ein Anspruch auf Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog. Sicherungspflege).
21Das 3x tägliche Legen eines Blasenkatheters bei der Klägerin stellt sich als derartige Maßnahme der Behandlungspflege dar. Hierzu gehören alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern. Dass diese Voraussetzungen gegeben sind, d.h. sich die Katheterisierung als Maßnahme der Behandlungspflege darstellt, ist insoweit zwischen den Beteiligten unstreitig ebenso wie die grundsätzliche Notwendigkeit mehrfach täglicher Katheterisierungen.
22Dieser, in § 27 Abs. 1 SGB V begründete Behandlungsanspruch, ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht durch die gemäß § 92 Abs. 1 SGB V vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (seit 01.01.2004: Gemeinsamer Bundesausschuss) zur Sicherung der ärztlichen Versorgung beschlossenen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten (hier Richtlinien gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, Abs. 7 SGB V über die häusliche Krankenpflege vom 16.02.2002 -Krankenpflege-Richtlinien-) ausgeschlossen. Diese bestimmen zwar in Ziffer I.3 dass in der Richtlinie als Anlage angefügtem Leistungsverzeichnis nicht aufgeführte Maßnahmen, insbesondere solche der ärztlichen Diagnostik und Therapie, nicht als häusliche Krankenpflege verordnungsfähig sind und diese von der Krankenkasse nicht genehmigt werden dürfen. Ein Leistungsausschluss eines im Gesetz festgelegten Anspruches kann hiermit jedoch nicht begründet bzw. ein solcher Anspruch nicht eingeschränkt werden. Entgegen den vom Bundesausschuss beschlossenen Richtlinien gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (BUB-Richtlinien), welchen das Bundessozialgericht (Urteil vom 16.09.1997, BSGE 81,73 ff) normative Wirkung zumisst, kann derartige Wirkung den hier streitigen Richtlinien nicht beigemessen werden, da es an einer hinreichenden Ermächtigung des Bundesausschusses, Inhalt und Umfang festzulegen und Leistungsansprüche des Versicherten zu bestimmen, mangelt. Eine der in § 135 Abs. 1 SGB V entsprechende Bestimmung und Ermächtigung, den Leistungsinhalt verbindlich festzulegen, fehlt insoweit. Insoweit ist zu Recht der Normcharakter der Richtlinien umstritten (vgl. z.B. Krauskopf, Kommentar zur Krankenversicherung, § 92 SGB V Randnummern 41 und 42). Ungeachtet dieses Streites ist indes, selbst bei Rechtsnormcharakter der Krankenpflege-Richtlinien zu berücksichtigen, dass die gesetzlichen Bestimmungen, hier der Anspruch des Versicherten auf Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs. 1 SGB V als höherrangige gesetzliche Vorschrift den Richtlinien vorgeht, so dass Maßnahmen, soweit sie zur Sicherung des Ziels ärztlicher Behandlung erforderlich sind, durch die Richtlinien weder ausgeschlossen noch eingeschränkt werden können.
23Im Übrigen ist zu vergegenwärtigen, dass die Beklagte ihre Ablehnung allein auf die Leistungsbeschreibung des den Richtlinien als Anlage beigefügten Leistungsverzeichnisses stützt; für das Hilfsmittelverzeichnis, welches seine Grundlage in § 28 SGB V hat, hat indes bereits das BSG entscheiden, dass dieses lediglich als Auslegungshilfe herangezogen werden kann, jedoch für die Gerichte nicht verbindlich ist (BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 25). Insoweit kann zur Überzeugung des Gerichts der in der Anlage zu den Richtlinien aufgeführte Katalog lediglich als Instrumentarium verwendet werden, um allgemeine Leistungen zu beschreiben und eine Richtschnur, etwa über die Dauer der Verordnung, geben zu können; keinesfalls kann er indes herangezogen werden, um einen generellen Ausschluss einer pflegerischen Maßnahme zu begründen, die nach medizinischer Auffassung notwendig ist.
24Letztlich ist auch von ihrem Wortlaut her die von der Beklagten in Bezug genommene Leistungsziffer 23 nicht geeignet, die Verordnungsfähigkeit der Einmalkatheterisierung grundsätzlich auszuschließen. Allgemein ist unter dieser Ziffer die "Katheterisierung der Harnblase" erfasst, ohne dass an dieser Stelle bereits die Einschränkung auf einen Dauerkatheterwechsel erfolgt, so dass davon auszugehen ist, dass grundsätzlich alle medizinischen Maßnahmen, die der Sicherung der ärztlichen Behandlung dienen und die im Zusammenhang mit einer Katheterisierung der Harnblase stehen, verordnungsfähig sind.
25Die Klägerin hat somit auch über den 31.03.2003 hinaus Anspruch auf Katheterisierungen in verordnetem Umfang als Sachleistung bzw. - für die Vergangenheit - Kostenerstattung. Ebenso wenig war die Beklagte berechtigt, eine Leistungseinschränkung bis zum 31.03.2003 vorzunehmen und der Klägerin die Einmalkatheterisierung als Leistung häuslicher Krankenpflege an ihrem Arbeitsplatz bzw. Praktikumsplatz zu versagen. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V begrenzt nämlich die Leistungspflicht der Krankenkassen nicht räumlich auf den Haushalt des Versicherten oder seiner Familie als Leistungsort, so dass medizinisch erforderliche Maßnahmen, die bei vorübergehenden Aufenthalten außerhalb der Familienwohnung anfallen, nicht ausgeschlossen sind, wenn sich der Versicherte ansonsten ständig in seinem Haushalt bzw. in seiner Familie aufhält und dort seinen Lebensmittelpunkt hat (BSG, Urteil vom 21.11.2002 -Aktenzeichen B 3 KR 13/02 R); vorrangiges Ziel der Gewährung von Behandlungspflege ist nämlich die Sicherung des ärztlichen Behandlungserfolges, also die Heilung, Besserung oder Verhütung der Verschlimmerung einer Krankheit; diese Behandlungsziele können grundsätzlich jedoch auch während des Aufenthaltes eines Versicherten im außerhäuslichen Bereich verfolgt werden, so dass der Aufenthaltsort des Versicherten für das Erreichen des ärztlichen Behandlungszieles in der Regel unerheblich ist.
26Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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