Beschluss vom Sozialgericht Osnabrück (16. Kammer) - S 16 AS 711/11 ER

Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

2. Den Antragstellern sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

3. Den Antragstellern wird für das einstweilige Rechtsschutzverfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt E. gewährt.

Gründe

I.

1

Die Antragsteller begehren im vorliegenden Verfahren die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

2

Die Antragstellerin zu 1) ist polnische Staatsangehörige, die am 04.01.2011 geborene Antragstellerin zu 2) die Tochter der Antragsteller zu 1). Vater der Antragstellerin zu 2) ist nach Vortrag der Antragstellerseite Herr F.. Die Antragstellerin hat eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU vom 09.06.2011. Danach meldete sich die Antragstellerin zu 1) am 13.07.2010 an.

3

Nach einer Bescheinigung vom 27.07.2011, übersetzt am 19.08.2011, verbüßt Herr F. seit dem 25.05.2011 eine Freiheitsstrafe in Polen. Der Strafvollzug endet danach am 06.08.2013. Bezüglich der Originalbescheinigung wird auf Bl. 38, bezüglich der Übersetzung auf Bl. 39 der GA verwiesen.

4

Nach Bescheid vom 10.06.2011 der Stadt G. steht die Antragstellerin zu 1) auf ihren Antrag vom 09.06.2011 in Bezug von Elterngeld nach dem BEEG (vgl. dazu auch Bl. 12 der GA). Zudem erhält die Antragstellerin zu 1) nach einem Bescheid der Familienkasse G. vom 15.06.2011 für ihr am 04.01.2011 geborenes Kind Kindergeld in Höhe von monatlich 184,00 Euro (vgl. Bl. 14 der GA).

5

Mit einem Widerspruch vom 10.06.2011 wandte sich die Antragstellerin zu 1) gegen eine mündliche Leistungsversagung vom 30.05.2011. Sie sei gemeinsam mit einer Freundin am 30.05.2011 bei der Antragsgegnerin gewesen und habe für sich und ihre Tochter, die Antragstellerin zu 2), Leistungen beantragt. Dieser Antrag sei zugleich mit dem Bemerken abgelehnt worden, dass ihr und ihrer Tochter keine Sozialleistungen zustehen würden. Deshalb sei ihr trotz ausdrücklicher Nachfrage auch kein Formantrag ausgehändigt worden. Sie halte sich seit dem 13.07.2010 in G. (Deutschland) auf. Der Grund ihrer Einreise sei seinerzeit die Arbeitssuche gewesen. Daneben sei der Zuzug zu ihrem Freund und Vater ihres am 04.01.2011 geborenen Kindes Grund für die Einreise gewesen, der damals ebenfalls noch in G. (Deutschland) wohnte. Sie habe mit dem Kindsvater F. und der gemeinsamen Tochter bis zum 25.05.2011 unter der Anschrift H. in G. gewohnt. Ihr Freund sei selbstständig Tätig gewesen und habe damit den Lebensunterhalt der Familie sichergestellt. Als er sie verlassen habe, habe er noch 200,00 Euro da gelassen. Weitere Geldmittel stünden ihr derzeit nicht zur Verfügung. In diesem Zusammenhang legte die Antragstellerin die eidesstattliche Versicherung vom 07.06.2011 vor (Bl. 4 der VA), die auch im Antragsverfahren überreicht wurde (Bl. 11 der VA).

6

Nach einem Vermerk vom 20.06.2011 (Bl. 23 der VA) schloss die Mitarbeiterin der Antragsgegnerin, Frau I., eine Vorsprache der Antragstellerin nebst mündliche Ablehnung des Antrags nicht aus, konnte sich jedoch an ein mögliches konkretes Gespräch, wegen der Vielzahl der Gespräche, nicht mehr erinnern.

7

Am 06.07.2011 ging bei der Antragsgegnerin ein Formantrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II ein (vgl. Bl. 41 ff. der VA). Mit Schreiben vom 17.06.2011 teilte die Antragstellerin mit, dass sich Herr F. aktuell in Haft befinde. Eine Vaterschaftsurkunde könne nicht vorgelegt werden, da Herr F. die Vaterschaft bis dato noch nicht offiziell anerkannt habe. Außerdem verstoße der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gegen das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 24 Abs. 1 EGRL 38/2004. Nach ständiger Rechtssprechung des EuGH begründe Artikel 18 EG, in dem das Recht verankert sei, sich im Hoheitsgebiet des Mietgliedsstaats frei aufzuhalten, eine durch viele (gemeint ist wohl vier) Merkmale charakterisierte Rechtsstellung. Bezüglich der Merkmale im Einzelnen wird auf Bl. 21 der VA verwiesen. Gemessen an dieser Rechtsstellung verstoße ein Leistungsausschluss für Arbeitssuchende mit unbeschränktem Arbeitsmarktzugang gegen das bereits zitierte Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 24 Abs. 1 EGRL 38/2004.

8

Mit Schreiben vom 26.08.2011 wies die Antragstellerin darauf hin, dass zwischenzeitlich in Polen das Vaterschaftsanerkennungsverfahren anhängig gemacht worden sei. Eine Entscheidung werde jedoch frühestens im September erfolgen. Zudem wurde ein Schreiben des Steuerberaters Herrn Dipl.-Kfm. J. vom 25.11.2010 vorgelegt, in dem dieser Herrn F. bestätigte, dass dieser monatliche Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit in Höhe von 1.739,00 Euro erwirtschaftet habe (vgl. Bl. 103 VA). In einem Schreiben vom 01.09.2011 gab Herr F. nach einer Übersetzung vom 12.09.2011 an, dass er in der Hauptverhandlung beim Gericht in K. zum Aktenzeichen III RC 484/11 die Vaterschaft seiner Tochter anerkennen werde (vgl. zum Schreiben Bl. 110 der VA, zur Übersetzung Bl. 109 der VA).

