Urteil vom Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern - 9/06
Tenor
I.
1. Die §§ 72 bis 77 des Gesetzes über die Funktional- und Kreisstrukturreform des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 2006 (GVOBl. M-V S. 194) sind mit Artikel 72 Absatz 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern unvereinbar.
2. Wegen der Unvereinbarkeit der Vorschriften über die Kreisgebietsreform mit der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist das Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 2006 (GVOBl. M-V S. 194) im Übrigen gegenstandslos, mit Ausnahme der folgenden Vorschriften:
a) Artikel 1 Gesetz über die Funktional- und Kreisstrukturreform des Landes Mecklenburg-Vorpommern:
§§ 59 bis 67; 68 Absatz 2; 69 bis 71; §§ 89 Absatz 1 und 2; 90 Absätze 1, 2 und 4; § 93 Absatz 2 in Verbindung mit Absatz 1; Absatz 5 Sätze 1 und 2; Absatz 6 Sätze 1 und 2; Absätze 7 und 8; § 99 Absatz 1; § 101;
b) Artikel 5 Änderung des Sparkassengesetzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern:
Nummer 2 Buchstaben b und c, jeweils die letzten Satzteile; Nummer 4;
c) Artikel 20 Änderung des Finanzausgleichsgesetzes:
Nummer 8 Buchstabe a Doppelbuchstaben bb und cc; Nummer 14 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb;
d) Artikel 21 Änderung des Wassergesetzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern:
Nummer 1 Buchstaben a und b; Nummern 2 bis 4; Nummern 6 bis 22; Nummer 23 Buchstabe b; Nummer 24 Buchstabe b; Nummer 28 Buchstabe b bis Nummer 30; Nummer 36;
e) Artikel 23 Änderung des Landesnaturschutzgesetzes:
Nummer 1 Buchstaben a, c und d; Nummern 3 bis 7; Nummern 12, 14, 19, 21 und 22;
f) Artikel 29 In-Kraft-Treten, Außer-Kraft-Treten, Übergangsvorschriften:
Absatz 1, soweit er sich auf unter a) bis e) genannte Vorschriften bezieht; Absätze 2 und 3.
II.
Die Verfahren sind kostenfrei. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat den Beschwerdeführern und den Antragstellern des Normenkontrollverfahrens ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
- 1
Gegenstand der zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbundenen Verfahren sind gesetzliche Vorschriften über die Kreisgebietsreform. Durch sie werden mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage im Jahre 2009 die bisherigen zwölf Landkreise aufgelöst. Aus ihnen werden fünf neue Kreise gebildet, in die die bestehenden sechs kreisfreien Städte eingegliedert werden. Gegen die Kreisgebietsreform wenden sich in den verbundenen Verfahren elf Landkreise mit Verfassungsbeschwerden und 24 Abgeordnete des 4. Landtages mit einem Antrag auf abstrakte Normenkontrolle.
I.
- 2
1. Das Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23.05.2006 (GVOBl. M-V S. 194), verkündet am 31.05.2006, – im Folgenden: Verwaltungsmodernisierungsgesetz, VerwModG M-V – enthält als Art. 1 das Gesetz über die Funktional- und Kreisstrukturreform des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Funktional- und Kreisstrukturreformgesetz – FKrG M-V). Dessen §§ 72 bis 77 sind Gegenstand der Verfahren. Sie lauten:
- 3
§ 72
Auflösung der Landkreise und Bildung von Kreisen unter Eingliederung der kreisfreien Städte
Die bestehenden zwölf Landkreise werden aufgelöst. Aus ihnen werden fünf neue Kreise gebildet, in die die bestehenden sechs kreisfreien Städte eingegliedert werden.
- 4
§ 73
Kreis Mecklenburgische Seenplatte
(1) Es wird ein Kreis Mecklenburgische Seenplatte gebildet.
(2) Ihm gehören vorbehaltlich des Wechsels von Gemeinden nach § 78 die Gemeinden der bisherigen Landkreise Demmin, Mecklenburg-Strelitz und Müritz sowie die bisher kreisfreie Stadt Neubrandenburg an.
