Urteil vom Sozialgericht Münster - S 2 KR 64/98
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 27.01.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.06.1998 wird abgeändert. Die Beklagte hat der Klägerin für die Zeit vom 01.07.1997 bis zum 30.06.1998 auch die Kosten für den 2. täglichen Einsatz häuslicher Krankenpflege zu erstatten. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin für das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen häusliche Krankenpflegeleistungen zu gewähren hat und deshalb verpflichtet ist, die Kosten auch für den 2. täglichen Einsatz häuslicher Krankenpflege zu erstatten.
3Der Vertragsarzt Dr. H aus D verordnete der am 09.05.1913 geborenen Klägerin, bei der der Zustand nach einer Wirbelkörperfraktur und einer Osteoporose besteht, zweimal täglich fünfmal wöchentlich Behandlungspflege für das 3. und 4. Quartal 1997 sowie für das 1. und 2. Quartal 1998. Für das 3. und 4. Quartal 1997 gab der Arzt als besondere Anweisungen an: "Stützkorsett, Mobilisation, Blutdruckkontrolle, medizinische Einreibungen." Für das 1. und 2. Quartal 1998 ordnete er die kontrollierte Einnahme überwachungspflichtiger Medikamente, Blutdruckkontrollen sowie das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen Klasse III an. Aus den Pflegeprotokollen des von der Klägerin beauftragten Pflegedienstes ergibt sich, dass auch 1997 Stützstrümpfe an- und ausgezogen worden sind.
4Die Klägerin, die allein in ihrem Haushalt lebt, erhält Pflegesachleistungen nach Pflegestufe 1.
5Wegen der Blutdruckkontrollen übernahm die Beklagte Kosten für einen täglichen Pflegeeinsatz, lehnte aber die Übernahme der Kosten für den zweiten Einsatz täglich durch Bescheid vom 27.01.1998, der nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen ist, ab, weil einfache Behandlungspflegemaßnahmen wie das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe nicht die speziellen Kenntnisse einer Fachkraft eines Pflegedienstes erforderten und deshalb nicht zum Inhalt der häuslichen Krankenpflege gehörten.
6Der am 22.05.1998 eingegangene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 08.06.1998 zurückgewiesen.
7Mit der am 22.06.1998 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter.
8Sie hat die Leistungen des zweiten täglichen Einsatzes der Krankenpflege in Anspruch genommen und verlangt nunmehr Kostenerstattung dafür. Nach ihrer Meinung gehören nicht nur die Medikamentenabgabe und die tägliche Blutdruckkontrolle, sondern auch das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe zu den Leistungen der Behandlungspflege, weil es sich um medizinische Hilfsleistungen handele.
9Die Klägerin beantragt,
10die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 27.01.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.06.1998 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.07.1997 bis zum 30.06.1998 auch die Kosten für den zweiten täglichen Einsatz der häuslichen Krankenpflege zu erstatten.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Da die Klägerin Leistungen der Pflegeversicherung erhalte, sei das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe der Grundpflege zuzuordnen. Pflegebedürftige Personen hätten im allgemeinen nicht nur normale Kleidungsstücke anzuziehen, sondern häufig auch ein Stützkorsett oder Kompressionsstrümpfe, so dass das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe für sie zu den gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens gehörten, für die Leistungen gem. § 14 des 11. Sozialgesetzbuches (SGB X) gewährt würden.
14Wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den Richtlinien über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege vom 16.02.2000 auch festgelegt habe, dass einmal täglich An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen zu den Leistungen gehöre, für die Behandlungspflege zu gewähren sei, so stütze das den Klageanspruch nicht, weil diese Richtlinien zu der hier streitigen Zeit von Juli 1997 bis Juni 1998 noch nicht gültig gewesen seien. Im übrigen werde ein Einsatz täglich der häuslichen Krankenpflege bezahlt. Aus der Formulierung, "jeweils einmal täglich" in den o.a. Richtlinien sei zu schließen, dass nur die Kosten für das Anziehen von Kompressionsstrümpfen zu übernehmen seien.
15Das Gericht hat einen Befund- und Behandlungsbericht des behandelnden Arztes Dr. H eingeholt, der unter dem 21.09.1999 die Auffassung vertreten hat, dass für die Klägerin einmal täglich Blutdruckkontrollen und Medikamentenabgabe und zweimal täglich Pflegeleistungen für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe in der streitigen Zeit erforderlich gewesen seien.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens und des Befundberichtes von Dr. H wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Parteien und des Befund- und Behandlungsberichtes Bezug genommen. Verwiesen wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt, soweit er entscheidungserheblich ist, Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
17Entscheidungsgründe:
18Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
19Die Klägerin hat für die hier streitige Zeit Anspruch auf die Übernahme der Kosten für zwei tägliche Behandlungspflegeeinsätze gehabt. Da die Beklagte nur die Kosten für einen Einsatz übernommen hat und die Klägerin den zweiten Einsatz selbst finanziert hat, hat sie nunmehr insoweit einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte.
20Nach § 37 Abs. 2 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.