9

Am 05.10.2011 haben sich die Antragsteller mit dem Ersuchen um einstweiligen Rechtsschutz an das Gericht gewandt. Der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 4 i. V. m. Artikel 70 EGVO 883/04. Diesbezüglich beruft sich die Antragstellerin zu 1) auf einen Beschluss des Hessischen LSG vom 14.07.2011 (L 7 AS 107/11 D ER). Das Gleichbehandlungsgebot aus Artikel 4 der EGVO 883/04 untersage jegliche auf die Staatsangehörigkeit des Mietgliedsstaates der EU gestützte Diskriminierung einer in den Geltungsbereich der Verordnung fallenden Person in Bezug auf die soziale Sicherheit. Dies sei ein Ausfluss des primärrechtlich in Artikel 21 AEUV verankerten Diskriminierungsverbotes unter EU-Bürgern. Sie unterliege den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung nach Artikel 2 Abs. 1 EGVO 883/04. Dies gelte auch unter einer konkret individuellen Anwendung, da sie in Bezug von Leistungen nach dem BEEG stehe.

10

Die Antragsteller beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

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die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

12

Die Antragsgegnerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

13

den Antrag abzuweisen.

14

Damit eine Anerkennung der Vaterschaft im Ausland in Deutschland Rechtswirkung entfalten könne, müsse diese Anerkennung vor einem deutschen Konsularbeamten in Polen erfolgen. Da dies bislang nicht erfolgt sei, sei die Vaterschaft nicht gültig festgestellt. Deshalb sei die Antragstellerin nicht zum Zwecke der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland, weshalb sich der Aufenthalt allein als dem Zweck der Arbeitssuche ableite. Dementsprechend sei der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anwendbar. Dieser sei, wie das LSG Nordrhein-Westfalen am 07.10.2011 entschieden habe (L 19 AS 1560/11 B ER), europarechtskonform.

15

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie die Gerichtsakte verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

16

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

17

Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen hier vor.

18

Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Wenn eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ebenfalls eine einstweilige Anordnung treffen. Hierfür bedarf es der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes durch den Antragsteller (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, § 86b, Rn. 27 ff.). Der Anordnungsgrund betrifft die Frage der Eilbedürftigkeit oder Dringlichkeit. Die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs betrifft demgegenüber die Prüfung der Erfolgsaussichten des geltend gemachten Anspruchs, d.h. der Rechtsanspruch muss mit großer Wahrscheinlichkeit begründet sein und aller Voraussicht auch im Klageverfahren bestätigt werden.

19

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch hier nicht glaubhaft machen können. Der einzige Aufenthaltszweck liegt hier in der Arbeitssuche, diesbezüglich greift der Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall ein. Nach dieser Vorschrift sind von der Leistungsgewährung nach dem SGB II Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, ausgenommen.

20

Im vorliegenden Fall liegt derzeit kein anderweitiger Aufenthaltszweck möglich (dazu unter 1), bei europarechtskonformer Auslegung des Leistungsausschlusses liegt hier im vorliegenden Fall kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II vor (dazu unter 2).

21

1. Im Zeitpunkt des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegt kein Aufenthalt zur Familienzusammenführung vor.

22

Zwar ist es durchaus möglich, dass der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dann nicht greift, wenn neben der Arbeitsplatzsuche ein weiterer Aufenthaltsgrund besteht (vgl. dazu: Loose in: GK-SGB II, § 7, Rn. 32.11; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.01.2008, L 8 SO 88/07 ER). Hier liegt aber spätestens nach der Inhaftierung gerade kein Aufenthalt zur Familienzusammenführung mehr vor. 

23

Dabei kann die Kammer hier letztlich dahinstehen lassen, ob Herr F. Vater des Kindes der Antragstellerin ist. Zwar dürften hier überwiegende Gründe dafür sprechen, dass in jetzigen Zeitpunkt, vor einer Anerkennung der Vaterschaft in den zitierten Verfahren in Polen (beim Gericht in Zielona Góra zum Aktenzeichen III RC 484/11), zumindest noch keine hinreichende Anerkennung dieser Vaterschaft vorliegt, dies ist jedoch deshalb nicht relevant, da zumindest derzeit keine Familienzusammenführung mehr möglich ist.

24

Zwar lag eine solche Familienzusammenführung, soweit Herr F. tatsächlich Vater der Antragstellerin zu 2) ist, wenn nicht bei der Einreise am 13.07.2010, dann wohl zumindest ab der Geburt der Antragstellerin zu 2) am 04.01.2011 vor, dieser Grund ist jedoch durch die Inhaftierung des Herrn F. weggefallen. Bei der Geburt der Antragstellerin zu 2) war ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Antragstellerin wohl grundsätzlich möglich. Dabei dürfte die Antragstellerin zu 2), soweit sie tatsächlich das Kind des Herrn F. ist, Familienangehörige im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU eines selbstständigen EU-Bürgers nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU gewesen sein, weshalb diese das Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU hatte. Dabei musste die Antragstellerin zu 2) bei ihrer Geburt wohl auch nicht die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU (ausreichende Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel) erfüllen.

