Urteil vom Sozialgericht Speyer (16. Kammer) - S 16 AS 729/16

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Tenor

1. Der Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid.

2

Der 1975 geborene Kläger war mit der Zeugin Frau S… M… L… seit dem 15.09.2011 verheiratet. Seit dem 13.01.2015 sind der Kläger und Frau L… rechtskräftig geschieden.

3

Ab dem 17.01.2012 war der Kläger in S… in der Wohnung der Frau L… gemeldet. Er war zunächst weiter in K… bei der Fa. H… beschäftigt. Zwei minderjährige Kinder der Frau L… lebten ebenfalls in der Wohnung. Frau L… bezog bereits vor Einzug des Klägers Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), war aber zugleich erwerbstätig.

4

Frau L…i hatte dem Beklagten im Oktober 2011 mitgeteilt, dass der Kläger in ihre Wohnung einziehen würde. Nach dem Einzug des Klägers legte Frau L… dem Beklagten anlässlich eines Weiterbewilligungsantrags für die Zeit ab dem 01.01.2012 zahlreiche Unterlagen betreffend den Kläger vor, darunter diverse Anlagen zu Antragsformularen. Diese waren sämtlich von Frau L… und nicht vom Kläger selbst unterzeichnet. U.a. wurde eine Anmeldebestätigung vorgelegt, ebenso Einkommensnachweise für die Zeit vom September 2011 bis Januar 2012 sowie Kopien des Personalausweises, der Krankenversichertenkarte und des Sozialversicherungsausweises. Die zum Weiterbewilligungsantrag vorgelegten Anlagen WEP, SV, EK und VM waren von Frau L… unterzeichnet.

5

Mit Bescheid vom 08.02.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012, für den Kläger selbst ab dem 17.01.2012. Der Beklagte ging bei der Bescheiderteilung von einem monatlichen Bruttoeinkommen des Klägers von 1.700 Euro und der Frau L… von 450 Euro aus. Die Zahlungen auf Grund des Bescheides erfolgten immer auf ein Konto der Frau L…

6

Mit einem dem Bewilligungsbescheid vom 08.02.2012 entsprechend adressierten Änderungsbescheid vom 27.02.2012 erfolgte eine Erhöhung der Leistungen für den gesamten Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012. Hintergrund war die Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen in Höhe von zusammen 178 Euro monatlich, die der Kläger für zwei Kinder leistete. Nachweise hierfür hatte Frau L… vorgelegt, nachdem sie hierzu vom Beklagten mit Schreiben vom 08.02.2012 aufgefordert worden war. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass der Kläger angegeben hätte, dass er Unterhaltsleistungen zahlen müsse. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich jedoch nur die Nennung von Unterhaltsleistungen des Klägers in der allein von Frau L… am 02.02.2012 unterzeichneten Anlage EK entnehmen.

7

Im Juni 2012 stellte Frau L… einen Weiterbewilligungsantrag. Auch auf den hierzu vorgelegten Antragsformularen wurden Unterschriften ausschließlich durch Frau L… geleistet.

8

Laut Aktenvermerk vom 21.06.2016 teilte Frau L… dem Beklagten an diesem Tag mit, dass der Kläger am 16.06.2012 im Streit gegangen und bisher nicht zurückgekehrt sei. Anlässlich einer telefonischen Rücksprache am 25.06.2012 mit Frau L… teilte diese mit, dass ihr Ehemann (der Kläger) weiter im Haushalt lebe.

9

Mit Bescheid vom 26.06.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… vorläufig Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.07.2012 bis zum 31.12.2012.

10

Ein Anhörungsschreiben vom 20.06.2012 bezüglich einer möglichen Überzahlung im Monat Januar 2012 wurde an den Kläger selbst adressiert. Ein Nachweis über den Zugang des Schreibens ist in den Verwaltungsvorgängen nicht enthalten.

11

In Folge des Wegfalls der Hilfebedürftigkeit hob der Beklagte die Leistungsbewilligung mit Wirkung ab dem 01.08.2012 durch einen an Frau L… gerichteten Bescheid  vom 16.07.2012 auf.

12

Es folgten weitere Anhörungsschreiben vom 16.07.2012 für die Zeit vom 01.07.2012 bis zum 31.07.2012 sowohl an Frau L… als auch an den Kläger. Auch zu diesen Schreiben finden sich keine Zugangsnachweise in den Verwaltungsvorgängen.

13

Mit Bescheid vom 04.10.2012 erfolgte eine endgültige Bewilligung von Leistungen für den Monat Juli 2012 gegenüber Frau L… („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“). Zeitgleich ergingen Erstattungsbescheide sowohl an Frau L… (und ihre Kinder) als auch an den Kläger. Zugangsnachweise für diese Bescheide sind in den Verwaltungsvorgängen nicht vorhanden.

