Urteil vom Sozialgericht Speyer (7. Kammer) - S 7 RI 811/04


Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Hinterbliebenenrente unter Zugrundelegung von zurückgelegten fiktiven Beitragszeiten des verstorbenen Ehemanns der Klägerin in der Zeit von November 1942 bis September 1943.

2

Die Klägerin ist die Ehefrau des am ....1927 in Sieradz/Polen geborenen und am 13.8.2003 verstorbenen M . Herr M war als Jude Verfolgter des nationalsozialistischen Regimes. Bis Ausbruch des Krieges besuchte er die Volksschule von Kalisz/Polen. Kurze Zeit nach der Besetzung dieses Ortes, wurde er nach Rzeszow (Reichshof) / Polen verbracht, später nach Lancut/Polen. Danach verbrachte er einige Monate bei einem Bauern und floh infolge einer Anzeige in das Ghetto Sieniawa/Polen, wo er in der Zeit von August 1942 bis November 1942 lebte. Nach der Liquidierung des Ghettos im November 1942 kehrte er nach Rzeszow (Reichshof) zurück. Dort blieb er bis September 1943. Er wurde dann nach Ausschwitz-Birkenau transportiert, von wo er bei einem Transport flüchten konnte.

3

Im Entschädigungsverfahren erklärte Herr M im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung (Blatt 15 der Verwaltungsakte der Beklagten), er sei „nach Rzeszow zurückgekehrt, wo es ein Arbeitslager gab. Hier musste ich mich an einen Juden wenden, der dort Werkstattleiter war und mich dort aufnahm. [...] Es wurden in diesen Werkstätten Schneider-, Schlosser- und Schusterarbeiten verrichtet und ich wurde der Schlosserabteilung zugeteilt.“

4

Am 24.6.2003 beantragte Herr M bei der Beklagten Altersrente wegen der Beschäftigung in einem Ghetto. Am 16.9.2003 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente nach ihrem Ehemann und stützte sich dabei ebenfalls auf zurückgelegte fiktive Beitragszeiten für die Beschäftigung in einem Ghetto. Im am 29.8.2003 ausgefüllten Formular der Beklagten gab sie an, als Bezahlung für seine Arbeit im Ghetto habe er drei Mahlzeiten täglich und manchmal Zigaretten erhalten. Seine Arbeit habe er „durch die Familie“ erlangt.

5

Mit Bescheid vom 21.4.2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin nach Auswertung der Entschädigungsakte ab. Zur Begründung führte sie an, es sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Ehemann der Klägerin seine Arbeit freiwillig aufgenommen habe, weil er in Rzeszwo in einem „Rest-Ghetto“ gewesen sei. Dort habe es keinen freien Arbeitsmarkt gegeben.

6

Hiergegen legte die Klägerin am 19.5.2004 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 8.9.2004 aus den Gründen des Ausgangsbescheids zurückgewiesen wurde.

7

Dagegen hat die Klägerin am 12.10.2004 Klage vor dem Sozialgericht Speyer erhoben.

8

Die Klägerin behauptet, ihr Ehemann habe im Ghetto Rzeszow eine Tätigkeit als Schäftemacher ausgeübt. Diese Beschäftigung habe er aufgrund eigener Bemühungen durch den Judenrat gefunden. Die dort erhaltenen Lebensmittel und Zigaretten habe er als Tauschmittel einsetzen können. Sie seien als Entlohnung anzusehen, weil sie über den täglichen Ernährungsbedarf des Ehemanns der Klägerin hinausgegangen seien.

9

Die Klägerin beantragt schriftlich,

10

den Bescheid der Beklagten vom 21.4.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.9.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage abzuweisen.

13

Die Beklagte meint, die Bezahlung in Form von Lebensmitteln, in der von der Beklagten geschilderten Menge, entspreche nicht einer Mindesthöhe, die noch als Entgelt angesehen werden könne. Da im "Rest-Ghetto" von Rzeszow kein freier Arbeitsmarkt existiert habe, könne der Kläger die dortige Tätigkeit nicht freiwillig aufgenommen haben.

14

Das Gericht hat die Entschädigungsakten der Bezirksregierung Düsseldorf, Aktenzeichen 3 M 3009 B sowie der Jewish Claims Conference (JCC) beigezogen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

16

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

17

Die streitgegenständlichen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von Hinterbliebenenrente.