25

Die Antragstellerin zu 1) wäre dann wiederum, wird von einer Vaterschaft ausgegangen, Familienangehörige in aufsteigender Linie der Antragstellerin zu 2) nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Diesbezüglich müssten dann zwar grundsätzlich wohl die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU vorliegen, § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, da die Antragstellerin zu 2) nicht erwerbstätig ist, § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU. Von dieser Voraussetzung wäre möglicherweise abzusehen, da sonst der Bezug von Leistungen zur Voraussetzung hätte, dass die Antragstellerin nicht hilfsbedürftig ist (anders allerdings: Loose in: KG-SGB II, § 7 Rn. 32.11; vergleiche zu alledem auch die Entscheidung der Kammer: SG Osnabrück, Beschluss vom 08.09.2009, S 16 AS 590/09 ER).

26

Durch die Inhaftierung des Herrn F. ist jedoch diese grundsätzlich aufgezeigte Möglichkeit entfallen.

27

2. Danach sind die Antragsteller nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgeschlossen. Der Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt – zumindest bezogen auf den vorliegenden Fall – nicht gegen höherrangiges Europarecht.

28

Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 04.06.2009 zwar darauf abgestellt, dass es sich bei den Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende wohl nicht um Sozialhilfeleistungen nach Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 handelt, diese Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot also möglicherweise nicht anzuwenden sei. Allerdings sei es legitim, wenn der Mitgliedsstaat diese Leistung davon abhängig macht, dass eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt des Mitgliedsstaates besteht (EuGH, Urteil vom 04.06.2009, C-22/08, C-23/08, Rn. 38). Danach ist es nicht europarechtswidrig, wenn Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erst gewährt werden, wenn eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht (dazu unter a); eine solche tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht hier nicht (dazu unter b).

29

a) Bei europarechtskonformer Auslegung verstößt der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II weder gegen europäisches Primärrecht (dazu unter aa) noch gegen europäisches Sekundärrecht (dazu unter bb).

30

aa) Zunächst liegt kein Verstoß gegen europäisches Primärrecht, insbesondere Art 18 AEUV  und Art 21 AEUV, vor.

31

Der EuGH hat die Teilhaberechte aus der Unionsbürgerschaft unter den Vorbehalt expliziter einschränkender Regelungen gestellt (vgl. EuGH, Urteil vom 20.09.2001 - C-184/99 - Slg 2001, I-6193 - Grzelczyk; EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703 - Collins; EuGH, Urteil vom15.05.2995 - C 209/03 - Bidar). Eine solche liegt in Art. 24 Abs. 2 EGRL 38/04 (in diese Richtung: Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 23 Rn. 13; weitergehend noch: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.06.2007 - L 20 B 59/07 AS ER - juris Rn. 21, welches sich auf den „politischen Willen des europäischen Gesetzgebers“ bezieht; vgl. zu dem Folgenden auch Greiser in: jurisPK-SGB XII, Vorbemerkung SGB XII – Die Sozialhilfe als Gegenstand des Europäischen Rechts). Danach können andere Personen als Arbeitnehmer und solche, denen der Status erhalten bleibt, von der Sozialhilfe ausgenommen werden. Dieser Ausschluss verstößt nicht gegen europäisches Primärrecht (dazu unter 1); außerdem liegen durchaus Gründe vor, dass dieser im vorliegenden Fall Anwendung findet (dazu unter 2). Auch soweit dies nicht der Fall wäre, läge kein Verstoß gegen Art 18 AEUV vor (dazu unter 3).

32

(1) Soweit unter Berufung auf Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 für die Leistungsgewährung ein tatsächlicher Bezug zum Arbeitsmarkt gefordert wird, verstößt dieser Ausschluss nicht gegen europäisches Primärrecht.

33

(a) Teilweise wird der Ausschluss der Leistungen nach Art. 24 Abs. 2 EGRL 38/04 als nicht vereinbar mit dem europäischen Primärrecht angesehen (so beispielsweise: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.05.2008 - L 14 B 282/08 AS ER (aber europarechtskonforme Auslegung); Husmann, NZS 2009, 652, 654; einschränkend ebenfalls: Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 23 Rn. 13; Herbst in: Mergler/Zink, SGB XII, § 23 Rn. 47b, 32a; andere Ansicht: LSG Hessen, Beschluss vom 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 23 Rn. 32; offen gelassen: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B - juris Rn. 20 - NZS 2009, 512-516; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.01.2009 - L 25 B 1969/08 AS ER). Der Ausschluss verstoße gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV. Dabei wird in der Rechtsprechung vor allem auf die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Grzelczyk (EuGH, Urteil vom 20.09.2001 - C-184/99 - Slg 2001, I-6193) und Trojani (EuGH, Urteil vom 07.09.2004 - C-456/02 - Slg. 2004, I-7573) Bezug genommen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.05.2008 - L 14 B 282/08 AS ER - juris Rn. 6; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B - juris Rn. 20 - NZS 2009, 512-516; ähnlich: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.11.2006 - L 20 B 248/06 AS ER - EuG 2007, 332-344; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.05.2008 - L 14 B 282/08 AS ER; aber auch: Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 23 Rn. 13).