14

Auf erneuten Antrag der Frau L… vom 13.09.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… mit einem Bescheid vom 05.10.2012 und einem Änderungsbescheid vom 09.10.2012 vorläufig Leistungen nach dem SGB II („für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) für den Zeitraum vom 01.09.2012 bis zum 28.02.2013.

15

Der Kläger ist am 01.02.2013 aus der Wohnung der Frau L… ausgezogen.

16

Mit Schreiben vom 24.10.2014 hörte der Beklagte den Kläger unter seiner neuen Adresse wegen einer möglichen Aufhebung und Erstattung an.

17

Mit Bescheid vom 09.04.2015 hob der Beklagte die Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 gegenüber dem Kläger für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum  31.07.2012 teilweise in Höhe von insgesamt 716,73 Euro auf und verlangte die Erstattung dieses Betrags. Hintergrund waren höhere Einnahmen der Frau L… aus Erwerbstätigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum.

18

Hiergegen erhob der Kläger am 29.04.2015 Widerspruch. Zur Begründung trug er vor, dass er im Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 31.07.2012 keine Leistungen nach dem SGB II bezogen habe. In diesem Zeitraum sei er in sozial- und lohnsteuerpflichtig abhängiger Beschäftigung gewesen. Sein Bruttogehalt habe 1.700 Euro betragen. Von der Tatsache, dass seine geschiedene Ehefrau Leistungen nach dem SGB II beantragt gehabt habe, habe der Kläger keine Kenntnis gehabt. Leistungen des Beklagten seien auch nicht auf sein Konto bei der Postbank überwiesen worden. Sie seien auf ein Konto gegangen, dass die geschiedene Ehefrau eingerichtet gehabt habe. Über dieses Konto habe der Kläger keine Verfügungsmacht gehabt. Er habe auch keine Kontoauszüge zu Gesicht bekommen. Er habe nicht gewusst, dass Leistungen beantragt worden waren, er habe auch nicht gewusst, dass Leistungen bewilligt worden waren. Er habe keine Beträge vom Beklagten erhalten. Der Rückforderungsanspruch werde zu Unrecht gegen ihn erhoben. Er selbst habe beim Beklagten keinen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt. Er habe dort auch keine persönlichen Unterlagen in Kopie abgegeben. Möglicherweise habe er bei der Agentur für Arbeit in S… Unterschriften geleistet und Unterlagen abgegeben zwecks Bewilligung von Arbeitslosengeld I. Dies sei ihm auch bewilligt worden.

19

Mit Änderungsbescheid vom 27.04.2016 korrigierte der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbetrag auf insgesamt 701,10 Euro.

20

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2016 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die „Exfrau“ des Klägers habe tatsächlich einen höheren Lohn erhalten, als zuvor angerechnet. Die Leistungsbewilligung im streitigen Zeitraum sei somit nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben und zurückzufordern gewesen. Die Erstattungsbeträge ergäben sich, wenn man die ursprünglichen Bewilligungen den nach der Korrektur des Einkommens zustehenden Leistungen gegenüber stelle. Der Erstattungsbetrag für April 2012 sei dementsprechend zu korrigieren gewesen, da dem Kläger für April 2012 ursprünglich 102,33 Euro an Kosten der Unterkunft gewährt worden seien, tatsächlich aber 15,63 Euro zugestanden hätten. Es seien für April 2012 somit nur Unterkunftskosten in Höhe von 86,70 Euro zu erstatten. Der Vortrag, der Kläger habe nichts vom Leistungsbezug seiner „Exfrau“ gewusst und selbst keine Leistungen erhalten, überzeuge anhand der vorliegenden persönlichen Unterlagen des Klägers in der Akte nicht. Auch seien ihm mehrere Schreiben zugestellt worden. Die Kontoauszüge des Klägers lägen vor, trotz der Angabe, dass die „Exfrau“ des Klägers dessen Kontoauszüge nicht zu Gesicht bekommen hätte.