(3) Sitz des Kreises ist die Stadt Neubrandenburg. Der Kreistag kann durch Beschluss bis zum 30. Juni 2010 mit einer Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kreissitz festlegen.
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§ 74
Kreis Mittleres Mecklenburg-Rostock
(1) Es wird ein Kreis Mittleres Mecklenburg-Rostock gebildet.
(2) Ihm gehören vorbehaltlich des Wechsels von Gemeinden nach § 78 die Gemeinden der bisherigen Landkreise Bad Doberan und Güstrow sowie die bisher kreisfreie Stadt Hansestadt Rostock an.
(3) Sitz des Kreises ist die Hansestadt Rostock. Der Kreistag kann durch Beschluss bis zum 30. Juni 2010 mit einer Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kreissitz festlegen.
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§ 75
Kreis Nordvorpommern-Rügen
(1) Es wird ein Kreis Nordvorpommern-Rügen gebildet.
(2) Ihm gehören vorbehaltlich des Wechsels von Gemeinden nach § 78 die Gemeinden der bisherigen Landkreise Nordvorpommern und Rügen sowie die bisher kreisfreie Stadt Hansestadt Stralsund an.
(3) Sitz des Kreises ist die Hansestadt Stralsund. Der Kreistag kann durch Beschluss bis zum 30. Juni 2010 mit einer Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kreissitz festlegen.
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§ 76
Kreis Südvorpommern
(1) Es wird ein Kreis Südvorpommern gebildet.
(2) Ihm gehören vorbehaltlich des Wechsels von Gemeinden nach § 78 die Gemeinden der bisherigen Landkreise Ostvorpommern und Uecker-Randow sowie die bisher kreisfreie Stadt Hansestadt Greifswald an.
(3) Sitz des Kreises ist die Hansestadt Greifswald. Der Kreistag kann durch Beschluss bis zum 30. Juni 2010 mit einer Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kreissitz festlegen.
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§ 77
Kreis Westmecklenburg
(1) Es wird ein Kreis Westmecklenburg gebildet.
(2) Ihm gehören vorbehaltlich des Wechsels von Gemeinden nach § 78 die Gemeinden der bisherigen Landkreise Ludwigslust, Nordwestmecklenburg und Parchim sowie die bisher kreisfreien Städte Landeshauptstadt Schwerin und Hansestadt Wismar an.
(3) Sitz des Kreises ist die Landeshauptstadt Schwerin. Der Kreistag kann durch Beschluss bis zum 30. Juni 2010 mit einer Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kreissitz festlegen.
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Nach den im Gesetzgebungsverfahren verwendeten Daten weisen die neuen Kreise die folgenden Flächen und Einwohnerzahlen (Stand 30.06.2004) auf:
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- Westmecklenburg 6.997 qkm mit 498.372 Einwohnern;
- Mittleres Mecklenburg-Rostock 3.601 qkm mit 425.562 Einwohnern;
- Mecklenburgische Seenplatte 5.809 qkm mit 311.764 Einwohnern;
- Nordvorpommern-Rügen 3.182 qkm mit 246.214 Einwohnern;
- Südvorpommern 3.584 qkm mit 244.092 Einwohnern.
- 11
Das Land Mecklenburg-Vorpommern umfasst 23.173 qkm mit 1.726.004 Einwohnern.
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2. a) Das Funktional- und Kreisstrukturreformgesetz regelt in seinem Teil 1 die Aufgabenübertragung vom Land auf kommunale Aufgabenträger, als Funktionalreform I bezeichnet. Durch die Kapitel 1 bis 7 werden, nach Geschäftsbereichen der Ministerien (ausgenommen das Finanzministerium und das Justizministerium) gegliedert, Aufgaben übertragen, zumeist auf die Kreise. In Kapitel 8 legt § 41 FKrG M-V fest, welche Aufgaben im eigenen Wirkungskreis erfüllt werden. § 42 bestimmt die Aufgaben, die der Landrat als untere staatliche Verwaltungsbehörde wahrnimmt. Die übrigen Aufgaben fallen nach § 43 Abs. 1 in den übertragenen Wirkungskreis. In § 45 ist festgelegt, dass staatliche Ämter und die regionalen Planungsverbände aufgelöst werden.