18

Gem. § 46 Abs. 1 bzw. Abs. 2 SGB VI hat Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wer als Witwe oder Witwer nicht wieder geheiratet hat und wessen verstorbener Ehegatte Versicherter war und die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Die allgemeine Wartezeit beträgt gem. § 50 SGB VI fünf Jahre. Auf die Wartezeit werden gem. § 50 Abs. 1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und gem. § 51 Abs. 4 SGB VI Kalendermonate mit Ersatzzeiten angerechnet. Ersatzzeiten ohne Beitragszeiten genügen allerdings nicht; § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI setzt voraus, dass der Verfolgte bereits als „Versicherter“ gilt (vgl. statt vieler SG Hamburg Urteil vom 9.9.2005 – Aktenzeichen S 26 RJ 1253/03). Beitragszeiten sind auch Zeiten, für die nach den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge geleistet worden sind, § 247 Abs. 3 SGB VI, oder für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten, § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

19

Besondere Vorschrift im Sinne von § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist § 12 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) bzw. § 15 Abs. 1, Abs. 3 Fremdrentengesetz (FRG). Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R). Gem. § 12 WGSVG gelten als Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, in denen ein Verfolgter eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen Beiträge nicht gezahlt worden sind.

20

Rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen sind solche, die aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Beteiligten zustande kommen (Freiwilligkeit) und den Austausch von nichtselbständiger Arbeit gegen Lohn (Entgeltlichkeit) zum Gegenstand haben (so auch BSG, Urteil vom 14.7.1999 – Aktenzeichen B 13 RJ 61/98 R – zitiert nach Juris Rn. 34 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.6.2005 – Aktenzeichen L 8 RJ 97/02). Als weitere Abgrenzungsmerkmale gegenüber anderen Formen der Verrichtung von Arbeit dienen u.a. die persönliche Abhängigkeit des Arbeiters, das Weisungs- bzw. Direktionsrecht des Arbeitgebers und das Eingebundensein des Arbeitnehmers in den organisatorischen Ablauf eines Betriebes (Eingliederung). Entscheidend ist dabei die Zuordnung der Tätigkeit zum Typus der Zwangsarbeit einerseits oder zum Typus der Beschäftigung in sozialrechtlichen Sinne andererseits unter Beachtung der oben genannten Kriterien unter Berücksichtigung der Besonderheiten der zur Beschäftigungszeit herrschenden Umstände und Lebensbedingungen (vgl. BSG Urteil vom 21.4.1999 – Aktenzeichen B 5 RJ 46/98 R; Gagel NZS 2000, 231, 233). Maßgeblich ist dabei das Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 71/98 – NZS 2000, 249, 252).

21

Für die Freiwilligkeit haben die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, sowie allgemeine Lebensumstände, die nicht die Arbeit oder das Arbeitsentgelt selbst, sondern das häusliche, familiäre, wohnungs- und aufenthaltsmäßige Umfeld betreffen, bei der Prüfung, ob ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, außer Betracht zu bleiben. Demgemäß ist für die Versicherungspflicht nicht entscheidend, ob Personen zwangsweise ortsgebunden sind oder sich in einem Lager aufhalten müssen (vgl. BSG Urteil vom 6.4.1960 – Aktenzeichen 2 RU 40/58 - BSGE 12, 71). Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichen Zwang, wie z. B. bei Strafgefangenen und Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei z. B. die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 71/98 – NZS 2000, 249, 252). Eine verrichtete Arbeit entfernt sich um so mehr von einem Arbeits-/ Beschäftigungsverhältnis, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch unter den Umständen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, der damaligen Regulierung des Arbeitsmarktes und dem Bestehen allgemeiner Arbeitspflichten die Gesamtheit aller Arbeitsverhältnisse nicht derart obrigkeitlich/hoheitlich überlagert war, dass sie den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätte (vgl. BSG 18.6.1997 – Aktenzeichen 5 RJ 66/95 - BSGE 80, 250). Dem damaligen differenzierten Regelungssystem, das für die betroffenen Personen in unterschiedlichem Maße Einschränkungen ihrer Arbeitsfreiheit - bis hin zum „Konzentrationslager“ - mit sich brachte, kann bei der Abgrenzung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zur unversicherten Zwangsarbeit angemessen Rechnung getragen werden (vgl. auch Gagel NZS 2000, 231, 233; Langguth DStR 2000, 603, 604).

22

Entgeltlichkeit bedeutet das Vorliegen eines wirtschaftlichen Austauschverhältnisses zwischen geleisteter Arbeit und gezahltem Lohn. Zwar ist die Höhe des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten Leistungen können aber Anhaltspunkte geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten Arbeit oder zu anderen Zwecken, wie z. B. nur als „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“ der zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben keinen Entgeltcharakter mehr. (BSG, Urteil vom 19.04.1990, - Aktenzeichen 1 RA 91/88; BSG Urteil vom 22.09.1988, - Aktenzeichen 7 RAr 13/87; BSG Urteil vom 07.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).