34

In der Sache Grzelczyk hatte der EuGH im Jahr 2001 entschieden, dass der Aufnahmemitgliedstaat von einem Studenten zwar verlangen könne, dass dieser bei Einreise über ausreichende Existenzmittel verfüge. Wenn diese Voraussetzungen wegfielen, dann könne der Mitgliedstaat auch Maßnahmen ergreifen, den Aufenthalt zu beenden. Solche Maßnahmen dürften allerdings nicht die automatische Folge des Bezugs von Sozialhilfe sein. Dafür zog der EuGH einen Erwäggrund aus der EWGRL 93/96 heran. Diese Richtlinie regelte vor der Freizügigkeitsrichtlinie (EGRL 38/04) den Aufenthalt von Studenten innerhalb der Mitgliedstaaten. In diesem Erwäggrund heißt es, dass die „Aufenthaltsberechtigten […] die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht über Gebühr belasten“ dürfen. Daraus schloss der EuGH, dass die Richtlinie eine „bestimmte finanzielle Solidarität der Angehörigen dieses Staates mit denen der anderen Mitgliedstaaten“ anerkenne (EuGH, Urteil vom 20.09.2001 - C-184/99 - Slg 2001, I-6193). Dies wurde in der Literatur teilweise stark kritisiert (vor allem: Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff.; aber auch: Strick, NJW 2005, 2182 ff.).

35

Der EuGH bekräftigte aber diese Linie im Jahr 2004 in der oben bereits zitierten Entscheidung Trojani und führte erneut aus, dass „die Mitgliedstaaten den Aufenthalt eines nicht wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers zwar von der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel abhängig machen dürfen, sich daraus aber nicht ergibt, dass einer solchen Person während ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat nicht das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung, wie es in Artikel 12 EG niedergelegt ist, zugutekommt“ (EuGH, Urteil vom 07.09.2004 - C-456/02 - Slg. 2004, I-7573 - Trojani). Ein solcher nicht wirtschaftlich aktiver Unionsbürger könne sich auch in Bezug auf Sozialhilfe auf Art. 12 EG berufen, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Dauer rechtmäßig aufgehalten habe oder eine Aufenthaltserlaubnis besitze. Zudem konkretisierte der EuGH, dass für die Beendigung des Aufenthalts eine förmliche Ausweisungsverfügung notwendig sei (EuGH, Urteil vom 07.09.2004 - C-456/02 - Slg. 2004, I-7573 - Trojani).

36

In der Literatur wird zur Begründung der Primärrechtswidrigkeit des Ausschlusses nach Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 zudem darauf abgestellt, dass sich eine solche Einschränkung nicht auf die Schrankenvorbehalte des Rechts aus Art. 18 Abs. 1 AEUV stützen könne Eine Einschränkung müsse sich auf eine primärrechtliche Regelung gründen. Hierzu könne nicht die Regelung der Unionsbürgerschaft in Art. 21 Abs. 1 AEUV abgestellt werden. Zwar sei hier ein Schrankenvorbehalt geregelt, dieser beziehe sich jedoch nur auf das Aufenthaltsrecht (Husmann, NZS 2009, 652, 654; andere Ansicht: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.06.2007 - L 20 B 59/07 AS ER - juris Rn. 21; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.08.2007 - L 9 AS 447/07 ER - juris Rn. 23 - ZFSH/SGB 2008, 299-303; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 23 Rn. 32).

37

(b) Dieser Ansicht folgt die Kammer nicht.

38

Eine Einschränkung des Rechts aus Art 18 AEUV ist vielmehr unter bestimmten Voraussetzungen möglich (LSG Hessen, Beschluss vom 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER - juris Rn. 50; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.08.2007 - L 9 AS 447/07 ER - juris Rn. 21 - ZFSH/SGB 2008, 299-303; Hackethal in: jurisPK-SGB II, § 7, Rn. 38; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 23 Rn 32; im Ergebnis ebenso: Decker in: Österreicher, SGB XII, § 23 Rn. 70i ff.).

39

Das LSG Hessen hat zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung darauf abgestellt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Feststellung der diskriminierenden Wirkung einer Vorschrift für die Annahme eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV nicht ausreiche; erforderlich sei stets, dass diese Diskriminierung nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt sei (LSG Hessen, Beschluss vom 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER - juris Rn. 50; ähnlich: Fasselt in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 23 Rn. 32). Ein derartiger objektiver Grund ergebe sich aus der Verhinderung eines sog. Sozialtourismus (LSG Hessen, Beschluss vom 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER - juris Rn. 50; andere Ansicht: Schreiber, info also 2008, 3, 7; zweifelnd ebenfalls: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.05.2008 - L 14 B 282/08 AS ER).

40

Ähnlich hat der 9. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen die Ungleichbehandlung gerechtfertigt. Weder Art. 18 Abs. 1 AEUV noch Art. 21 Abs. 1 AEUV seien unbegrenzt gewährleistet. Der EuGH habe die „Leistungsfähigkeit der Systeme der sozialen Sicherung“ auch bereits als legitimes Ziel des Mitgliedstaats anerkannt (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.08.2007 - L 9 AS 447/07 ER - juris Rn. 21 - ZFSH/SGB 2008, 299-303). Dem schließt sich die Kammer insofern an, als eine Beschränkung des Rechts auf soziale Teilhabe aus wirtschaftlichen Gründen dann möglich ist, wenn noch kein Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt besteht.