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In Teil 2 des Funktional- und Kreisstrukturreformgesetzes ist eine interkommunale Aufgabenneuzuordnung, als Funktionalreform II bezeichnet, geregelt. Nach Kapitel 1 (§ 47) sind die Aufgaben der Landkreise die Aufgaben der neugebildeten Kreise. Kapitel 2 (§§ 48 ff.) nennt die Aufgaben, welche die großen kreisangehörigen Städte wahrnehmen oder wahrnehmen können. Kapitel 3 (§§ 59 ff.) legt die Übertragung von Aufgaben auf die Ämter und amtsfreien Gemeinden fest. Kapitel 4 (§§ 69 ff.) bestimmt insbesondere die Aufgabenarten.
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Teil 3 des Funktional- und Kreisstrukturreformgesetzes enthält außer den oben angeführten §§ 72 bis 77 insbesondere Überleitungsvorschriften zum Wechsel in die neue territoriale Struktur.
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Teil 4 ist mit „Übergreifende Regelungen“ überschrieben. Dort finden sich Vorschriften unter anderem zum Personalübergang und zur Finanzierung. Durch § 96 FKrG M-V werden die Ämter und amtsfreien Gemeinden verpflichtet, Anlaufstellen einzurichten, die den Einwohnern ermöglichen, in allen Verwaltungsangelegenheiten mit dem Land und den kommunalen Körperschaften auf deren Verwaltungsleistungen auf elektronischem Wege zuzugreifen.
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b) Durch Art. 2 bis 28 VerwModG M-V werden Landesgesetze geändert. Die Änderungen der Kommunalverfassung - KV M-V - ergeben sich aus Art. 3. Durch dessen Nr. 3 wird § 7 KV M-V dahin neu gefasst, dass der Status der großen kreisangehörigen Stadt eingeführt wird. Große kreisangehörige Städte sind die sechs bisher kreisfreien Städte. Sie erfüllen neben ihren Aufgaben als amtsfreie Gemeinden die Aufgaben der Kreise, die ihnen durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zugewiesen werden. Durch Art. 3 Nr. 17 VerwModG M-V wird § 105 Abs. 4 KV M-V dahin ergänzt, dass den Fraktionen der Kreistage für den Aufwand, der ihnen durch die Wahrnehmung ihrer Aufgaben entsteht, Zuwendungen aus dem Kreishaushalt zu gewähren sind und dass dabei auch der Notwendigkeit angemessener Unterstützung durch hauptamtliches Personal Rechnung zu tragen ist. Durch Nr. 18 ist bestimmt, dass der Landrat bei der Durchführung der Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises sich mit dem Kreistag oder seinen Ausschüssen beraten kann.
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c) In Art. 29 VerwModG M-V sind Regelungen über das Außer-Kraft-Treten, über das Übergangsrecht und insbesondere differenziert über das In-Kraft-Treten der verschiedenen Vorschriften des Artikelgesetzes getroffen. Abs. 1 bis 3 nennen Vorschriften, die am 01.08.2006 oder am 01.11.2006 in Kraft getreten sind. Zu ihnen gehören aus Art. 1 fast alle Regelungen zur Funktionalreform II, soweit auf die Ämter und amtsfreien Gemeinden Aufgaben übertragen werden, sowie Überleitungsvorschriften zum Wechsel in die neue Struktur. Ferner sind Vorschriften zur Änderung des Sparkassengesetzes (Art. 5), des Finanzausgleichsgesetzes (Art. 20), des Wassergesetzes (Art. 21) und des Landesnaturschutzgesetzes (Art. 23) aufgeführt. Nach Abs. 4 treten die Funktionalreform I und – soweit nicht vorher in Kraft getreten – Art. 2 bis 8 und 10 bis 28 am 01.10.2009 in Kraft, wenige Vorschriften des Art. 1 am 01.01.2015. Im Übrigen tritt nach Abs. 5 das Gesetz mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage im Jahre 2009 in Kraft.
