Beschluss vom Sozialgericht Hannover (54. Kammer) - S 54 AS 3724/10 ER

Tenor

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 10.09.2010 bis zum 31.03.2011 Leistungen des SGB II nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragsstellers.

Tatbestand

1

Der Antragsteller begehrt im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II.

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Der Antragsteller wurde am E. in F. geboren und hat die Rechtsstellung als heimatloser Ausländer erworben.

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Mit Bescheid vom 09.05.2000 wies die G. den Antragsteller gem. § 47 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 47 Abs. 3 Ausländergesetz unbefristet aus dem Bundesgebiet aus (Bl. 22 Verwaltungsakte). Zwar genieße der Kläger auf Grund seiner Heimatlosigkeit einen besonderen Ausweisungsschutz. Es lägen jedoch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, da der Antragsteller den Ausweisungsgrund des § 47 Abs. 1 Nr. 1 Ausländergesetz erfülle. Der Antragsteller sei mehrfach und in erheblichem Ausmaß - zuletzt 1999 - strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der weitere Aufenthalt des Antragstellers werde jedoch geduldet, da eine Aufenthaltsbeendigung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sei. Die Ausweisungsverfügung ist seit dem 29.07.2003 unanfechtbar (Urteil des VG Hannover vom 29.07.2003)(Bl. 21). Die Abschiebung ist ausgesetzt. Der Antragsteller verfügt über eine entsprechende Duldung, ausgestellt am 02.12.2009 (Bl. 5).

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Von 2005 bis 2009 befand sich der Antragsteller in der JVA H. (Bl. 4).

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Der Antragsteller steht derzeit im SGB XII-Leistungsbezug. Seit dem 19.02.2009 lebt er in einer Einrichtung I. Die Stadt J. hat als Leistungsträger der Sozialhilfe mit Bescheid vom 17.08.2009 ein Kostenanerkenntnis für die teilstationäre Betreuung in Form einer heiminternen Tagesstruktur abgegeben (PKH-Heft). Der Antragsteller erhält Hilfe zum Lebensunterhalt, Bekleidungsgeld, Eingliederungshilfe als fachliche Hilfe sowie einen monatlichen Betrag in Höhe von 96,93 Euro, der ihm in bar ausgezahlt wird.

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Am 28.06.2010 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, da er in den Zuständigkeitsbereich des Jobcenters J. umziehen werde. Ein formeller Antrag auf SGB II Leistungen liegt nicht vor.

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Mit Bescheid vom 12.07.2010 lehnte die Antragsgegnerin die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab. Der Antragsteller sei gem. § 7 Abs. 1 S. 2 2. Halbsatz von diesen Leistungen ausgeschlossen, da er als Inhaber einer Duldung leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sei (Bl. 10).

8

Dagegen erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 20.07.2010 Widerspruch (Bl. 12). Der Antragsteller sei "heimatloser Ausländer" und damit gem. § 19 des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer bzgl. der öffentlichen Fürsorge und der Sozialhilfe Deutschen gleichgestellt. Ein Deutscher in der Situation des Antragstellers könne SGB II Leistungen beanspruchen. Diese Norm gehe § 7 SGB II vor. Der Antragsteller befinde sich im Gegensatz zu den Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht nur für eine vorübergehende Zeit im Bundesgebiet, sondern längere Zeit, ggf. sogar sein ganzes Leben. Es gebe keinen Staat, in den der Antragsteller rechtmäßig ausreisen könne.

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Den Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 09.09.2010 aus den im Ausgangsbescheid genannten Gründen zurück. Der Antragsteller hat insoweit am 21.09.2010 Klage erhoben (S 54 AS 3880/10).

10

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt der Antragsteller schriftsätzlich,

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die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig - bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren

12

Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag zurückzuweisen.

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Ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die sozialgerichtliche Akte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen, die zur Entscheidungsfindung vorlag.

Entscheidungsgründe

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Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

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Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

18

Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrten Leistungen besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist.

19

Sowohl Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. etwa Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rn. 42).

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Dem Antragsteller steht ein Anordnungsanspruch zu. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist der Antragsteller nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 2. HS SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

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Gem. § 7 Abs. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die

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1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

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2. erwerbsfähig sind,

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3. hilfebedürftig sind und

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4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