41

Gegen die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zur Verhinderung von „Sozialtourismus“ wird in der Literatur wiederum vorgebracht, der EuGH habe in einem anderen Zusammenhang die Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung aus fiskalischen Gründen nicht anerkannt (Schreiber, info also 2008, 3, 6 f. unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 16.01.2003 - C-388/01 - Slg. 2003, I-721 - Kommission/Italien). In der Entscheidung, auf die sich diese Ansicht stützt, hat der EuGH eine Einschränkung des Diskriminierungsverbots nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gelten lassen (EuGH, Urteil vom 16.01.2003 - C-388/01 - Slg. 2003, I-721 - Kommission/Italien). Wirtschaftliche Ziele könnten dabei keine Gründe der öffentlichen Ordnung darstellen (EuGH, Urteil vom 16.01.2003 - C-388/01 - Slg. 2003, I-721 - Kommission/Italien - unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 14.11.1995 - C 484/93 - Slg. 1995, I-3955). Solche rein wirtschaftlichen Ziele könnten danach keine zwingenden Gründe des Allgemeininteresses darstellen, die hinreichen würden, eine Beschränkung einer vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit zu rechtfertigen (EuGH, Urteil vom 16.01.2003 - C-388/01 - Slg. 2003, I-721 - Kommission/Italien - unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 06.06.2000 - C 35-98 - Slg. 2000, I-4071 - Verkooijen). Der EuGH grenzt hier die Rechtfertigungsmöglichkeiten einer Diskriminierung zwar stark ein. In der zitierten Entscheidung standen jedoch Bestimmungen zur Prüfung, die das Aufenthaltsrecht beschränkten. Auch in den seitens des EuGH zitierten Fällen (EuGH, Urteil vom 14.11.1995 - C 484/93 - Slg. 1995, I-3955 und EuGH, Urteil vom 06.06.2000 - C 35-98 - Slg. 2000, I-4071 - Verkooijen) war jeweils eine der vier Grundfreiheiten betroffen. Im Rahmen der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung bezogen auf Leistungen der sozialen Teilhabe stellt der EuGH keine derart hohen Anforderungen.

42

So hat der EuGH beispielsweise in der Rechtssache Collins ausgeführt, dass in Bezug auf Leistungen der sozialen Teilhabe eine Diskriminierung gerechtfertigt sei, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhe und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt werde (EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703 - Collins - unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 24.11.1998 – C 274/96 - Slg 1998, I-7637-7660). Es findet sich hier also gerade keine Begrenzung auf bestimmte Rechtfertigungsgründe. Zudem hat der EuGH in diesem Zusammenhang auch wirtschaftliche Gründe als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung grundsätzlich anerkannt. In der Rechtssache Bidar hat er ausgeführt, es stehe jedem Mitgliedstaat frei, darauf zu achten, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung werde. Danach ist für die Anforderungen an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung entscheidend, in wie weit eine der vier Grundfreiheiten betroffen ist (EuGH, Urteil vom 15.03.2005 - C-209/03 - Slg. 2005, I-2119 - Bidar).

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Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Entscheidung des EuGH vom 04.06.2009 verstehen, die den Ausschluss in Art. 24 Abs. 2 EGRL 38/04 nicht für nichtig erklärt hat, aber eine Auslegung im Lichte des Art. 45 Abs. 2 AEUV als notwendig angesehen hat. Unter Berücksichtigung des Art. 45 Abs. 2 AEUV darf danach ein Anspruch auf eine Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, nicht versagt werden, wenn eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht (EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - info also 2009, 217-220  Vatsouras). Dies hatte der EuGH bereits im Jahr 2004 in der bereits zitierten Rechtssache Collins entschieden.

44

In dieser Entscheidung hatte der EuGH den Begriff des Arbeitnehmers entscheidend erweitert (EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703). Zunächst hatte der EuGH vertreten, dass einem erstmals zur Arbeitssuche eingereisten EU-Bürger zwar das Diskriminierungsverbot aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt zustehe, nicht jedoch der Anspruch auf soziale Teilhabe, da keine Arbeitnehmereigenschaft vorliege (EuGH, Urteil vom 18.06.1987 - C-316/85 - Slg 1987, 2811 und EuGH, Urteil vom 12.09.1996 - C-278/94 - Slg. 1996, I-4307). Der EuGH hatte hier ausgeführt, dass Personen, die zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen, zwar die Gleichbehandlung gemäß des damaligen Art. 48 EWG-Vertrag, sowie der Art. 2 und 5 der EWGV 1612/68 in Bezug auf den Zugang zu Beschäftigung genießen würden. Die in dieser Verordnung ebenfalls verankerte Gleichbehandlung hinsichtlich der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen (Art. 7 Abs. 2 EWGV 1612/68) komme dagegen „nur Arbeitnehmern zugute, nicht dagegen Staatsangehörigen der Mietgliedstaaten, die zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen“ (EuGH, Urteil vom 18.06.1987 - C-316/85 - Slg. 1987, 2811). In der zweiten Entscheidung führte der EuGH aus, dass für den Bezug der sozialen Vergünstigung notwendig sei, dass der EU-Bürger „schon durch die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit, die ihm die Eigenschaft als Arbeitnehmer nach Gemeinschaftsrecht verschafft hat, Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat“ (EuGH, Urteil vom 12.09.1996 - C-278/94 - Slg. 1996, I-4307). Daran hat der EuGH in der Rechtssache Collins zwar im Grunde festgehalten, aber den leistungsrechtlichen Charakter des Diskriminierungsverbots – mittlerweile Art. 45 Abs. 2 AEUV – ausgebaut. Hierbei berief sich der EuGH auf die Unionsbürgerschaft. Es sei danach nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots eine Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtere. Allerdings könne der Mitgliedstaat die Gewährung dieser Leistung (weiterhin) von dem Bestehen einer tatsächlichen Verbindung zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats abhängig machen. Eine solche Verbindung könne aber auch durch eine tatsächliche Arbeitssuche während eines angemessenen Zeitraums erfolgen (EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703).