- 18
3. a) Auf Grund des Gesetzes über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der örtlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 23.07.1952 (GBl. DDR S. 613) traten an die Stelle der bis dahin 20 Landkreise und vier kreisfreien Städte im Land Mecklenburg (in etwa dem heutigen Land Mecklenburg-Vorpommern entsprechend) 31 Landkreise und sechs kreisfreie Städte mit dem Ziel, sie in den Dienst der Lenkung der Wirtschaft und der zentralen Planung in der DDR zu stellen.
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b) Durch das Gesetz zur Neuordnung der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Landkreisneuordnungsgesetz - LNOG) vom 01.07.1993 (GVOBl. M-V S. 631), in Kraft getreten 1994, wurde die Zahl der Landkreise auf zwölf reduziert; die sechs kreisfreien Städte blieben ohne Änderung ihres Gebietsbestandes erhalten. Die Neugliederung wurde durch zwei Gutachten vorbereitet.
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Nach dem Gesetzentwurf der Landesregierung vom 06.01.1993 (LT-Drs. 1/2681) war die Neuordnung durch elf Prinzipien geleitet. Zu ihnen zählten beispielsweise: Regeleinwohnerzahl von mindestens 100.000; Kreissitze in Mittelzentren des ländlichen Raumes; Kreisfreiheit grundsätzlich nur für Oberzentren ab 100.000 Einwohnern; Kontroll- und Koordinationsspanne in einem Landkreis nicht wesentlich über 20 Verwaltungseinheiten. Im Ergebnis des parlamentarischen Verfahrens wurden die Prinzipien im Wesentlichen eingehalten. Indessen blieb auch den kreisfreien Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern ihr Status erhalten.
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4. Dem Gesetzgebungsverfahren zum Verwaltungsmodernisierungsgesetz gingen Vorarbeiten der Landesregierung und des Landtages voraus.
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a) Die Landesregierung beschloss am 21.01.2003 „Eckpunkte zur Reform der öffentlichen Verwaltung in Mecklenburg-Vorpommern“ und leitete sie dem Landtag zu (LT-Drs. 4/205 v. 04.02.2003). Dort ist die hohe Bedeutung regionaler Perspektiven für die Wirtschaft und die Landesverwaltung hervorgehoben. Als Ziele einer Verwaltungsreform sind angegeben: mehr Bürgernähe; weniger Bürokratie; mehr Leistungsfähigkeit des Personals und der Organisation; kostengünstige Aufgabenerledigung; Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Die Probleme unzureichender Wahrnehmung der Aufgaben kommunaler Selbstverwaltung durch die gegenwärtigen Landkreise und kreisfreien Städte und die durch die bisherige Zahl der Landkreise gesetzten Grenzen für die Übertragung von Aufgaben seien durch Bildung von Regionalkreisen unter Aufhebung der Kreisfreiheit kreisfreier Städte zu lösen. Die Regionalkreise sollten jeweils über ein leistungsfähiges Oberzentrum verfügen. Als Arbeitsgrundlage, die im weiteren Verfahren ergebnisoffen zu überprüfen sei, werde davon ausgegangen, die bisherigen Landkreise und kreisfreien Städte zu vier Regionalkreisen, die im Wesentlichen den bestehenden vier Planungsregionen entsprächen, zusammenzufassen. Es solle Einräumigkeit der Verwaltung durch deckungsgleiche örtliche Zuständigkeiten der kommunalen Verwaltungsträger und der unteren Landesbehörden hergestellt werden.