21Wie sich aus § 13 Abs. 2SGB XI ergibt, bleiben die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V von den Vorschriften des SGB XI unberührt, so dass sich auch nicht allein deshalb, weil die Klägerin Leistungen nach der Pflegeversicherung bezieht, ihr Anspruch auf Behandlungspflegeleistungen verneinen lässt.
22Die Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 SGB V sind erfüllt.
23Die Klägerin lebt in ihrem eigenen Haushalt.
24Dr. H hat für sie u. a. Blutdruckmessungen und die Medikamentenabgabe und das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen verordnet.
25Bei diesen Leistungen handelt es sich um Leistungen der Behandlungspflege. Während die Grundpflege i.S. von § 37 Abs. 1 S. 2 SGB V pflegerische Leistungen nicht medizinischer Art umfasst, gehören zur Behandlungspflege medizinische Hilfsleistungen (vgl. BSGE 50, 71, 73 und Höfler in Kasseler Kommentar, § 37 Rdnr. 23 und Krauskopf § 37 Rdnr. 7), bei denen der medizinisch geprägte Heil- und Behandlungszweck im Vordergrund steht.
26Anders als die Beklagte es sieht, hält das Gericht das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen nicht für eine Leistung der Grundpflege im Sinne von § 14 SGB XI, wenn dort auch das An- und Ausziehen erwähnt ist. Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen gehört eben nicht zum An- und Ausziehen normaler Kleidung, weil Kompressionsstrümpfe keine normalen Strümpfe sind. Sie werden von Gesunden nicht getragen, sondern nur aufgrund ärztlicher Verordnung, wenn die Gefahr einer Thrombose besteht, z. B. bei Krankenhausbehandlung. Die Kompressionsstrümpfe werden von den Krankenkassen als Hilfsmittel i. S. von § 33 SGB V gewährt.
27Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen mag keine Fachkunde einer Pflegeperson erfordern. Es ist der Klägerin nach der Einschätzung ihres Hausarztes wegen der damit verbundenen Kraftanstrengung aber nicht möglich.
28Kompressionsstrümpfe werden verordnet, um das Ziel der ärztlichen Behandlung, dass nämlich keine Thrombose eintritt, zu gewährleisten, so dass es sich dabei um medizinische Hilfsleistungen handelt. Das wird zur Überzeugung des Gerichtes auch bestätigt durch die Einschätzung, die in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von "häuslicher Krankenpflege" nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 und 7 SGB V vom 16.02.2000 (Bundesanzeiger Nr. 91 vom 13.05.2000) getroffen worden ist. Darin ist unter Nr. 31 des Verzeichnisses verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen jeweils einmal täglich nämlich als Teil der Behandlungspflege genannt. Zwar galt diese Richtlinie in dem hier streitigen Zeitraum von Juli 1997 bis Juni 1998 noch nicht. Es ist aber kein Grund dafür ersichtlich, inwieweit sich inzwischen eine Änderung ergeben haben sollte, so dass die nunmehr von dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen vorgenommene Einschätzung nach Überzeugung des Gerichtes auch bereits für die Jahre 1997 und 1998 Gültigkeit hat.
29Wenn in den Richtlinien das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen jeweils einmal täglich der Behandlungspflege zugeordnet wird, so kann das nur so verstanden werden, dass einmal täglich das Anziehen und einmal täglich das Ausziehen als Behandlungspflege zu gewähren ist. Da dies nicht in einem Einsatz erfolgt, sondern die Strümpfe morgens angezogen und abends ausgezogen werden müssen, ist dann zweimal der Einsatz häuslicher Krankenpflege von der Krankenkasse zu bezahlen, wenn dieses An- und Ausziehen erforderlich ist.
30An die Einschätzung des behandelnden Arztes, dass das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe bei der Klägerin durch eine Pflegeperson erforderlich ist, ist die Krankenkasse gebunden, denn die Verordnung des Vertragsarztes entfaltet Schutzwirkungen zugunsten des Versicherten wegen der besonderen Pflichtenbindung zwischen dem verordnenden Vertragsarzt und der Krankenkasse.
31Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ist eine medizinische Hilfsleistung, auch wenn sie auch von Nichtfachkräften erbracht werden kann. Darauf kann es bei der Behandlungspflege nicht ankommen (vgl. BSG vom 30.03.2000 - B 3 KR 23/99 R). Ansonsten wäre § 37 Abs. 3 SGB V, wonach Behandlungspflegekosten nicht zu übernehmen sind, wenn eine im Haushalt lebende Person diese Hilfsleistungen gewähren kann, nicht nachzuvollziehen, denn im Haushalt lebende Personen werden in aller Regel keine pflegerische Ausbildung haben.
32Da keine andere im Haushalt lebende Person diese Pflegeleistungen für die Klägerin erbringen konnte, war es notwendig, dass die Behandlungspflegeleistungen gewährt wurden.
33Nach alledem hätte die Beklagte der Klägerin für die hier streitige Zeit zweimal täglich Behandlungspflege zu gewähren gehabt.
34Da sie die Kostenübernahme für den zweiten täglichen Einsatz in der angefochtenen Entscheidung zu Unrecht abgelehnt hat, durfte sich die Klägerin die Leistung selbst beschaffen und kann nunmehr Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V verlangen. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch den Versicherten für die selbstverschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
35Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
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