Beschluss vom Sozialgericht Hildesheim (34. Kammer) - S 34 AY 12/06 ER
Tenor
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - ab dem 4. April 2006 längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.
2. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe
I.
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Die Antragsteller begehren die vorläufige Bewilligung von Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG).
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Die Antragstellerin zu 1. lebt seit ca. Anfang des Jahres 1990 in Deutschland. Sie stammt aus Beirut (Libanon). Am 15. Dezember 1993 wurde in Hildesheim der Antragsteller zu 2. geboren.
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Am 23. September 1994 erhielt die Antragstellerin zu 1. eine Aufenthaltsbefugnis. Diese erstreckte sich auch auf den Antragsteller zu 2.
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Am 01. Januar 2005 trat das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) in Kraft. Nach der Ziffer 101.2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz vom 30. November 2005 wurden erteilte Aufenthaltsbefugnisse in Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz übergeleitet.
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Bis zum 31.Dezember 2004 fielen Inhaber von Aufenthaltsbefugnissen nicht unter das AsylblG. Die Antragsteller bestritten daher ihren Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Durch die Überleitung in Aufenthaltserlaubnisse fielen die Antragsteller ab dem 01. Januar 2005 in den Geltungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes. Sie erhielten jedoch von Januar bis Dezember 2005 Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 08. Dezember 2005 wies das Job-Center Hildesheim die Antragstellerin zu 1. darauf hin, dass sie aufgrund ihres Aufenthaltstitels vorrangige Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz habe und daher gemäß § 7 Abs. 1 SGB II von dem Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen sei. Die Leistungen nach dem SGB II würden daher zum 31. Dezember 2005 eingestellt. Die Antragstellerin zu 1. beantragte daher am 20. Dezember 2005 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Mit Bescheid vom 09. Januar 2006 bewilligte der Antragsgegner die beantragten Leistungen nach §§ 1, 3 Asylbewerberleistungsgesetz rückwirkend ab dem 01. Januar 2006.
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Gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller - vertreten durch ihren Verfahrensbevollmächtigten - mit Schreiben vom 17. Februar 2006 Widerspruch. Zur Begründung verwiesen sie darauf, dass den Antragstellern durch die Bewilligung von Leistungen gemäß § 1 Asylbewerberleistungsgesetz nur Wertgutscheine sowie Taschengeldleistungen zugestanden würden. Die Antragsteller würden damit so behandelt, wie neu angekommene Asylbewerber. Es liege damit ein Verstoß gegen Artikel 3 Grundgesetz vor. Die Antragsteller hätten einen Anspruch nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz trotz des entgegen stehenden Gesetzestextes, der von 36 Monaten spricht, wegen ihrer langen Bezugsdauer von anderen Sozialleistungen.
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Über diesen Widerspruch ist, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden.
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Am 4. April 2006 haben die Antragsteller - vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten - bei dem Sozialgericht Hildesheim einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zur Begründung wiederholen sie im Wesentlichen ihr Vorbringen der Widerspruchsbegründung. Weiterhin machen sie geltend, dass sie durch die erhebliche Leistungskürzung in massive finanzielle Schwierigkeiten geraten seien.
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Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
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den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen ab den 04. April 2006 vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung und längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz zu bewilligen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung verweist er darauf, dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetzes seiner Ansicht nach eindeutig sei. Danach sei Voraussetzung, dass die Leistungsempfänger über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz bezogen hätten. Das sei jedoch vorliegend nicht der Fall, da die Antragsteller erst ab dem 01. Januar 2006 Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz bezogen hätten. Eine planwidrige Regelungslücke, die es durch eine analoge Anwendung des § 2 Asylbewerberleistungsgesetz zu schließen gelte, sei nicht erkennbar. Der Gesetzgeber habe sich im Rahmen der Beratungen des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) mit den Anpassungen des Asylbewerberleistungsgesetzes durch das Zuwanderungsgesetz intensiv beschäftigt. Auch hätte der Gesetzgeber, wenn er gewollt hätte, die zum 18. März 2005 aus integrationspolitischen Gründen erforderliche Änderung des § 1 Abs. 1 Ziffer 3 Asylbewerberleistungsgesetz anders gestalten können.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Der Antrag hat in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang Erfolg. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile notwendig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05 m. w. N.). Steht dem Antragsteller ein vom ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren ist jedoch nur zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004, Az.: L 7 AL 103/04 ER).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Antragsteller Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht.
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Ein Anordnungsgrund, das heißt die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, ist gegeben, weil den Antragstellern ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist. Denn die derzeit bewilligten Leistungen nach §§ 1, 3 Asylbewerberleistungsgesetz sind deutlich geringer als die Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz i.V.m. dem SGB XII. Mit Rücksicht auf den die menschenwürdige Existenz sichernden Charakter der streitigen Leistungen ist es den Antragstellern nicht zuzumuten, sie zur Durchsetzung ihrer Rechte auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu verweisen. Insoweit schließt sich das Gericht der bisherigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts an, welches bei der Gewährung von Leistungen nach §§ 1, 3 Asylbewerberleistungsgesetz anstelle von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz das Vorliegen eines Anordnungsgrundes bejaht hat (Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2001, Az.: 4 M 3889/00). Im Übrigen wird auf die Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.10.2005 (Az.: L 7 AY 1/05 ER) und vom 02.11.2005 (Az.: L 7 B 7/05 AY) Bezug genommen. Weiterhin wird auch auf den Beschluss des Landessozialgerichtes Baden-Württemberg vom 15.11.2005 (Az.: L 7 AY 4413/05 ER - B) verwiesen.