21

Der Kläger hat am 25.05.2016 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass er im Zeitraum seit der Heirat am 15.09.2011 bis zur rechtskräftigen Scheidung am 13.01.2015 keine Leistungen vom Beklagten bezogen habe. Auf seinem Konto bei der Postbank sei kein Cent von einem Jobcenter in den genannten Zeitraum eingegangen. Die geschiedene Ehefrau sei in S… in einem Spielcasino beschäftigt gewesen. Welche Arbeitszeit sie dort vereinbarungsgemäß einzuhalten gehabt habe, welches Einkommen sie erzielt habe, auf welches Konto das Arbeitsentgelt eingezahlt worden sei, entziehe sich der Kenntnis des Klägers. Er selbst habe keinen Antrag auf „Leistungen nach Hartz IV“ gestellt. Er habe selbst keine Unterlagen vorgelegt. Er habe auch nicht veranlasst, dass Unterlagen für ihn von einer anderen Person vorgelegt werden. In der Verwaltungsakte des Beklagten tauche kein einziges Mal die Unterschrift des Klägers auf. Kein einziger Antragsvordruck sei vom Kläger unterschrieben. Alle Antragsformulare seien durch Frau L… unterschrieben worden. Eine Vollmacht habe sie nie besessen. Leistungen des Beklagten seien ausnahmslos auf das Konto der Frau L… bei der Sparkasse S… eingegangen. Über dieses Konto habe der Kläger keinerlei Verfügungsrechte gehabt. Der Kläger sei kein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gewesen. Er habe gearbeitet und verdient. Auf Drängen der Ehefrau habe er die Arbeitsstelle in K… gekündigt, weil diese darauf bestanden habe, dass er im Raum S… erwerbstätig sein solle. Für Frau L… sei es ein Leichtes gewesen, an Unterlagen des Klägers zu kommen, wenn dieser ortsabwesend gewesen sei. Falls sie kein Kopiergerät gehabt haben sollte, wäre es ein Leichtes gewesen, Kopien in einem Copyshop zu fertigen.

22

Der Kläger beantragt sinngemäß,

23

den Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016 aufzuheben.

24

Der Beklagte beantragt,

25

die Klage abzuweisen.

26

Zur Begründung beruft er sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Ergänzend trägt er vor, dass die Anträge auf Leistungen nach dem SGB II, welche nur von Frau L… unterschrieben worden seien, gemäß § 38 SGB II als für die gesamte Bedarfsgemeinschaft, zu der damals auch der Kläger gehört habe, gestellt gälten. Eine Unterschrift des Klägers auf den Anträgen sei deshalb nicht notwendig gewesen. Im Hinblick auf die Vielzahl der eingereichten persönlichen Unterlagen des Klägers sei es nicht überzeugend, dass Frau L… sämtliche Unterlagen heimlich beschafft, kopiert und eingereicht haben solle.

27

Die Kammer den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 12.05.2017 persönlich angehört und Frau S. L… in der mündlichen Verhandlung vom 08.09.2017 als Zeugin vernommen. Der Kläger erklärte, dass ihm bekannt gewesen sei, dass Frau L… Leistungen vom Beklagten bezogen hatte. Sie habe ihn auch mal um einen Lohnzettel gebeten. Sie hätten jeweils aber getrennte Konten und auch keine Verfügungsbefugnis über das Konto des jeweils anderen gehabt. Er selbst habe sein eigenes Geld verdient. Frau L… habe sich um die Finanzierung ihres Hauses gekümmert. An den Kosten für die Unterkunft habe er sich nicht beteiligt. Mit der Agentur für Arbeit habe er erst Kontakt gehabt, als er sich am 15.12.2012 arbeitslos gemeldet habe.

28

Frau L… bestätigte die getrennte Kontoführung ohne gegenseitige Verfügungsbefugnis. Dem Kläger sei ihr Leistungsbezug bekannt gewesen. Ob er gelegentlich mit ihr beim Jobcenter gewesen sei, wisse sie nicht mehr. Die Kosten für die Wohnung seien von ihrem Konto abgegangen. Der Kläger habe die allgemeinen Lebenshaltungskosten gezahlt. Sie nehme an, dass der Kläger von den Bescheiden des Beklagten Kenntnis erlangt habe, da sie offen herumgelegen hätten. Ihr sei nicht unbedingt klar gewesen, dass der Kläger auch Leistungen bekommen würde.

29

Zur weiteren Darstellung des Tatbestands, insbesondere zum weiteren Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

I.

30

Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

31

Die Klage richtet sich gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016, mit dem der Beklagte gegenüber dem Kläger Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 31.07.2012 teilweise im Umfang von insgesamt 701,10 Euro aufhebt und die Erstattung dieses Betrages verlangt.

II.

32

Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben (§ 131 Abs. 1 Satz 1 SGG).

33

1. Soweit mit den angefochtenen Bescheiden Bewilligungsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden, folgt die Rechtswidrigkeit aus dem Umstand, dass dem Kläger selbst mit den teilweise aufgehobenen Bescheiden vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 Leistungen nach dem SGB II nicht wirksam bewilligt wurden. Voraussetzung für eine Aufhebung nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder nach § 48 SGB X ist stets, dass gegenüber dem Betroffenen überhaupt ein von der Aufhebungsverfügung erfasster Verwaltungsakt wirksam geworden ist.

34

Zwar lassen sich die Bescheide des Beklagten vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 allesamt so verstehen, dass eine Leistungsbewilligung auch zu Gunsten des Klägers verfügt werden sollte. Die Formulierung „für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“ lässt jedenfalls eine Auslegung dahingehend zu, dass hiermit den mit der eigentlichen Adressatin in der Bedarfsgemeinschaft lebenden und im nachfolgenden Bescheidtext namentlich benannten Personen jeweils eigenständig Leistungen bewilligt werden, diese also nicht lediglich bei der Leistungsbewilligung an die Adressatin berücksichtigt werden und nur mittelbar von dieser profitieren sollten. Demnach hätte der Beklagte gegenüber dem Kläger mit den genannten Bescheiden diesen begünstigende Verwaltungsakte erlassen wollen.