45

Der EuGH hat in der zitierten Entscheidung nach alledem keinen Anhaltspunkt für einen Verstoß des Ausschlusses nach Art. 24 Abs. 2 EGRL 38/04 gegen das Primärrecht gesehen (EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08 - info also 2009, 217-220 – Vatsouras).

46

(2) Es gibt gute Gründe dafür, dass der Ausschluss auch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, zumindest in Fällen wie dem vorliegenden, Anwendung findet.

47

Gegen die Anwendung des Ausschlusses wird angeführt, dass es sich um eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung handele (LSG Bayern, Beschluss vom 04.05.2009 - L 16 AS 130/09 B ER - juris Rn. 26; dagegen: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 - L 15 AS 30/10 B ER - juris Rn. 17 ff.). Da eine solche besondere beitragsunabhängige Geldleistung keine Sozialhilfe (jetzt soziale Fürsorge) im Sinne der EGV 883/04 (vormals EWGV 1408/71) sei, könne dies dann auch nicht für die EGRL 38/08 gelten. Dies zumindest sieht die Kammer nicht als zwingend an. Der Begriff der beitragsunabhängigen Geldleistung ist ein besonderer Begriff der EGV 883/04, den der EuGH bezogen auf die Koordination herausgebildet hat:

48

Am Anfang dieser Entwicklung stand eine Erweiterung des Begriffs der Leistungen der sozialen Sicherheit in Art. 4 EWGV 1408/71: Bereits in den 70er Jahren – kurz nach Inkrafttreten der Koordinationsverordnung EWGV 1408/71 – subsumierte der EuGH eine Mindestalterssicherung nach belgischem Recht unter den Geltungsbereich der Verordnung, obwohl diese Leistung nicht beitragspflichtig war (EuGH, Urteil vom 22.06.1972 - C-1/72 - Slg. 1972, 457 – Frilli). Ebenso entschied der EuGH im Jahr 1974 bezüglich einer französischen Alterssicherung (EuGH, Urteil vom 09.10.1974 - C-24/74 - Slg. 1974, 999 – Biason). Der EuGH weichte hiermit also das an sich klassische Element der Sozialversicherung – die Finanzierung aus Beiträgen – auf. In der folgenden Rechtsprechung erweiterte der EuGH diese Rechtsprechung beispielsweise auf Beihilfen für behinderte Menschen (zum belgischen Recht: EuGH v 13.11.1974 - C-39/74 - Slg. 1974, 1251 - Costa; zum französischem Recht: EuGH, Urteil vom 16.12.1976 - C-63/76 - Slg. 1976, 2057 - Inzirillo - und zum britischem Recht: EuGH, Urteil vom 20.06.1991 - C-356/89 - Slg. 1991, I-3035 - Newton) oder den britischen „family credit“ (EuGH, Urteil vom 16.07.1992 - C-78/91 - Slg. 1992, I-4859 – Hughes).

49

Im Jahr 1992 vollzog der Gesetzgeber diese Entwicklung nach und schuf erstmals gesetzlich eine dritte Kategorie zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit und der Sozialhilfe. In die Verordnung wurde Art. 4 Abs. 2a EWGV eingeführt (eingeführt durch Verordnung Nr. 1247/92 des Rates vom 30.04.1992, ABl. Nr. L 136 vom 19.05.1992; siehe zur weiteren Entwicklung: Greiser in: jurisPK-SGB XII, Vorbemerkung, Rn. 5).

50

Es lässt sich vertreten, dass Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift auch für Leistungen, die den Lebensunterhalt von Arbeitssuchenden sichern sollen, gelten soll (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 - L 15 AS 30/10 B ER - juris Rn. 17 ff.): Die Differenzierungserlaubnis in Art. 24 EGRL steht in einem aufenthaltsrechtlichen Kontext, während die EGVO 883/04 das „Herzstück des Koordinierungssozialrechts“ bildet (Heinig, ZESAR 2008, 465, 471). Dies spricht dafür, den Begriff der Sozialhilfe jeweils eigenständig zu verstehen, so wie etwa auch der Begriff des Arbeitnehmers im Europarecht jeweils kontextspezifisch definiert wird. Die Zielsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie gebietet dann, von der Norm alle existenzsichernden Hilfen erfasst zu sehen, die jedenfalls auch sozialhilfeartigen Charakter haben (Heinig, ZESAR 2008, 465, 471; Strick in: NJW 2005, 2182, 2184).

51

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Antragstellerin zu 1) ein unter drei jähriges Kind betreut, so dass für sie die Vermutung der Unzumutbarkeit der Aufnahme einer Tätigkeit aus § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 SGB II eingreift. Zumindest in diesem Fall gleicht die Gewährung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende mehr einer Grundversorgung, als einer Leistung zur Eingliederung in Arbeit.

52

(3) Selbst wenn Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 hier nicht eingreift, liegt für den vorliegenden Fall, in dem noch keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht, kein Verstoß gegen Art 18 AEUV vor.