23

Das WGSVG ist gem. § 1 Abs. 1 WGSVG anwendbar für Versicherte, die Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sind und für deren Hinterbliebenen. Verfolgter ist gem. § 1 Abs. 1 BEG, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

24

Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Fremdrentengesetz (FRG) stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dies gilt gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG auch für Zeiten, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind (BSG Urteil vom 7.10.2004 – Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).

25

Gem. § 1 FRG in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1, § 19 Abs. 2 lit. a WGSVG bzw. § 17a FRG ist das FRG auch auf Verfolgte anwendbar, die sich zwar nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben, aber zum Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörten.

26

Ausreichend ist gem. § 4 FRG und § 3 WGSVG die Glaubhaftmachung der erheblichen Tatsachen. Glaubhaftmachung ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Tatsache (§ 3 Abs. 1 Satz 2 WGSVG; so auch Bundesgerichtshof - BGH , Beschluss vom 9. 2. 1998 – Aktenzeichen II ZB 15-97 – NJW 1998, 1870). Die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist im Sinne einer guten Möglichkeit, dass ein bestimmter Sachverhalt so liegt, wie behauptet (vgl. BSG Urteil vom 10.08.1989 - Aktenzeichen 4 RA 94/89) bzw. dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können, zu verstehen (BSG Urteil vom 22.9.1977 – Aktenzeichen 10 RV 15/77 - BSGE 45, 9 ff.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 27.02.2004 – Aktenzeichen L 13 RJ 61/01). Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht; von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen (BSG Beschluss vom 8.8.2001 – Aktenzeichen B 9 V 23/01 B - BSG SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Zu den Mitteln der Glaubhaftmachung zählen gem. § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) und § 3 Abs. 2 Satz 1 WGSVG alle Beweismittel, auch die Versicherung an Eides statt. Dies gilt wegen des eingeschränkten Beweismaßstabs der Glaubhaftmachung auch für die eidesstattliche Versicherung des Klägers selbst (offen gelassen LSG Berlin Urteil vom 26.3.2003 - Aktenzeichen L 6 RA 44/02; a.A. mit Hinweis darauf, dass § 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - nicht auf die Vorschriften der ZPO über die Parteivernehmung verweist LSG Berlin Urteil vom 26.7.2004 - Aktenzeichen L 16 RA 65/03, wobei aber nicht überzeugend der Unterschied zwischen Vollbeweis und Glaubhaftmachung herausgearbeitet wird).

27

Zur rentenrechtlichen Beurteilung der streitgegenständlichen Beitragszeiten sind die Regelungen des FRG heranzuziehen. Das (Rest-) Ghetto Rzeszow (Reichshof) war im sog. Generalgouvernement belegen. Es handelte sich mithin trotz der vielfältigen Abhängigkeiten dem Deutschen Reich gegenüber um Ausland (BSG Urteil vom 23.8.2001 - Aktenzeichen B 13 RJ 59/00 R).

28

Der verstorbene Ehemann der Klägerin war Verfolgter im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG. Als Jude wurde er aufgrund seines Glaubens durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt.

29

Die Klägerin konnte aber nicht glaubhaft machen, dass ihr Ehemann seine Tätigkeit in Rzeszow freiwillig ausgeübt hat. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass in den nationalsozialistischen Ghettos menschenverachtende und unwürdige Bedingungen herrschten, die mit einem heutigen freien Arbeitsmarkt nicht vergleichbar waren.

30

Die Klägerin gibt zwar in der Klageschrift an, ihr Ehemann habe die Tätigkeit aufgrund eigener Bemühungen durch den Judenrat aufgenommen. Die Kammer ist aber davon überzeugt, dass es sich um eine zugewiesene und unter Arbeitszwang ausgeübte Beschäftigung handelte. Dafür spricht zunächst bereits, dass die Klägerin noch im Rentenantragsformular vom 29.8.2003 angab, ihr Ehemann habe seine Arbeit „durch die Familie“ gefunden und sich damit in Widerspruch zu ihrem Vortrag im Klageverfahren setzt. Entscheidend sind für die Kammer aber vor allem die Angaben ihres Ehemanns selbst aus dem Entschädigungsverfahren. Daraus ergibt sich, dass es sich bei dem (Rest-) Ghetto von Rzeszow in der Zeit, in der sich Herr M dort befand, keinen freien Arbeitsmarkt im Sinne eines Ghettoarbeitsmarkts mehr gab. Vielmehr handelte es sich (bereits) um ein Arbeitslager, in dem Arbeiten hoheitlich zugewiesen wurden.