35

Diese Bewilligungsentscheidungen sind gegenüber dem Kläger jedoch nicht wirksam geworden. Denn es fehlt an einer Bekanntgabe der Bescheide an den Kläger. Es kann daher offenbleiben, ob die Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide § 45 SGB X oder § 48 SGB X wäre, oder ob in Folge des zwischenzeitlichen Erlasses von Änderungsbescheiden nach Zeitabschnitten zu differenzieren wäre.

36

Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X kann die Bekanntgabe gegenüber einem Bevollmächtigten vorgenommen werden, wenn ein solcher bestellt ist.

37

1.1 Gegenüber dem Kläger selbst sind die Verwaltungsakte vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 nicht bekanntgegeben worden. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes setzt einerseits die (unter bestimmten Umständen fingierte) Kenntnisnahme durch den Adressaten voraus. Über die passive, rein tatsächliche Kenntnisnahme durch den Betroffenen hinaus, verweist der Begriff der Bekanntgabe („-gabe“ von „geben“) auch auf eine aktive Handlung des Absenders. Um als bekanntgegeben zu gelten, muss der Verwaltungsakt daher nicht nur (grundsätzlich) zur Kenntnis genommen, sondern auch mit der Zielrichtung der Kenntnisnahme durch den Adressaten übermittelt worden sein (vgl. auch BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 2/13 R –, Rn. 28; alle Entscheidungen zitiert nach juris). Diese Voraussetzung wird in Anlehnung an die Dogmatik der Willenserklärung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als „Bekanntgabewille“ bezeichnet (Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25; vgl. auch die Definition der Bekanntgabe als „Eröffnung des Verwaltungsakts mit Wissen und Willen der erlassenden Behörde“, Pattar, a.a.O., Rn. 66 unter Bezugnahme auf Recht in: Hauck/Noftz, SGB X, K § 37, Rn. 5).

38

Gegenüber wem der Verwaltungsakt durch die Behörde bekanntgegeben werden soll, kommt bei einem schriftlichen Verwaltungsakt grundsätzlich im Adressfeld des Bescheides und/oder in der Anrede des Bescheides zum Ausdruck. Wenn die Behörde den Verwaltungsakt nicht an die von der Regelung betroffene, sondern an eine andere Person adressiert, ist, selbst wenn die betroffene Person von der Regelung Kenntnis erlangt, noch keine Bekanntgabe an die betroffene Person erfolgt (vgl. Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25, und v. Wulffen/Schütze/Engelmann, SGB X, § 37 Rn. 3b, beck-online, für den Fall der zufälligen Kenntnisnahme).

39

Betrifft die Regelung eines Verwaltungsakts mehrere Personen oder sind in einem zusammengefassten Bescheid mehrere Regelungen enthalten, die verschiedene Personen betreffen, muss die Regelung beziehungsweise müssen die Regelungen daher jeder einzelnen betroffenen Person bekanntgegeben werden und damit auch zugehen, um wirksam zu werden (Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 58 m.w.N.). Dies gilt insbesondere auch bei Bescheiden über Leistungen an mehrere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), wie im vorliegenden Fall.

40

1.1.1 Die Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 waren ausschließlich an die frühere Ehefrau des Klägers, die Zeugin Frau L…, adressiert. Nur sie wurde in der Anrede der Bescheide persönlich angesprochen. Demzufolge wurden die in den Bescheiden enthaltenen Verwaltungsakte allenfalls ihr, nicht jedoch dem Kläger gegenüber bekanntgegeben.

41

Vorliegend kann offenbleiben, ob es für den „Bekanntgabewillen“ der Behörde schon ausreichen kann, dass die Behörde bei Absendung an eine Person damit rechnet, dass auch andere Betroffene von dem Verwaltungsakt Kenntnis erlangen werden (so Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 25), denn für eine derartige Annahme fehlt es im vorliegenden Fall an einem tatsächlich Anhaltspunkt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Beklagte seiner auch im vorliegenden Verfahren geäußerten Rechtsauffassung gemäß eine Bekanntgabe der Bescheide gegenüber Frau L… auf Grund einer angenommenen Vertretungsvermutung entsprechend § 38 Abs. 1 SGB II für ausreichend gehalten hat. Hiervon abgesehen kann nicht nachgewiesen werden, dass der Kläger entgegen seines Vortrags von den genannten Bescheiden tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Die Zeugin Frau L… hat diesbezüglich lediglich ausgesagt, dass sie annehme, dass der Kläger von den Bescheiden Kenntnis erlangt hat.

42

Eine Bekanntgabe der Bescheide vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 ist gegenüber dem Kläger selbst mithin nicht erfolgt.

