Beschluss vom Sozialgericht Detmold - S 2 KR 84/21
Tenor
Die Vergütung für das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. N wird antragsgemäß auf 1248,91 Euro festgesetzt.
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Gründe:
2Der Antrag auf richterliche Festsetzung ist zulässig und begründet.
3Die Festsetzung der Vergütung, der Entschädigung oder des Vorschusses erfolgt gemäß § 4 JVEG durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder die Staatskasse die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.
4Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer erhalten gemäß § 8 Abs.1 JVEG als Vergütung 1. ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9 bis 11), 2. Fahrtkostenersatz (§ 5), 3. Entschädigung für Aufwand (§ 6) sowie 4. Ersatz für sonstige und für besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12).
5Soweit das Honorar nach Stundensätzen zu bemessen ist, wird es gemäß § 8 Abs.2 JVEG für jede Stunde der erforderlichen Zeit einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt. Die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet, wenn sie zu mehr als 30 Minuten für die Erbringung der Leistung erforderlich war; anderenfalls beträgt das Honorar die Hälfte des sich für eine volle Stunde ergebenden Betrags.
6Der Stundensatz nach der Honorargruppe M2 ist unstreitig und auch zutreffend.
7Mit diesem Stundensatz zu vergüten sind hier dann 11,5 Stunden, die an sich auf 12 Stunden aufzurunden wären, was 12x90 Euro, mithin 1.080 Euro ergäbe. Der Antrag ist jedoch auf die vom Sachverständigen 1.035 Euro unter dem Grundsatz „ne ultra petita“ gedeckelt. Für die Berechnung des antragsgemäß festgesetzten Betrags wird auf die Rechnung des Sachverständigen Bezug genommen.
8Grundsätzlich wird davon auszugehen sein, dass die Angaben des Sachverständigen über die tatsächlich benötigte Zeit richtig sind. Der heranziehenden Stelle fehlt insoweit in der Regel auch jede Möglichkeit der Überprüfung. Ein Anlass zur Nachprüfung, ob die von dem Sachverständigen angegebene Zeit auch erforderlich war, wird nur dann bestehen, wenn der angesetzte Zeitaufwand im Verhältnis zur erbrachten Leistung ungewöhnlich hoch erscheint. Eine ungewöhnliche Höhe des Zeitaufwandes, undifferenzierte Gestaltung der Leistungsabrechnung und Unstimmigkeiten bei der Leistungsbeschreibung geben jedenfalls Veranlassung, dem Sachverständigen eine spezifizierte und nachvollziehbare Darlegung seines tatsächlichen Zeitaufwandes und dessen Erforderlichkeit abzuverlangen. Inwieweit z.B. das Gericht die Notwendigkeit des Zeitaufwandes aus eigener Sachkunde beurteilen kann (z.B. den Zeitaufwand für das Aktenstudium) oder hierzu weitere Ermittlungen anstellen muss, bleibt seinem Ermessen überlassen. Eine Herabsetzung des von dem Sachverständigen berechneten Zeitaufwandes muss jedoch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht stets sorgfältig begründet werden. Die Begründung muss erkennen lassen, welche der von dem Sachverständigen im Einzelnen angegebenen Arbeitszeiten zu lang bemessen sind sowie in welcher Zeit und aus welchen Gründen die Einzelarbeit hätte schneller verrichtet werden können. (Meyer / Höver / Bach, JVEG, 27. Aufl., § 8 Rn. 14).
9Die in Ansatz gebrachten 11,5 Stunden sind gemäß § 8 Abs.2 JVEG vollumfänglich entgegen der Wertung der Kostenbeamtin als erforderliche Zeit zu beurteilen und entsprechend zu vergüten. Die Kostenfestsetzung der Kostenbeamtin vom 11.04.2022 enthält für die Kürzung schon keinerlei individuelle Begründung. Die Kostenentscheidung erschöpft sich in einem langen abstrakten, allgemeinen Textbaustein zur Verwendung in einer Vielzahl von Fällen mit anschließender, knapper Feststellung der Auffassung der Kostenbeamtin, die dann jedoch in keiner Weise begründet wird. Eine individuelle Darlegung, warum es sich bei den herausgekürzten Stunden nicht um einen erforderlichen Zeitaufwand handelt, erfolgt nicht.