53

Für eine Vereinbarkeit des Ausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Primärrecht, soweit er europarechtskonform ausgelegt wird, ist nämlich anzuführen, dass der EuGH eine Beschränkung der sozialen Teilhabe auch nach Einführung der Unionsbürgerschaft bereits gebilligt hat. In der – bereits zitierten – Rechtssache Collins beispielsweise hat der EuGH ausgeführt, dass es ein legitimes Anliegen des nationalen Gesetzgebers darstelle, eine tatsächliche Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt zu fordern (EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703 - Collins - unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-224/98 - Slg. 2004, I-02703 - D'Hoop). Einschränkend führte der EuGH aus, das dort zu prüfende Wohnorterfordernis sei zwar grundsätzlich geeignet, eine solche Verbindung sicherzustellen, es sei jedoch nur dann verhältnismäßig, wenn es nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehe (EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C-138/02 - Slg. 2004, I-2703 - Collins). Dementsprechend hat der EuGH die Beschränkung nicht grundsätzlich als unvereinbar mit dem Primärrecht angesehen. Eine Beschränkung ist also gerade nicht unvereinbar mit dem Schrankenvorbehalt des Rechts aus Art. 18 Abs. 1 AEUV (so aber: Husmann, NZS 2009, 652, 654; wie hier: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.08.2007 - L 9 AS 447/07 ER - juris Rn. 23 - ZFSH/SGB 2008, 299-303), sondern wurde nur durch die „Schranken-Schranke“ der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Zudem hat der EuGH in dem Fall Bidar (EuGH, Urteil vom 15.03.2005 - C-209/03 - Slg. 2005, I-2119) auch eine Begrenzung der sozialen Teilhabe aus wirtschaftlichen Interessen der Teilhabestaaten anerkannt.

54

Diese Rechtsprechung in der Sache Collins hat der EuGH in seiner Entscheidung zum Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, also der Sache Vatsouras vom 04.06.2009 (C-22/08; C 23-08), ausdrücklich fortgeführt. Zwar hat der EuGH hier festgestellt, dass ein Ausschluss von Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Allerdings hat er die Möglichkeit, die Gewährung von einem tatsächlichen Zugang zum Arbeitsmarkt abhängig zu machen, weiter aufrecht erhalten.

55

bb) Die Kammer sieht auch einen Verstoß gegen europäisches Sekundärrecht – hier insbesondere Art 4 EGVO 883/04 – als nicht gegeben an.

56

Unter Berufung auf dieses Gleichbehandlungsgebot wird in der neueren Rechtsprechung der Ausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für mit europäischen Recht unvereinbar angesehen (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 14.07.2011, L 7 AS 1071/11 B ER; ähnlich: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2011, L 15 AS 1881/ 11 B ER). Nach Art 4 EGVO 883/04 haben Personen im Anwendungsbereich der Verordnung die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit die Verordnung selbst nichts anderes bestimmt. Eine solche abweichende Bestimmung stellt hier möglicherweise Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 dar, zumindest ergibt sich eine Möglichkeit der Abweichung aus den oben dargestellten Grundsätzen.

57

(1) Dabei sei zunächst dargestellt, dass das Diskriminierungsverbot aus Art 4 EGVO 883/04 nicht unbeschränkt gilt:

58

Der EuGH führte zu der Problematik der sozialen Sicherung von Arbeitslosen (zur EWGVO 1408/71) aus, dass es der Grundsatz der Gleichbehandlung im Geltungsbereich der Verordnung eine Ungleichbehandlung nicht ausschließe, wenn sie sich aus der Anwendung des Art 61 EGVO 883/04 (damals Art 67 EWGVO 1408/71) ergebe. Im konkreten Fall führte der EuGH aus, dass es möglich sei, dass der zuständige Träger bei der Berechnung der zurückgelegten Versicherungszeiten die Zeit eines in einem anderen Mitgliedstaat abgeleisteten Pflichtwehrdienstes unberücksichtigt lasse, obwohl die Berücksichtigung in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, vorgesehen ist, wenn sich diese Lösung aus der Anwendung des Art 61 EGVO 883/04 (damals Art 67 EWGVO 1408/71) ergebe. Art 61 EGVO 883/04 sei eine besonderen Bestimmung, die den Anspruch eines Arbeitnehmers auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit regele (EuGH 11.11.2004 - C-372/02 (Adanez-Vega) - Slg, I-10761). Dementsprechend verstoßen Ungleichbehandlungen von EU-Bürgern gegenüber den Staatsangehörigen des Mitgliedsstaats nicht gegen das in Art 4 EGVO 883/04 konstatierte Diskriminierungsverbot, wenn sie sich aus der Anwendung des Art 61 EGVO 883/04 ergeben (Kretschmer in Niesel, 5. Aufl. 2010, Anh A Art 67 EWGVO Rn. 1; Eichendorfer in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 5. Aufl. 2010, Art 61 EGV O883/04 Rn. 9; mit anderem Ergebnis noch die Vorauflage: Eichendorfer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art 67 EWGVO 1408/71, Rn 11; siehe zu alledem auch: Greiser in: Eicher/Schlegel, Art 61 EGVO 883/04, Rn. 11 f.).