43

1.1.2 Eine Bewilligung von Leistungen durch den Beklagten an den Kläger ist auch nicht konkludent durch Zahlung der vermeintlich bewilligen Beträge an die Zeugin Frau L… erfolgt. Denn auch insoweit fehlt es jedenfalls an einer konkludenten Bekanntgabe der Bewilligungsentscheidung an den Kläger als Adressaten.

44

1.2 Die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes ist auch nicht deshalb erfolgt, weil die Zeugin Frau L… vom Kläger im Verhältnis zum Beklagten im Sinne des § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X empfangsbevollmächtigt gewesen wäre.

45

1.2.1 Der Kläger hatte Frau L… nicht im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Durchführung des Verwaltungsverfahrens bevollmächtigt. Auch eine Bestellung nach § 14 SGB X oder § 15 SGB X lag nicht vor.

46

1.2.2 Der Beklagte war auch nicht dazu berechtigt, die Bekanntgabe entsprechend der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II gegenüber Frau L… mit Wirkung für und gegen den Kläger vorzunehmen.

47

Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird vermutet, dass die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen, soweit Anhaltspunkte dem nicht entgegenstehen. Gemäß § 38 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt diese Vermutung zugunsten der Antrag stellenden Person, wenn mehrere erwerbsfähige Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft leben.

48

Die Vermutungsregelung erfasst demnach zwei verschiedene Handlungen: den Antrag auf Leistungen und die Entgegennahme von Leistungen.

49

a) Die Antragstellung hat in verfahrensrechtlicher Hinsicht gemäß § 18 Satz 2 SGB X zur Folge, dass hiermit ein Verwaltungsverfahren eingeleitet wird. In materiell-rechtlicher Hinsicht ist die Antragstellung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Sie bestimmt darüber hinaus den Zeitpunkt des Beginns der Leistungen (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Durch die Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird zu Gunsten der potenziell Leistungsberechtigten sichergestellt, dass die Leistungsvoraussetzungen regelmäßig ab dem Zeitpunkt erfüllt werden können, an dem eine beliebige erwerbfähige leistungsberechtigte Person der Bedarfsgemeinschaft erstmals einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellt. Eine (Vermutung der) Bestellung des Antragstellers zum Bevollmächtigten im Sinne der §§ 13 Abs. 1, 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist hiermit nicht verbunden.

50

b) Die Entgegennahme von Leistungen im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II bezeichnet den tatsächlichen Vorgang der Leistungsabwicklung auf Empfängerseite. Mit der Vertretungsvermutung wird für den Regelfall angeordnet, dass die Behörde mit befreiender Wirkung an den erwerbsfähigen leistungsberechtigten Antragsteller leisten kann, soweit auch den anderen Angehörigen seiner Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II bewilligt worden sind. Die Entgegennahme ist daher grundsätzlich von der Leistungsbewilligung zu unterscheiden. Sie setzt die Leistungsbewilligung vielmehr voraus. Denn durch die Leistungsbewilligung, gegebenenfalls differenziert an mehrere Bedarfsgemeinschaftsmitglieder, wird erst bestimmt, gegenüber welchen Personen der Leistungsträger durch Zahlung an den Antragsteller von seiner Leistungspflicht befreit wird. Dies schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass eine Leistungsbewilligung konkludent zeitgleich mit der Zahlung erfolgen kann (allerdings nur gegenüber dem Zahlungsempfänger, s.o. unter 1.1.2; vgl. zur konkludenten Bewilligung von Krankengeld durch Zahlung: SG Mainz, Urteil vom 21.03.2016 – S 3 KR 255/14 –, Rn. 63 ff.), hat aber nicht zur Folge, dass eine Vertretungsvermutung für die Entgegennahme einer Leistung eine Vertretungsvermutung für die Entgegennahme eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit einschließen würde (so aber Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 38, Rn. 28, und Hessisches LSG, Urteil vom 13.11.2015 – L 9 AS 44/15 –, Rn. 33). Das gesamte für das SGB II geltende Verwaltungsverfahrensrecht des SGB X basiert vielmehr auf der Unterscheidung zwischen materiellen Ansprüchen, Verwaltungsakten über Ansprüche und Vollzug von Verwaltungsakten. Im Kontext des SGB II und des SGB X überschreitet eine Interpretation der „Entgegennahme von Leistungen“ als „Entgegennahme von Bewilligungsbescheiden“ daher die Grenzen des möglichen Wortsinns (so auch Gagel/Pilz, SGB II § 38, 41. EL März 2011, Rn. 16, beck-online, unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten und unter Heranziehung eines Vergleichs mit § 36 SGB I).

