Urteil vom Sozialgericht Osnabrück (22. Kammer) - S 22 AS 35/05
Tatbestand
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob es sich bei dem I. in J. um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) handelt.
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Nach längerer Wohnungslosigkeit wurde die Klägerin, nachdem eine Unterkunft bei Bekannten nicht mehr möglich war (vgl. Seite 6 des Gesamtplans, Blatt 43 der Gerichtsakte), am 02. August 2004 in das K. in J. aufgenommen. Sie stellte am 19. August 2004 einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Am 01. Oktober 2004 wurde mit Wirkung vom gleichen Tage zwischen der Klägerin und dem I. ein Gesamtplan für die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in stationären Einrichtungen nach § 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), jetzt § 67 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII), geschlossen. Hinsichtlich des weiteren Inhalts der Vereinbarung wird auf Blatt 32 bis 51 der Gerichtsakte verwiesen. Die Stadt J. als Träger der Sozialhilfe gewährte der Klägerin daraufhin Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 72 BSHG. Mit Bescheid vom 10. Dezember 2004 lehnte die Stadt J., deren Rechtsnachfolgerin die Beklagte im Leistungsbereich des SGB II ist, den Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II unter Hinweis auf § 7 Abs. 4 SGB II ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch vom 27. Januar 2005 wurde mit Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2005 zurückgewiesen. Die Beklagte begründete ihre Entscheidung damit, dass die Klägerin den bei stationären Maßnahmen üblichen Barbetrag erhalte. Darüber hinaus sei der Aufenthalt bis zum 30. April 2005 vorgesehen und dauere somit über sechs Monate an.
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Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 03. März 2005, eingegangen beim Sozialgericht Osnabrück am 07. März 2005, Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, dass das I. nicht von der Aufnahme bis zur Entlassung die Gesamtverantwortung für ihre tägliche Lebensführung übernehme. Vielmehr handele es sich bei dem K. lediglich um eine Übergangswohnmöglichkeit, in der ihr entsprechend dem mit dem I. abgeschlossenen Gesamtplan Hilfestellungen und Anleitungen für verschiedene Lebensbereiche angeboten würden.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
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die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid der Stadt J. vom 10. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 16. Februar 2005 aufzuheben und ihr Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.
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Die Beklagten beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, dass die umfangreiche therapeutische Hilfestellung und der Umstand, dass es sich um eine Leistungserbringung nach § 72 BSHG bzw. § 67 SGB XII handele, für eine stationäre Maßnahme im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II sprächen. Zwischenzeitlich wurde der Gesamtplan am 06. April 2005 bis zum 01. Dezember 2005 fortgeschrieben.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugin L. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 21. November 2005 verwiesen. Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte gemäß § 130 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Leistung dem Grunde nach verurteilen, weil statthafte Klageart eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ist und eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht.
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Danach ist die zulässige Klage begründet. Der Bescheid der Stadt J. vom 10. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 16. Februar 2005 ist rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Die Klägerin hat neben der von der Stadt J. gewährten Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 SGB XII Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, denn bei dem I. in J. handelt es sich nicht um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II. Gemäß § 7 Abs. 4 SGB II erhält derjenige keine Leistungen nach dem SGB II, der für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist.
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Das SGB II definiert den Begriff der stationären Einrichtung nicht. Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass Abs. 4 des § 7 SGB II während des Gesetzgebungsverfahrens nachträglich eingefügt wurde. Zur Begründung wurde lediglich ausgeführt, dass die Änderung den Sprachgebrauch hinsichtlich der stationären Unterbringung in § 36 SGB II, jetzt § 35 SGB XII, harmonisiere (Bundestags-Drucksache 15/1749, S.31; vgl. hierzu ausführlich: Sozialgericht Hildesheim, Beschluss vom 21. März 2005 - S 43 AS 24/05 ER - ).
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Bei systematischer Auslegung kann § 7 Abs. 4 SGB II nur dahingehend verstanden werden, dass durch diese Regelung eine Abgrenzung der Leistungsbereiche der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe erfolgen soll. § 7 Abs. 4 SGB II ist als gesetzliche Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit auszulegen (vgl. Spellbrink in: Eicher/ Spellbrink, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Kommentar, 2005, § 7, Rn.33). Wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, ist nicht nur nicht leistungsberechtigt, sondern auch nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II, so dass dann der Ausschluss nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 21 SGB XII nicht eingreift und zumindest ein Anspruch nach § 35 SGB XII besteht (zu diesem Ergebnis der Leistungsabgrenzung kommend auch Brühl in: LPK-SGB II, § 7, Rn.56).