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Ausgenommen davon sind insbesondere Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG; § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II). Leistungsberechtigt nach § 1 des AsylbLG sind insbesondere Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes besitzen (Ziffer 4) oder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist (Ziffer 5). Für den Leistungsausschluss wird dabei ausschließlich der dem Aufenthalt des Ausländers zu Grunde liegende Aufenthaltstitel als Bezugspunkt gewählt. Dabei ist jedoch aus Sicht der Kammer zu berücksichtigen, dass der Leistungsausschuss des § 7 SGB II für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz damit begründet ist, dass es sich bei dem Asylbewerberleistungsgesetz um ein besonderes Sicherungssystem handelt, das eigenständige und abschließende Regelungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, sowie zur Annahme und Durchführung von Arbeitsgelegenheiten für einen eng begrenzten Personenkreis von Ausländern enthält (vgl. BT-Drs. 15/1516, S. 52). Wegen ihres Ausnahmecharakters ist wiederum die Norm des § 1 AsylbLG auf weitere, nicht in Abs. 1 genannte Ausländergruppen nicht anwendbar. Zwar besitzt der Antragsteller eine Duldung gem. § 60a Aufenthaltsgesetz und unterliegt insofern zunächst formal der Regelung des § 1 AsylbLG und wäre damit leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Gleichzeitig besitzt er jedoch den Status eines heimatlosen Ausländers. Diesen stehen besondere Rechte nach dem Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet (HAuslG) zu. Die Kammer ist der Auffassung, dass diese Regelungen lex specialis zur Regelung des § 7 SGB II sind. Heimatlose Ausländer sind deutschen Staatsangehörigen weitestgehend gleichgestellt. Sie sind in der Wahl ihres Aufenthaltsortes und in der Freizügigkeit innerhalb des Bundesgebietes den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt (§ 12 Abs. 1 S. 1 HAuslG). Insbesondere bedürfen heimatlose Ausländer gem. § 12 S. 2 HAuslG keines Aufenthaltstitels. Sie sind deutschen Staatsangehörigen in der Ausübung nichtselbständiger Arbeit gleichgestellt (§ 17 HAuslG). Sie sind in der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt (§ 18 HAuslG) und erhalten in der öffentlichen Fürsorge Leistungen in gleicher Höhe wie deutsche Staatsangehörige (§ 19 HAuslG). Heimatlose Ausländer als solches unterliegen damit dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht. Im Falle des Antragstellers liegt der Sonderfall vor, dass dieser gleichzeitig über eine Duldung gem. § 60a Aufenthaltsgesetz verfügt. Insoweit bestimmt § 23 HAuslG, dass heimatlose Ausländer nur nach Maßgabe des § 56 Aufenthaltsgesetzes aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden dürfen. Dies ist hinsichtlich des Antragstellers geschehen. Der entsprechende Bescheid ist rechtskräftig. Ihren Status als heimatloser Ausländer verlieren diese Personen nach Ansicht der Kammer durch den Erlass einer Ausweisungsverfügung jedoch nicht. Auch sonstige Einschränkungen sieht das HAuslG bezüglich eines ausgewiesenen heimatlosen Ausländers nicht vor. Insoweit gilt auch für einen heimatlosen Ausländer, der eine Duldung gem. § 60a Aufenthaltsgesetz besitzt, dass die Regelungen des HAuslG, mit dem er deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt wird, weiterhin Gültigkeit haben. Dass heimatlose Ausländer wie der Antragsteller in der öffentlichen Fürsorge Leistungen in gleicher Höhe wie deutsche Staatsangehörige erhalten (vgl. § 19 HAuslG), führt dann aber dazu, dass dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II zustehen und er davon nicht durch eine etwaige Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgeschlossen ist. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass heimatlose Ausländer in der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge, die wirksam wurde, wenn die Arbeitslosenunterstützung nach spätestens 26 Wochen auslief, ebenfalls deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt sind (vgl. § 18 HAuslG). Im Arbeitsförderungsrecht hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass heimatlose Ausländer ebenso förderungswürdig sind, wie deutsche Staatsangehörige (vgl. § 63 Abs. 1 Nr. 7 SGB III). Diese Nennung hat vor dem Hintergrund der oben genannten Normen des HAuslG jedoch nur deklaratorische Bedeutung (Hauck/Noftz - Petzold, Kommentar zum SGB III, EL vom 27.07.2010, § 63, Rn. 11; Eicher/Schlegel, Buser, Kommentar zum SGB III, § 63, Rn. 85). Daraus wird deutlich, dass das HAuslG dem heimatlosen Ausländer einen selbständigen Anspruch auf Leistungen vermittelt. Der Gesetzgeber war insoweit nicht gehalten, im SGB II ausdrücklich festzustellen, dass heimatlose Ausländer Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, da ein entsprechender allgemeiner Anspruch durch das HAuslG bereits konstituiert wurde. Einen Ausschluss heimatloser Ausländer von den Leistungen des SGB II hätte der Gesetzgeber dagegen ausdrücklich kenntlich machen müssen. Eine solche erfolgte nicht. Eine Bezugnahme auf die Normen des Asylbewerberleistungsgesetzes reicht dafür aus Sicht der Kammer nicht aus.

27

Eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers liegt vor. Insoweit verweist die Kammer darauf, dass dieser bereits Leistungen nach dem SGB XII seitens des Sozialhilfeträgers, der K., erhält. Hinweise auf eine mangelnde Erwerbsfähigkeit des Antragstellers liegen nicht vor.

28

Die Anforderungen an den Anordnungsgrund, die vor dem Hintergrund des Leistungsanspruches des Antragstellers als gering anzusehen sind, hält die Kammer für erfüllt, da die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums im Mittelpunkt des Anspruchs des Antragstellers steht.

29

Der Zeitraum der einstweiligen Regelung war auf den regulären Bewilligungszeitraum von sechs Monaten nach dem SGB II zu begrenzen.

30

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 


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