51

c) Eine Erweiterung der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II „über den Wortlaut der Norm hinaus“ auf alle Verfahrenshandlungen, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, einschließlich der Einlegung eines Widerspruchs und der Entgegennahme eines Widerspruchsbescheides (so BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 28; BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 2/13 R –, Rn. 25; BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 155/10 R –, Rn. 22; Sächsisches LSG, Urteil vom 14.03.2013 – L 3 AS 748/11 –, Rn. 56) lässt sich nicht rechtfertigen. Hierbei handelte es sich um eine mit dem Gesetzesbindungsgebot, dem Gewaltenteilungsprinzip und dem Gesetzesvorbehalt des § 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht zu vereinbarende Rechtsfortbildung contra legem.

52

Der 7b. Senat des BSG hat hierzu ausgeführt (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 28):

53

„Über den Wortlaut der Norm hinaus, der von einer vermuteten Vertretung aller Bedarfsgemeinschaftsmitglieder (nur) für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen spricht, muss die Norm aus Gründen der vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (vgl zu dieser Zielsetzung BT-Drucks 1516, S 63 zu § 38) dahin ausgelegt werden, dass die vermutete Bevollmächtigung alle Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, also insbesondere die Einlegung eines Widerspruchs (…). Zwar ist die Regelung der Bedarfsgemeinschaft, wie oben ausgeführt, insgesamt objektiv der Verwaltungspraktikabilität und Verfahrensökonomie nicht dienlich; jedoch liegt dies weniger an § 38 SGB II, als an der Bedarfsgemeinschaft als solcher. Hält man sie, wie der Gesetzgeber, für sinnvoll, muss sie jedenfalls durch eine Verfahrensregelung flankiert werden, die es zumindest im Verfahren über die Bewilligung der Leistung verhindert, dass die Verwaltung sich gleichwohl und zwangsläufig an jeden Einzelnen wenden muss. Der Widerspruchsbescheid wird aus diesem Grunde auch mit dem Zugang (§ 37 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB X) an den vermuteten Vertreter wirksam gegenüber allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft. (…)“

54

Der Sache nach stellt die Erweiterung der Vertretungsvermutungen des § 38 Abs. 1 SGB II auf andere Verfahrenshandlungen und auf das Widerspruchsverfahren einschließlich der Empfangsbevollmächtigung für Verwaltungsakte eine Analogiebildung dar. Denn sie geht – erklärtermaßen auch nach Auffassung des BSG – über die Grenzen der semantischen Auslegung der Vorschrift hinaus und überträgt die Rechtsfolge der Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 SGB II für Antragstellung und Entgegennahme von Leistungen auf den hier nicht geregelten Fall der Bekanntgabe von Verwaltungsakten.

55

Der Wortlaut eines Gesetzes steckt jedoch die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 300 ff., zum Ganzen S. 294 ff. und S. 538 ff., 10. Auflage 2009). Die Bindung der Gerichte an das Gesetz folgt aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. Dass die Gerichte dabei an den Gesetzestext (im Sinne des amtlichen Wortlauts bzw. Normtextes) gebunden sind, folgt aus dem Umstand, dass nur dieser schriftlich fixierte Gesetzestext Ergebnis des von der Verfassung vorgegebenen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens ist. Eine Überschreitung der Wortlautgrenze verstößt daher sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot als auch gegen das Gewaltenteilungsprinzip (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 373; SG Mainz, Urteil vom 25.07.2016 – S 3 KR 428/15 –, Rn. 90; SG Mainz, Urteil vom 24.09.2013 – S 17 KR 247/12 –, Rn. 51; SG Speyer, Urteil vom 23.01.2017 – S 19 KR 521/16 –, Rn. 31; SG Speyer, Beschluss vom 25.01.2017 – S 16 R 917/16 ER –, Rn. 35). Die Tatsache, dass sie argumentativ erarbeitet werden muss und kontrovers diskutiert werden kann, macht die Annahme einer Wortlautgrenze nicht überflüssig. Sie widerlegt nicht die Idee der Wortlautbindung (eingehend Hochhuth, Rechtstheorie 2011, S. 229; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 434).

56

Eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte ist allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht (SG Mainz, Gerichtsbescheid vom 21.09.2015 – S 3 KR 558/14 –, Rn. 29 ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, Rn. 374 ff). Hiermit wird dem Dilemma Rechnung getragen, dass die Gerichte einerseits an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG), andererseits zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verpflichtet (Art. 19 Abs. 4 GG) sind. Sie müssen auch in den Fällen, in denen eine einschlägige gesetzliche Regelung fehlt, zu einer bestimmten Sachentscheidung kommen. In einem funktionierenden Rechtsstaat muss es auf jede Rechtsfrage eine Antwort geben (Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2009, S. 257). In Folge des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gesetzesbindung darf allerdings von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht methodisch korrekt zu lösen wäre. Wenn ein Fall auf Grundlage und in Übereinstimmung mit den einschlägigen Normtexten zu lösen ist, verstößt die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke und in Folge dessen die analoge Heranziehung einer anderen Rechtsfolge gegen das Gesetzesbindungsgebot. Dies gilt in besonderem Maße für weitgehend kodifizierte Rechtsgebiete, wie dem in den Sozialgesetzbüchern geregelten Sozialrecht. Für das Sozialgesetzbuch gilt in Folge Vorschriften des § 2 Abs. 2 SGB I (Auslegungsgrundsatz der möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte) und § 31 SGB I (Vorbehalt des Gesetzes) zudem auch einfachrechtlich ein Analogieverbot sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der potenziell Sozialleistungsberechtigten (zu geringe Anforderungen an den Analogieschluss stellt daher Becker, SGb 2009, S. 341 f.).