31

In seiner eidesstattlichen Versicherung (Blatt 15 der Verwaltungsakte der Beklagten) aus dem Entschädigungsverfahren differenzierte Herr M klar zwischen den Termini „Ghetto“ und „Arbeitslager“. So schreibt er dort:

32

„[...] und, da ich keinen hatte, der mich hätte aufnehmen wollen, floh ich in das Ghetto in Sieniawa. In diesem Ghettolager bin ich bis ungefähr November 1942 geblieben. Zu dieser Zeit wurde auch dieses Ghetto liquidiert und es gelang mir noch im letzten Augenblick zu entkommen. Ich bin dann wieder nach Rzeszow zurückgekehrt, wo es ein Arbeitslager gab. Hier musste ich mich an einen Juden wenden, der dort Werkstattleiter war und mich dort aufnahm. [...] Es wurden in diesen Werkstätten Schneider-, Schlosser- und Schusterarbeiten verrichtet und ich wurde der Schlosserabteilung zugeteilt.“

33

Aus der Auslegung des Wortlauts dieser eidesstattlichen Versicherung ergibt sich zur Überzeugung der Kammer, dass das (Haupt-) Ghetto Rzeszow nach seiner Auflösung im Juli 1942 kein Ghetto mehr war, sondern ein reines Arbeitslager. In einem Arbeitslager sind die Arbeitsbedingungen aber – dies ergibt sich bereits aus dem Wort „Arbeitslager“ selbst – geprägt durch eine Inhaftierung zum Zwecke eines zwanghaften Arbeitseinsatzes. Im Gegensatz zur noch verhältnismäßig freien Lebenssituation in einem Ghetto, die zwar geprägt war durch Repressalien und Schikanen des Regimes, aber dennoch gerade hinsichtlich der Arbeit Raum ließen für eine freie Willensbetätigung, ist ein Arbeitslager eher vergleichbar mit einer Inhaftierung. Es steht damit in Bezug auf die noch mögliche Freiwilligkeit der Betätigung zwischen einem Ghetto und einem "Konzentrationslager". Während in einem Ghetto eine freiwillige Arbeitsaufnahme prinzipiell möglich war, ist in einem Arbeitslager im Grundsatz von Zwangsarbeit auszugehen. Dafür spricht in der eidesstattlichen Versicherung weiter, dass Herr M davon berichtet, dass er sich an den Werkstattleiter wenden „musste“ und einer bestimmten Abteilung „zugeteilt“ wurde.

34

Nicht entscheidend für die Kammer ist hingegen, ob der Entschluss, sich in ein Arbeitslager zu begeben freiwillig war. Es kommt vielmehr ausschließlich darauf an, dass im Arbeitslager eine Arbeitsstelle und die Art der verrichteten Arbeit nicht frei gewählt werden konnte, sondern durch hoheitliche Zuweisung geschahen und dass die Art und Weise der Verrichtung durch hoheitliche Eingriffe überlagert war.

35

Es kann mangels glaubhafter gemachter Freiwilligkeit der Tätigkeit dahingestellt bleiben, ob der Ehemann der Klägerin die Tätigkeit entgeltlich ausgeübt hat. Auch dies erachtet die Kammer jedenfalls als fraglich. Zwar gibt die Klägerin an, dass ihr Ehemann für seine Arbeit drei Mahlzeiten täglich und manchmal Zigaretten erhalten habe und dass er diese als Tauschmittel habe einsetzen können. Es spricht jedoch einiges dafür, dass dieser Sachbezug zu gering war, um noch als Entlohnung angesehen werden zu können. Es handelte sich wohl vielmehr um ein „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“. Zwar ist die Höhe des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten Leistungen können aber Anhaltspunkte dafür geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten Arbeit oder zu anderen Zwecken, wie z.B. nur als „Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft“ des zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten, gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben dabei keinen Entgeltcharakter mehr (BSG, Urteil vom 19.04.1990 - Aktenzeichen 1 RA 91/88; Urteil vom 22.09.1988 - Aktenzeichen 7 RA 13/87; Urteil vom 07.10.2004 - Aktenzeichen B 13 RJ 59/03 R).

36

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen

This content does not contain any references.