- 23
b) Parallel dazu bildete der Innenminister auf Beschluss des Kabinetts vom 21.01.2003 eine interministerielle Arbeitsgruppe - im Folgenden: IMAG -. Sie erarbeitete unter Beteiligung aller Ressorts, des Landesrechnungshofes, der kommunalen Landesverbände und von Vertretern der Personalräte auf Grund eines Vier-Kreis-Modells Empfehlungen für eine Aufgabenverlagerung vom Land auf die kommunale Ebene. Diese folgten dem Grundsatz, dass nur solche Verwaltungsaufgaben auf Landesebene zu erfüllen seien, die dort aus Gründen des Rechts oder der Zweckmäßigkeit, der Effizienz oder der notwendigen politischen Steuerung wahrgenommen werden müssten. Im Bericht der IMAG (LT-Drs. 4/1210, Anlage 1) finden sich für alle Ressorts tabellarische Übersichten der für eine Verlagerung vorgesehenen Aufgaben.
- 24
c) Am 12.05.2004 (PlenProt. 4/37) beschloss der Landtag eine „Grundkonzeption einer umfassenden Verwaltungsmodernisierung und Funktionalreform“ (LT-Drs. 4/1184). Als Zweck der Reform wurde herausgestellt, für lange Zeit die Qualität der öffentlichen Verwaltung nachhaltig zu verbessern und zugleich die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen, die nach Art. 3 Abs. 2 LV dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben diene, zu stärken. Eine Strukturreform unter Einschluss von Funktionalreform, Organisationsoptimierung, Deregulierung und eGoverment sei geboten.
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Als Ziele der in Stufen bis zur Kommunalwahl 2009 umzusetzenden Verwaltungsmodernisierung wurden herausgestellt:
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- Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, insbesondere der kommunalen Mandatsträger und Kreistage, Stadt- und Gemeindevertretungen, sowie Förderung der Chancen der bürgerschaftlichen Mitwirkung und des bürgerschaftlichen Engagements;
- Steigerung der Leistungsfähigkeit der Verwaltung mit effizienter Behördenstruktur und Verminderung der Kosten öffentlicher Dienstleistungen;
- Schaffung möglichst transparenter, einfacher Verwaltungsstrukturen mit klarer Zuordnung von Kompetenz und administrativer sowie politischer Verantwortung;
- Abbau bürokratischer Hemmnisse durch Deregulierung und Aufgabenkritik;
- Verbesserung der Bürgernähe möglichst aller Dienstleistungen des öffentlichen Sektors durch Vereinfachung und Verkürzung der Entscheidungsstrukturen.
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Zur Umsetzung dieser Ziele wurden folgende Grundsätze aufgestellt: Sicherung und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements; Einräumigkeit der Verwaltung; Aufgabenübertragung nach unten; demokratische Legitimation; Einheit der Verwaltung.
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Unter den Maßnahmen ist die Neuordnung der Aufbau- und Ablauforganisation der Landesregierung genannt. Die Anzahl der Landesoberbehörden sei durch Zusammenlegung und Bündelung von Aufgaben auf wenige Zentralbehörden zu reduzieren. Die Vollzugsaufgaben sollten grundsätzlich in die kommunale Ebene übergeleitet werden. Die Anzahl der Ministerien werde reduziert. Möglichst viele Landesaufgaben – insbesondere der aufzulösenden unteren Landesbehörden – seien ganz oder teilweise auf die Kreise, die größeren kreisangehörigen Städte oder die Gemeinden und Ämter zu übertragen. Für den kommunalen Raum sei zu entscheiden, auf welcher Ebene die bisherigen und die neu hinzukommenden kommunalen Aufgaben am besten wahrgenommen würden.
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Mit der Zielrichtung, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken, sei zu entscheiden, welche bisherigen Landesaufgaben in den pflichtigen oder freiwilligen Selbstverwaltungsbereich zu übertragen seien und welche Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung oder den Landräten als untere staatliche Verwaltungsbehörde zugewiesen würden. Unter Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes sei der eigene Wirkungskreis der Kommunen zu stärken. Die Informationspflichten der hauptamtlichen Verwaltungsleitung oder die Rahmenkontrolle durch Kreistage bzw. Gemeindevertretungen könne erweitert werden. Eine umfassende Verlagerung von Landesaufgaben erfordere die Entwicklung zu Regionalkreisen. Damit würden auch Mängel der Kreisgebietsreform von 1993/94 beseitigt. Zur Kompensation möglicher Demokratiedefizite seien die Anzahl der Mitglieder der Kreistage, die weitere Professionalisierung der Arbeit der Kreistagsfraktionen durch hauptamtliche Geschäftsstellen und eine verbesserte finanzielle Ausstattung zu regeln. Zu den neuen Funktionen der Kreise gehöre die Regionalplanung, die damit unmittelbar demokratisch legitimiert werde.