57

Deshalb ist eine Analogiebildung nicht bereits dann zulässig, wenn die (vermeintliche) Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen (so aber BSG, Urteil vom 24.10.1984 – 6 RKa 36/83 –, Rn. 6; BSG, Urteil vom 06.10.2011 – B 14 AS 171/10 R –, Rn. 22), wenn der (vermeintliche) Zweck der Vorschrift auch nicht geregelte Fälle erfasst (so aber BSG, Urteil vom 12.12.1996 – 11 RAr 31/96 –, Rn. 16; BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R –, Rn. 14), oder wenn der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten von Geschehensabläufen (mutmaßlich) nicht erkannt hat (so aber BSG, Urteil vom 16.04.2002 – B 9 VG 1/01 R –, Rn. 24). Das Bestehen einer Regelungslücke darf auch nicht allein aus der Gleichartigkeit der Sachverhalte und der Vergleichbarkeit der Interessenlage gefolgert werden (so aber BSG, Urteil vom 26.06.2013 – B 7 AY 6/12 R –, Rn. 18). Ebensowenig vermögen die vom 4. Senat des BSG im Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 29) für die Erweiterung des § 38 Abs. 1 SGB II „über den Wortlaut hinaus“ herangezogenen Gründe der „vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie“ einen Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot zu rechtfertigen.

58

Eine Regelungslücke im oben beschriebenen Sinne ist hinsichtlich einer Vertretungsvermutung für weitere aktive und passive Verfahrenshandlungen entsprechend § 38 Abs. 1 SGB II nicht gegeben. Sachverhaltskonstellationen wie die vorliegende, in denen sich die Frage nach einer Vertretung durch ein anderes Bedarfsgemeinschaftsmitglied stellt, können ohne weiteres mit der Vorgabe gelöst werden, dass es eine Vertretungsvermutung nicht gibt. Eine Analogiebildung ist mangels Regelungslücke daher nicht zulässig. Die Rechtsauffassung des 4. Senats des BSG (Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, Rn. 29) ist deshalb rechtswissenschaftlich nicht vertretbar. Dass der Senat seine Rechtsauffassung nicht ausdrücklich mit einer Analogiebildung begründet, vermag hieran nichts zu ändern. Es mangelt vielmehr bereits an einer Darlegung der theoretischen Prämissen, nach denen sich der Senat für eine Erweiterung der Vorschrift „über den Wortlaut der Norm hinaus“ legitimiert fühlt.

59

Unabhängig davon, dass die Rechtsauffassung des BSG aus methodischen (unausgesprochene Analogiebildung ohne Beachtung ihrer Voraussetzungen), verfassungsrechtlichen (Verstoß gegen das Gesetzesbindungsgebot) und systematischen (Nichtbeachtung des § 31 SGB I; Übergehung der Differenzierungen des Verwaltungsverfahrensrechts) Gründen nicht zutrifft, birgt sie erhebliche Nachteile und Gefahren für die Betroffenen. So könnte bei ablehnenden Entscheidungen oder bei zu geringer Leistungsbewilligung Bestandskraft zu Lasten der Vertretenen eintreten, ohne dass sie vom Bescheid überhaupt Kenntnis erlangen müssten oder könnten und ohne dass ein (nicht nur vermutetes) gewillkürtes oder gesetzliches Vertretungsverhältnis besteht. Insbesondere beim Übergang vom Widerspruchsverfahren zur Klageerhebung, für die eine Vertretungsvermutung auch nach Auffassung des BSG nicht mehr angenommen wird, führt dies in der Praxis häufig zu Rechtsverlusten. Der vorliegende Fall zeigt zudem exemplarisch, dass eine Vertretungsvermutung die neben der Entgegennahme von Leistungen auch die Entgegennahme von Bewilligungsbescheiden erfasst, dazu führen könnte, dass Personen mit Erstattungsforderungen konfrontiert werden, die keinerlei Kenntnisse über das Verwaltungsverfahren und deren Verfahrensschritte (Antragstellung, Bewilligung und Auszahlung) hatten und denen die Leistung auch nicht tatsächlich zur Verfügung gestanden haben müsste. Dies könnte auf Grund der Vorschrift des § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II auch Personen treffen, die in keiner unterhaltsrechtlichen Beziehung zum Antragsteller stehen.