10Selbst der vorangestellte allgemeine Textbaustein lässt schon erkennen, dass die Entscheidung der Kostenbeamtin nicht passend ist. In dem Textbaustein heißt es beispielsweise, dass ein Sachverständiger 100 Seiten mit medizinischen Angaben durchsetztes Aktenmaterial in einer Stunde erfassen könne. Selbst wenn man dieser Zahl als allgemeinem Richtwert unter Zugrundelegung der Entscheidung L 4 B 9/04 vom 19.01.2005 des LSG NRW folgen mag, so liegt der Fall hier anders. Bei dem der Entscheidung des LSG NRW zugrunde liegenden Streitverfahren handelte es sich um ein rentenrechtliches Verfahren. Bei einem Rentenverfahren ist die Behördenakte keine ausschließlich mit medizinischem Sachverhalt gefüllte Akte, sondern es handelt sich um eine einheitliche Akte über das gesamte Versicherungsleben des Arbeitnehmers, in dem zahlreiche Seiten unter dem Aspekt, dass auf der Seite nichts medizinisches steht, vom Sachverständigen durch Querlesen sogleich überblättert werden können. Daraus resultiert die hohe Zahl von 100 Seiten pro Stunde, die ein Sachverständiger in einer lediglich mit medizinischen Unterlagen durchsetzen Akte dann auswerten können soll. Demgegenüber könnte kaum ein noch so gebildeter Leser einen Text von 100 Seiten in einer Stunde erfassen, selbst wenn es sich nur um einen Roman zur Unterhaltung handelte. Denn dies würde eine Lesegeschwindigkeit von 36 Sekunden je Seite entsprechen.
11Im Übrigen bedarf es einer Beurteilung in jedem Einzelfall, wie schnell das Aktenmaterial zu sichten war, und keiner stereotypen Betrachtung. Dabei unterscheidet sich das Aktenmaterial in Vergütungsstreitigkeiten von Krankenhäusern deutlich von dem Aktenmaterial einer Rentenakte.
12Bei den Beiakten zur Gerichtsakte aus Streitigkeiten um die Krankenhausvergütung handelt es sich einerseits um die Patientendokumentation der Klinik und andererseits um die reine Dokumentation des Abrechnungsverfahrens bei der Krankenkasse nebst MDK-Gutachten. Es handelt sich nicht um die eigentliche, allgemeine Versicherungsakte des behandelten Versicherungsnehmers bei der Krankenkasse. Die Beiakten sind hier also mit medizinischen Informationen hoch verdichtet. Insbesondere die Patientenakte ist dabei für Nichtmediziner ohne Kenntnis der Üblichkeiten der Dokumentationsweise in Krankenhäusern teilweise nur schwer bis gar nicht verständlich. Schon ein Häkchen oder eine fehlende, aber übliche Dokumentation oder das Wissen um die Bedeutung einer bestimmten Abkürzung oder eines bestimmten Kurzzeichens können hier von Bedeutung sein. Gerade deshalb ist die Einholung von medizinischem Sachverstand hier erforderlich und erfordert auch vom Kundigen ein sorgfältiges Lesen, während bei einer rein dogmatischen Betrachtung eine DRG oder eine OPS nur abstrakte rechtliche Regelungen wären, die dann vom Juristen durch reine Subsumtion zu prüfen und beurteilen wären. Da es sich jedoch um Sachverhalte an der Schnittstelle zwischen der Medizin und der Juristerei handelt, bedarf es der Einordnung der Patientendokumentation auch im Lichte des medizinischen Sachverstandes, um eine qualitative Rechtsprechung zu gewährleisten. Die Kunst der Aufarbeitung des Sachverhalts zwischen Juristen und Medizinern besteht an dieser Stelle darin, die Schnittstelle zwischen den beiden Fachwelten sauber zu schließen.
13Im Übrigen bedarf es schon allgemein für eine qualitative Gutachtenerstellung der sorgfältigen Aufarbeitung des Sachverhalts. Schon Albert Einstein soll seinen Studenten gesagt haben, dass die genaue Darstellung des Problems zur Lösung führt. Und auch in der Rechtslehre gilt: „Rechtliche Schlüsse kann der Richter erst ziehen, wenn er den Sachverhalt kennt, aus dem er sie ziehen soll“ (Schellhammer, der Zivilprozess, 6 Auflage, Rdnr.345). Und der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren ist Hilfsperson des Richters. Für ihn gilt für seine Teilaufgabe nichts anderes. Nur ein Sachverständiger, der das Aktenmaterial sorgfältig studiert hat, kann ein qualitatives Gutachten erstellen. Dies gilt selbstredend umso mehr bei einem Gutachten, das ausschließlich auf einer Beurteilung nach Aktenlage basiert und in dem Lücken im Aktenstudium schon per se nicht durch Befragen des Probanden kompensiert werden können. Ein abstraktes Dogma, ein Sachverständiger könne immer 100 Seiten Akten in einer Stunde erfassen, würde zu einem erheblichen Qualitätsabbau der Rechtsprechung führen. In der Richtung will sicherlich auch das LSG NRW seine oben genannte Entscheidung nicht verstanden wissen.