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d) Der Innenminister unterrichtete den Landtag durch eine Zusammenstellung von Beiträgen und Untersuchungen zur Vorbereitung der Verwaltungsreform (LT-Drs. 4/1210 vom 25.05.2004). Dort ist in der Zusammenfassung (Anl. 3) gesagt, das Gesamtprojekt Verwaltungsreform einschließlich des Teilbereichs Kreisgebietsreform beruhe auf der Gestaltungsbefugnis des Parlaments und der Organisationshoheit der Regierung. Da eine umfangreiche Funktionalreform Kreise mit regionalem Zuschnitt voraussetze, könne das Regionalkreismodell als einziges umfassende Gründe des öffentlichen Wohls für sich in Anspruch nehmen.
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e) Mit Beschluss vom 02.11.2004 hat die Landesregierung den Ressortentwurf eines Verwaltungsmodernisierungsgesetzes zur Kenntnis genommen und den Innenminister beauftragt, diesen in die Anhörung der kommunalen Körperschaften und Verbände zu geben. Das Innenministerium gab am 12.11.2004 den Landkreisen, den kreisfreien Städten, den Ämtern, den amtsfreien und den amtsangehörigen Gemeinden sowie 125 sonstigen Körperschaften und Verbänden Gelegenheit, sich bis zum 28.02.2005 schriftlich zu äußern. Darauf gingen 571 Stellungnahmen ein.
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5. a) Am 18.05.2005 leitete die Landesregierung dem Landtag den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern zu (LT-Drs. 4/1710). Aus der allgemeinen Begründung (S. 99 bis 276) ist hervorzuheben:
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In den Eckpunkten habe die Landesregierung eine umfassende Neustrukturierung der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen konzipiert, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Der Landtag habe sich durch seine Grundkonzeption auf Ziele, Grundsätze und Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung festgelegt.
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Alsdann ist die Lage des Landes beschrieben. Dabei werden der Rückgang der Wirtschaftsleistung und die Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch den demografischen Wandel herausgestellt. Der Bevölkerungsrückgang sei dramatisch, insbesondere in den Planungsregionen Mecklenburgische Seenplatte und Vorpommern. Ebenso verändere sich deutlich die Altersstruktur. Dies wirke sich unmittelbar auf die Finanzierbarkeit des öffentlichen Sektors und damit die Existenzfähigkeit der Verwaltungen aus. Der Haushalt des Landes sei durch eine strukturelle Schieflage gekennzeichnet. Die Existenzfähigkeit des Landes erfordere, bis zum Jahr 2020 seine Haushaltsstruktur an diejenigen westlicher Flächenländer unter strikter Begrenzung der laufenden Ausgaben anzupassen.
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Bei den Kommunen deckten die Einnahmen nicht mehr die Ausgaben. Gerade die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben stünden unter starkem Konsolidierungsdruck, so dass von einer permanenten Aushöhlung kommunaler Selbstverwaltung gesprochen werden könne. Kommunen, die mangels Leistungskraft funktionsentleert seien, entsprächen nicht dem verfassungsrechtlichen Leitbild. Die Zusammenführung von Aufgaben und damit deren optimale Erfüllung unter Ausschöpfung von Synergieeffekten sollten die Selbstverwaltung stärken. Die bisherige Kreisstruktur sei nicht zukunftsfähig. Eine Analyse des Innenministeriums habe ergeben, dass bei den einwohnerstarken Landkreisen der Personalaufwand je Einwohner durchweg und teilweise erheblich geringer sei.