60

Vorteilhafte Wirkungen hat die Vertretungsvermutung für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten für die Vertretenen im Vergleich zu einem individuell bekanntgegebenen Verwaltungsakt hingegen nicht. Die Erweiterung ist nicht erforderlich und geeignet, die sozialen Rechte der Betroffenen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB I zu stärken. Mit der Antragsfiktion wird bereits sichergestellt, dass die wesentliche Anspruchsvoraussetzung für den Beginn des Anspruchs erfüllt wird. Solange über den Antrag nicht durch Verwaltungsakt wirksam entschieden ist, bestehen auch keine zeitlichen Grenzen für die Durchsetzung des Anspruchs. Eine Bestandskraft bei Ablehnung der Leistung oder Bewilligung von zu geringen Leistungen kann zu Lasten des Berechtigten nicht eintreten. Für die Rückabwicklung überzahlter Leistungen gäbe eine Vertretungsvermutung dem Vertretenen keine wesentlich bessere Position. Auch wenn der an den antragstellenden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ergangene Bewilligungsbescheid nicht zu Gunsten des vermeintlich Vertretenen wirkt, kann dieser sich im Falle einer nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X gegen ihn gerichteten Erstattungsforderung gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf die Vertrauensschutztatbestände der §§ 45, 48 SGB X berufen.

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2. Soweit mit dem angefochtenen Bescheid in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 die Erstattung eines Betrages von 701,10 Euro verlangt wird, folgt die Rechtswidrigkeit daraus, dass der die bewilligenden Verwaltungsakte teilweise aufhebende Aufhebungsverwaltungsakt vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 durch das vorliegende Urteil aufgehoben wurde (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X) und dem Kläger keine Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind (§ 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X).

62

2.1 Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Die mit den Bescheiden vom 08.02.2012, 27.02.2012, 26.06.2012 und 04.10.2012 ergangenen bewilligenden Verwaltungsakte wurden durch den angefochtenen Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27.04.2016 zwar teilweise aufgehoben. Diese Aufhebung, die angesichts des Fehlens wirksamer an den Kläger gerichteter Bewilligungsbescheide ohnehin ins Leere ging, wurde mit dem vorliegenden Urteil beseitigt, so dass die aus der Aufhebung potenziell resultierende Erstattungspflicht entfällt. Dies gilt unabhängig von der Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung, da eine Berufung des Beklagten keine aufschiebende Wirkung hätte (vgl. § 154 Abs. 1 SGG).

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2.2 Nach § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X sind Leistungen auch zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. Letztere Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, weil der Kläger vom Beklagten für den streitgegenständlichen Zeitraum keine Leistungen erhalten hat. Nach Auswertung der insoweit übereinstimmenden und glaubwürdigen Angaben des Klägers und der Zeugin Frau L… hat der Beklagte die von ihm (vermeintlich) bewilligten Leistungen vollständig auf das Konto der Zeugin überwiesen. Weder lässt sich den Verwaltungsvorgängen Gegenteiliges Entnehmen, noch ist der Beklagte diesem Vortrag entgegengetreten. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Zeugin dem Kläger Leistungen des Beklagten weitergeleitet haben könnte. Nach den übereinstimmenden Angaben des Klägers und der Zeugin hatte der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum mit seinen Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zum allgemeinen Lebensunterhalt der Familie beigetragen, während die Zeugin ihre Einnahmen primär für die Unterkunftskosten aufgewandt hat. Zwar kann angenommen werden, dass der Kläger hierdurch mittelbar von den Leistungen des Beklagten profitiert hat, da er zu den Aufwendungen für die Unterkunft nichts beisteuern musste. Die Erstattungspflicht des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X trifft aber nur denjenigen, der die Leistung unmittelbar von der Behörde erlangt hat. Anders als im Falle des § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann im Falle des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X mangels Verwaltungsakt der Schuldnerkreis für den Erstattungsanspruch nur anhand der tatsächlichen Leistungsbeziehung und nicht anhand des Adressatenkreises eines Bewilligungsbescheides (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 07.07.2011 – B 14 AS 153/10 R –, Rn. 39) bestimmt werden.

64

Die Zeugin Frau L… hat die Leistungen des Beklagten auch nicht gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II mit Wirkung gegen den Kläger entgegengenommen, so dass fingiert werden könnte, dass dieser selbst die Leistungen erhalten hat. Unabhängig von der Frage, ob im vorliegenden Fall die Vertretungsvermutung als widerlegt gelten müsste, bezieht sich die Vermutungsregelung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur auf wirksam bewilligte Leistungen. Denn nur durch eine Bewilligungsentscheidung wird mit Außenwirkung geregelt, für wen die Leistung erfolgt, auf deren Entgegennahme die Vertretungsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB II Anwendung findet

III.

65

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Sie entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

IV.

66

Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

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