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Der Begriff der stationären Einrichtung wird im SGB II nicht weiter verwandt, findet sich jedoch in einer Vielzahl von Vorschriften im SGB XII. Stationäre Einrichtungen sind nach § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII Einrichtungen, in denen Leistungsberechtigte leben und die erforderlichen Hilfen erhalten. Entscheidend ist danach, ob der Träger der Einrichtung von der Aufnahme bis zur Entlassung im Rahmen eines fachlich begründeten Hilfekonzepts die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung übernimmt (Krahmer in: LPK-SGB XII, § 13, Rn.4 unter Bezugnahme auf Schellhorn/Schellhorn, § 97 BSHG, Rn.96; zu § 7 Abs. 4 SGB II auch Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Kommentar, 2005, § 7, Rn.34 unter Bezugnahme auf die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit). Dieses Verständnis des Begriffs „stationäre Einrichtung" kann zur Auslegung herangezogen werden (so Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. September 2005 - L 8 AS 297/05 ER - im Hinblick auf Justizvollzugsanstalten unter Bezugnahme auf Schumacher in: Oesterreicher, Kommentar um SGB XII/SGB II, Loseblattsammlung, Stand Juni 2005, § 7 Rn.27 und Peters in: Estelmann, Kommentar zum SGB II, Loseblattsammlung, Stand Februar 2005, § 7 Rn.38). Eine solche Übernahme der Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung durch die Einrichtung kann nur dann erfolgen, wenn dem Hilfebedürftigen die Entscheidungsmacht über die tägliche Gestaltung seines Lebens abgenommen wird. Denn Verantwortung kann nur ausgeübt werden, wenn dem die Verantwortung Ausübenden ein Gestaltungsinstrumentarium zur Wahrnehmung der Verantwortung an die Hand gegeben wird. Die Möglichkeit zur Gestaltung auf Seiten der Einrichtung muss mit dem Verlust der Gestaltungsmöglichkeit auf Seiten des Hilfebedürftigen einhergehen.
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Sofern in der Literatur von einer Prognoseentscheidung gesprochen wird (so z.B. Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Kommentar, 2005, § 7, Rn.35), bezieht sich dies lediglich auf die Beurteilung des Zeitrahmens von sechs Monaten. Insoweit war entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II vorliegt oder nicht, der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/ Leitherer/Keller, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 8.Auflage 2005, § 54, Rn.34).
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Unter Beachtung dieser Vorgaben ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass das I. nicht die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung der Klägerin von der Aufnahme bis zur Entlassung übernimmt.
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Entsprechend der Homepage des M. e. V., der Träger des N. ist, beinhaltet das Leitungsangebot des N. wohnungslosen Frauen die Ermöglichung zum „Bleiben" durch das Schaffen sozialer und wirtschaftlicher Voraussetzungen und durch den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen, die Unterstützung bei der Überwindung sozialer Schwierigkeiten (z. B. allgemeine Lebensberatung, Beratung bei der Finanzplanung, Vermittlung an medizinische und soziale Fachdienste), die Beratung in frauenspezifischen Angelegenheiten, Hilfen zur Ausbildung, Maßnahmen zur Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes, die Hinführung zum eigenständigen Wohnen (Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten), die Unterstützung bei der Wohnungssuche sowie Hilfen zur Begegnung und zur Gestaltung der Freizeit (vgl. http://www. )
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Die als Diplom-Pädagogin ausgebildete und im I. tätige Zeugin P. bekundete in der durchgeführten Beweisaufnahme, dass nach der Aufnahme im I. zusammen mit den Bewohnerinnen ein Gesamtplan erstellt werde, wobei die Bewohnerinnen angeben könnten, in welchen Bereichen sie der Hilfe bedürfen. Sei die Bewohnerin der Auffassung, dass sie in einem bestimmten Bereich keiner Hilfe bedürfe, erfolge hier keine weitere Hilfestellung. Im Rahmen der Freizeitgestaltung fänden bei Interesse der Bewohnerinnen gemeinsame Aktivitäten statt. Bis auf die wöchentliche Bewohnerversammlung seien die Bewohnerinnen in ihrer Freizeitgestaltung frei. Einige Bewohnerinnen würden einer Beschäftigung nachgehen.