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Nach Auffassung des Gerichts besteht auch ein Anordnungsanspruch. Der Leistungsbezug nach dem SGB XII entsprechend dem § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz setzt nach dem Wortlaut des Gesetzes zwar neben einer nicht rechtsmissbräuchlichen Verlängerung der Aufenthaltsdauer eine Bezugsdauer von Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz durch den Leistungsempfänger über einen Zeitraum von insgesamt 36 Monaten voraus. Im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Norm ist jedoch im vorliegenden Fall eine analoge Anwendung des § 2 Asylbewerberleistungsgesetz geboten. Denn es besteht eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage. Sinn und Zweck des § 2 Asylbewerberleistungsgesetzes war es in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung, diejenigen leistungsberechtigten Asylbewerber besser zu stellen, die sich für eine längere Dauer in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten und die Dauer ihres Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. So sollte den Bedürfnissen Rechnung getragen werden, die sich durch einen längeren Aufenthaltszeitraum mit ggf. ungewisser Dauer ergeben und eine bessere soziale Integration erreicht werden (Bundestagsdrucksache 12/5008, Seite 15). Anhaltspunkte dafür, dass sich an dieser Rechtslage etwas durch die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes zum 01. Januar 2005 geändert hat, bestehen nicht. Vielmehr sollte insbesondere durch die Neufassung des § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetzes der Anreiz zu einer missbräuchlichen Asylantragstellung weiter eingeschränkt werden (Bundestagsdrucksache 15/420, Seite 120). Eine weitere Änderung des Kreises der leistungsberechtigten Personen oder eines Abrückens von der Intention des integrativen Aspekts lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Insofern lässt sich nicht die Absicht des Gesetzgebers folgern, grundsätzlich allen Personen, die vor dem Ende des Jahres 2004 nicht Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten haben, diese Privilegierung des § 2 Asylbewerberleistungsgesetzes zu entziehen bzw. nicht zukommen zu lassen, weil Leistungen eines anderen Leistungssystems (z.B. des BSHG oder des SGB II) in Anspruch genommen wurden. Zu einer anderen Beurteilung führt in diesem Zusammenhang auch nicht, dass der Gesetzgeber, wenn er gewollt hätte, zum 18.03.2005 die aus integrationspolitischen Gründen erforderliche Änderung des § 1 Abs. 1 Ziffer 3 Asylbewerberleistungsgesetz hätte anders gestalten können. Denn vorliegend ist nicht entscheidend, welche Personen von der Leistungsberechtigung nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz ausgenommen werden, sondern wem die erhöhten Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz zustehen sollen.
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Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Leistungsberechtigten kein Wahlrecht haben, welche Art von Leistungen (BSHG, SGB II, Asylbewerberleistungsgesetz) sie erhalten, sondern den gesetzlichen Vorgaben oder - wie vorliegend - der tatsächlichen Bewilligung unterworfen sind. Insofern waren für die Antragsteller die gesetzlichen Änderungen im Ausländerrecht im Hinblick auf die Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ohne ihre Einflussmöglichkeit von maßgebender Bedeutung.
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Es besteht auch für die Bejahung einer Analogie notwendige vergleichbare Interessenlage. Denn die Antragsteller sind erst durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes wieder in den Bereich des Asylbewerberleistungsgesetzes gefallen. Die vorhergehenden 15 Jahre für die Antragstellerin zu 1. bzw. 12 Jahre für den Antragsteller zu 2. wurde der Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem BSHG bzw. SGB II bestritten. Die nunmehrige durch die Änderung des Ausländerrechts leistungsrechtlich bewirkte Verweisung auf Wertgutscheine wird dem vom Gesetzgeber anerkannten Integrationsbedarf nicht gerecht. Durch die Gesetzesänderung sollten nur die Ausländer schlechter gestellt werden, die rechtsmissbräuchlich die Dauer ihres Aufenthaltes selbst beeinflusst haben. Ein derartiger Missbrauch des Aufenthaltsrechts wird vorliegend weder von Seiten des Antragsgegners nicht vorgetragen, noch bestehen Anhaltspunkte dafür. Insofern schließt sich das Gericht dem überzeugenden Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 03. Juni 2005 (Az.: S 19 AY 6/05 ER) an. In diesem erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit der vorliegenden Rechtsfrage, und es wird überzeugend nach einem Leistungsbezug von Leistungen nach dem BSHG bzw. SGB II über den Wortlaut des § 3 Asylbewerberleistungsgesetz hinaus die Berechtigung für erhöhte Leistungen nach dem SGB XII bejaht.
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Nicht zu überzeugen vermögen in diesem Zusammenhang die vom Antragsgegner herangezogenen Entscheidungen des SG Detmold vom 30. Mai 2005 (Az.: S 13 AS 13/05 ER) und der Beschluss des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 21. Juli 2005 (Az.: L 9 B 31/05 AS ER). Denn diese betreffen einen Sachverhalt, in dem der Antragsteller Leistungen nach dem SGB II statt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz begehrt hatte. Am Rande stellt das Gericht fest, dass der Antragsteller nicht leistungsberechtigt nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz sei, denn er habe nicht über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der hier streitigen Rechtsfrage in vergleichbarer Konstellation erfolgt jedoch nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
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