14Der Sachverständige hat im konkreten Einzelfall aufgrund seines Fachwissens durch das Studium des Aktenmaterials beispielsweise auf Seite 4 des Gutachtens darlegen können, dass die „Hebung eines Knochendeckels mittels Piezo“ die „Durchführung einer Osteotomie“ darstellt, auch wenn das in der OPS geforderte Merkmal der „Osteotomie“ in der Patientenakte nicht ausdrücklich als abstrahierte Begrifflichkeit genannt ist. Ferner hat er durch Studium des histologischen Befundes auf Seite 6 darlegen können, dass es sich um eine Zyste unter den Zähnen mit einem erheblichen Volumen von 19x15x5 mm handelte. Anschließend konnte er die aus dem Volumen zu ziehenden medizinischen Konsequenzen für den Umfang der Behandlung referieren.
15Zudem zielte die Beweisanordnung im konkreten Einzelfall auf die Abgrenzung zweier unscharfer OPS ab. Auch hierauf hat der Sachverständige durch sorgfältiges Studium der OPS und medizinische Prüfung der einzelnen Merkmale eine präzise Antwort geben können, indem er auch die diesbezügliche Problematik erfasst hat, wie sich aus Seite 4 des Gutachtens ausdrücklich ergibt. Auch wenn allgemein der Grundsatz gilt, dass der Sachverständige bereits schon sachverständig ist und das allgemeine Studium seiner Fachliteratur daher selbstredend nicht gesondert abrechnen kann, sondern seine Sachkunde vorausgesetzt wird, so hat er sich andererseits mit speziellen Fragen, wie hier der Abgrenzung zweier OPS voneinander, auseinanderzusetzen und darf sich hierzu auch mit spezifischer Detailliteratur auseinandersetzen. Insoweit handelt es sich dann auch für einen bereits Sachkundigen um erforderliche Zeit im Sinne des § 8 Abs.2 JVEG. Im konkreten Einzelfall geht es um die Abgrenzung zweier gemischt medizinisch-juristischer Regelungen. Selbstverständlich muss sich der Sachverständige dann mit deren Inhalt auseinandersetzen und darf den Zeitaufwand für die Fallfrage auch abrechnen. Erst recht darf er, egal ob man es nun als Literaturrecherche oder als Abfassen des Gutachtens qualifiziert, die Zeit abrechnen, die er benötigt, um seine Ausführungen mit Quellenangaben zu belegen.
16Und schließlich entspricht es auch nicht dem generellen Willen des Gesetzgebers, die Sachverständigen möglichst knapp und niedrig zu vergüten. Die Intention des Gesetzgebers bei der Überarbeitung des JVEG im Rahmen des Kostenrechtsänderungsgesetzes 2021 war es die Vergütung an die wirtschaftliche Entwicklung und die Marktverhältnisse anzupassen. Wörtlich heißt es in der Bundestagsdrucksache 19/23484 auf Seite 1: „Auch die Honorare von Sachverständigen, Dolmetscherinnen und Dolmetschern sowie von Übersetzerinnen und Übersetzern nach dem Justizvergütungs- und –entschädigungs-gesetz (JVEG) sind zuletzt zum 1. August 2013 an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst worden. Seitdem haben sich die Vergütungen, die Sachverständige sowie Sprachmittlerinnen und Sprachmittler auf dem freien Markt erzielen, zum Teil deutlich von den Honorarsätzen des JVEG entfernt. Um die vergütungsrechtlichen Voraussetzungen dafür zu erhalten, dass den Gerichten und Staatsanwaltschaften weiterhin qualifizierte Sachverständige, Sprachmittlerinnen und Sprachmittler in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, bedarf es einer Anpassung der gesetzlichen Vergütung.“ Der Gesetzgeber will hier also gerade dem Aspekt der Qualität der gerichtlichen Verfahren bei der Klärung des Sachverhalts Rechnung tragen.
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Referenzen
- JVEG § 8 Grundsatz der Vergütung 4x
- 4 B 9/04 1x (nicht zugeordnet)
- JVEG § 4 Gerichtliche Festsetzung und Beschwerde 1x