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Danach spricht gegen die Annahme einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II, dass die Klägerin selber entscheiden kann, welche Hilfe sie im I. in Anspruch nehmen will. Es werden ihr auf ihren Wunsch Hilfen im Umgang mit Ämtern und Behörden gegeben. Es besteht Seitens des N. das für die Klägerin unverbindliche Angebot, sie bei wichtigen Terminen zu begleiten (Seite 2 des Verlängerungsantrags, Blatt 33 der Gerichtsakte). Nach den Bekundungen der Zeugin P. ist die Klägerin frei in ihrer Entscheidung, ob und welches Hilfeangebot des N. sie in Anspruch nehmen möchte. Es finden zwar Beratungsgespräche statt, diese sind jedoch für die Klägerin nicht verpflichtend. Auch kann sich die Klägerin sowohl im als auch außerhalb des N. frei bewegen und hat einen eigenen Schlüssel. Ihre Tagesplanung kann sie frei gestalten.
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Auch der Umstand, dass es Bewohnerinnen gibt, die während des Aufenthalts im I. einer Beschäftigung nachgehen, spricht gegen die Annahme einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II. Denn hierdurch wird deutlich, dass das Konzept des N. einen Aufenthalt von Erwerbsfähigen im Sinne des § 8 SGB II zulässt und sofern eine Beschäftigung (noch) nicht ausgeübt wird, hierfür den Bewohnerinnen Hilfestellungen anbietet. Unter Beachtung des oben aufgezeigten Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II ist deshalb für das I. kennzeichnend, dass die Bewohnerinnen und damit auch die Klägerin Erwerbsfähigen im Sinne des § 8 SGB II gleichgestellt sind und damit dem Leistungsbereich des SGB II unterfallen.
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Das Gericht verkennt nicht, dass unter Berücksichtigung des Gesamtplans im Oktober 2004 und der Fortschreibung des Gesamtplans im April 2005 gerade zu Beginn des Aufenthalts der Klägerin ein erhöhter Hilfebedarf bestand. Anlass für die Aufnahme der Klägerin in das I. war jedoch die akute Wohnungslosigkeit. Die Gesamtsituation der Klägerin ist dadurch gekennzeichnet, dass ihr mit dem Aufenthalt im I. eine Wohnmöglichkeit gegeben wird und ausgehend von diesem geschützten Wohnumfeld für die auch zum Teil durch die Wohnungslosigkeit bedingten Problembereiche Lösungsansätze direkt im Haus oder Hilfestellungen für die Inanspruchnahme von Hilfen außerhalb des N. angeboten werden, deren Annahme für die Klägerin freiwillig ist (vgl. zur Bedeutung der Freiwilligkeit: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 31. März 1994 – 12 B 92.3005 – zu Art.7 Abs. 1 Lit. a) des bayerischen Ausführungsgesetzes zum BSHG – zitiert nach JURIS). Keinesfalls aber hat das I. der Klägerin die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Gestaltung der problematischen Lebensbereiche und der sonstigen täglichen Lebensführung abgenommen und übernommen.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Klägerin ein Barbetrag zur persönlichen Verfügung gestellt wird. Denn auch die wöchentliche Kaltverpflegung in Höhe von 25,50 € und - wenn auch auf Ausnahmefälle begrenzt - die Warmverpflegung wird an die Klägerin ausgezahlt bzw. kann auf Wunsch ausgezahlt werden. Auch dadurch wird ersichtlich, dass die Klägerin, wenn auch in einem bescheidenen Rahmen, unabhängig vom I. ihren täglichen Bedarf selbst bestimmen kann. Mit der Aufnahme einer angestrebten Beschäftigung, die einer Aufnahme im I. nicht entgegensteht, wird die Selbstbestimmung weiter gestärkt werden.
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Die teilweise Verwendung des Begriffs „stationäre Einrichtung" durch den Träger des N. ist für das Gericht nicht entscheidungserheblich, zumal nicht ersichtlich ist, dass der Begriff in Kenntnis der hier maßgeblichen Vorschrift verwandt wurde.
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Der Leistungsausschluss des § 5 Abs. 2 SGB II greift ebenfalls nicht ein, weil es sich bei der von der Stadt J. als Sozialhilfeträger erbrachten Leistung nicht um eine solche nach dem dritten, sondern nach dem achten Kapitel des SGB XII handelt. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, dass der Aufenthalt unter Beachtung der Verlängerung des Gesamtplans bis zum 01. Dezember 2005 vorgesehen sei und somit über sechs Monate andauere, kommt es hierauf nicht an, denn der Leistungsausschluss scheitert bereits an dem Tatbestandsmerkmal „stationäre Einrichtung".
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Nach alledem war der Klage stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.
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Das Urteil kann mit der Berufung angefochten werden (§ 144 Abs. 1 SGG); auf die nachfolgende Rechtsmittelbelehrung wird Bezug genommen.
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