59

Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit sind – im Gegensatz zu anderen Bereichen des europäischen Sozialrechts – lückenhaft geregelt (siehe dazu umfassen: Greiser/Kador in: ZFSH/SGB 2011, 507 ff.). Ein umfassender Schutz des Wanderarbeitnehmers gegen Arbeitslosigkeit ist nicht vorgesehen. Eine weitergehende Absicherung wurde zwar bereits häufig gefordert (siehe beispielsweise: Eichenhofer, in: ZIAS 1991, S. 162 ff., S. 184 ff.; Gagel in: Festschrift zum 40jährigen Bestehen der Landessozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, S. 383 ff.), mutige Reformanstrengungen (beispielsweise: KOM (1998) 779 endg., ABl. C 38 vom 12.2.1999) hatten aber jeweils keinen Erfolg. Auch durch die EGVO 883/04 ist die Lückenhaftigkeit des Schutzes nicht abgeschafft (Karl, in: Das neue Sozialrecht der EU, S. 39, 52 f.; siehe auch: Greiser/Kador in: ZFSH/SGB 2011, 507, 507).

60

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass es sich bei der Rechtsprechung zu Art 67 EWGV 1408/71 überwiegend um Rechtsprechung zu beitragsfinanzierte Leistungen bei Arbeitslosigkeit (i.S.d. Art 4 Abs. 1 Buchst g EWGVO 1408/71, jetzt: Art 3 Abs. 1 Buchst h EGVO 883/04) handelt. Dennoch ist die Wertung, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht unbeschränkt gilt, zu übertragen.

61

(2) Hinzu kommt Folgendes: Durch die Einführung der EGV 883/04 ergab sich bezüglich der Einordnung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende keine Veränderung.

62

Die EGVO 883/04 (vom 29.04.2004, ABl EG Nr L 166 vom 30.04.2004, S 1 ff) trat zum 01.05.2010 in Kraft. Zwar trat diese Verordnung an sich nach Art 91 UAbs. 1 der VO am 20. Tag nach der Verkündigung in Kraft, allerdings war in Art 91 UAbs. 2 des Weiteren geregelt, dass es zum Inkrafttreten des Erlasses einer Durchführungsverordnung bedarf. Diese EGVO 987/09 (vom 16.09.2009, ABl. L 284 vom 30.10.2009, S 1 ff) trat dann zum 01.05.2010 in Kraft. Die Aufnahme der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgte aber bereits in den Anhang IIa der EWGV 1408/71 und zwar zum 28.04.2006 (durch EGV 629/06; nunmehr Anhang X der EGVO 883/04, eingeführt durch EGVO 988/09). Zwar folgt aus einer solchen Eintragung nach der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr zwingend, dass es sich um eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung handelt (EuGH, Urteil vom 08.03.2001 - C-215/99 (Jauch) - Slg. 2001, I-1901; anders noch: EuGH, Urteil vom 04.11.1997 - C-20/96 (Snares) - Slg. 1997, I-6082, 6095), allerdings liegt auch materiell-rechtlich betrachtet eine beitragsunabhängig Geldleistung vor (vgl. dazu: BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R; siehe auch: Greiser in: Eicher/Schlegel, Art 61 EGVO 883/04, Rn. 28 ff.).

63

Daraus folgt aber, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des EuGH in der Sache Vatsouras vom 04.06.2009 (C-22/08; C 23-08) die Grundsicherung für Arbeitssuchende bereits als beitragsunabhängige Geldleistung im Anhang IIa der EWGV 1408/71 eingetragen war, der EuGH einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art 3 EWGV 1408/71 aber gerade nicht gesehen hat. Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass hierzu keine der vorgelegten Fragen gestellt war, allerdings hat der EuGH auch zur Arbeitsnehmerfreizügigkeit über die konkreten Fragen hinaus Stellung beziehen (siehe die Vorbemerkung in der zitierten Entscheidung).

64

(3) Aus den oben dargestellten Grundsätzen ergibt sich, dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art 4 EGV 883/04 nicht vorliegt.

65

Soweit Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 eingreift, so stellt diese eine anderweitige Bestimmung im Sinne des Art 4 EGV 883/04 dar, auch wenn es sich nicht um die gleiche Verordnung handelt. Es handelt sich in beiden Fällen um europäisches Sekundärrecht, so dass Art 4 EGV 883/04 nicht höherrangig ist. Art 24 Abs. 2 EGV 883/04 geht aber, soweit er Anwendung findet, als speziellere Regelung vor (lex specialis derogat legi generali).

66

Soweit Art 24 Abs. 2 EGRL 38/04 nicht eingreift ergibt sich eine Rechtfertigung aus den oben dargestellten Grundsätzen: Wie oben dargestellt sieht der EuGH die Möglichkeit, Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt regeln sollen, von einem tatsächlichen Zugang zum Arbeitsmark abhängig zu machen. Wenn also in einer solchen Regelung kein Verstoß gegen die primärrechtlichen Regelung des Art 18 AEUV und Art 45 AEUV gesehen wird, so liegt bei einer derartigen Auslegung nach Ansicht der Kammer auch kein Verstoß gegen das sekundärrechtlich geregelte Diskriminierungsverbot des Art 4 EGV 883/04 vor.

67

b) Eine solche tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht bei der Antragstellerin zu 1) nicht.

68

Eine solche Verbindung kann sich zwar u.a. daraus ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat (vgl. EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - C-22/08, C-23/08, Rd. 39 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - C 138/02, Rd. 70). Zu einer solchen Beschäftigungssuche wurde hier weder vorgetragen, noch ist diesbezüglich etwas ersichtlich, gerade vor dem Hintergrund, dass hier die Vermutung des § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 SGB II eingreift.

69

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III.

70

Prozesskostenhilfe war, trotz der Zurückweisung in der Sache, zu gewähren, da zumindest eine hinreichend Aussicht auf Erfolg bestand, § 73a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO.

 


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