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Das Land habe jetzt, nicht erst 2019, seine Vorsorgeverantwortung wahrzunehmen, wenn es seine Eigenständigkeit bewahren wolle. Auf allen Ebenen müssten die Kosten weiter reduziert und die Struktur verschlankt und zugleich deutlich gestärkt werden. Das Land habe die kommunale Selbstverwaltung zu achten, sei aber auch gegenüber jedem einzelnen Bürger für dessen Zukunft verantwortlich.
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Die kommunale Selbstverwaltung diene nach Art. 3 Abs. 2 LV dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben. Die Existenz sowie die Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion der Kreise seien verfassungsrechtlich garantiert. Es handele sich um eine Mehrfachneugliederung der Kreise. Sie sei zulässig, da auf die seit 1994 beschleunigt veränderten Verhältnisse angemessen durch eine Gesamtkonzeption reagiert werden müsse. Die vorgesehene Kreisgröße in Verbindung mit den wahrgenommenen Aufgaben sprenge nicht das Leitbild eines Kreises als Gemeindeverband.
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Die Kreisstrukturreform steigere die Effizienz und Verwaltungskraft der Kreise und schaffe zukunftsfähige und nachhaltige Kreisstrukturen, so dass zugleich die kommunale Selbstverwaltung gestärkt werde. Die Befugnisse der Kreistage würden vermehrt. Den Kreisen mit gesteigerter Leistungskraft würden wieder Mittel für Gestaltungsspielräume gegeben. Die Selbstverwaltung werde durch Übertragung von Aufgaben sowie durch erweiterte Kontrollrechte der Kreistage gestärkt.
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Ausgehend von der Grundkonzeption des Landtages orientiere sich der Gesetzentwurf an raumordnerischen Gesichtspunkten. Die Festlegung der Planungsregionen durch das Landesplanungsgesetz bilde einen sachgerechten und nachvollziehbaren Ausgangspunkt für die Kreisstrukturreform. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die derzeitigen unteren Landesbehörden zumeist eine Struktur von vier bis sechs aufwiesen. Im Hinblick darauf sei die Bildung von mehr als fünf Kreisen im Rahmen der Funktionalreform keine Alternative. Da die umfassende Verwaltungsreform leistungsstarke Kreise ermöglichen wolle, erschließe sich der Sinn für eine Minimalreform, zum Beispiel aus etwa acht Kreisen, nicht. Damit würde ihre Leistungskraft nur in Maßen – wenn überhaupt – gesteigert. Bei mehr als fünf Kreisen wäre die vollständige Integration der kreisfreien Städte kaum mehr möglich. Auch könnte dann nicht die in der Grundkonzeption vorgesehene Einheit von Planungs-, Entscheidungs-, Vollzugs- und Kontrollräumen geschaffen werden. Eine nur geringe Vergrößerung der Landkreise würde weder zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung noch zu einer effizienteren und transparenteren Verwaltungsstruktur führen. Soweit den Kreisen neue Aufgaben im übertragenen Wirkungskreis zugeordnet würden, dürfe die Kontrollfunktion der Kreistage nicht unterschätzt werden, zumal die Kontrolle des Haushalts alle Bereiche der Verwaltung umfasse. Die Anzahl der Kreistagsmandate werde erhöht. Die Einkreisung der kreisfreien Städte entspreche dem Gesamtkonzept. Die Statusänderung verletze für die betroffenen Städte nicht den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung, sondern berühre allenfalls deren Randbereich.
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Als Folge der Bündelung bei den Kreisen könnten zahlreiche untere staatliche Sonderbehörden aufgelöst werden. Es würden leistungsstarke Bündelungsbehörden geschaffen, was auch der Selbstverwaltung der Kreise zugute komme. Es ergäben sich erhebliche Einsparungen und Effizienzsteigerungen. Das gegenwärtig fassbare Potenzial für Einsparungen werde für die kommunale Ebene auf 80 bis 100 Mio Euro geschätzt. Unter Einbeziehung der Landesebene sei mit nachhaltig erzielbaren Einsparungen von mehr als 180 Mio Euro pro Jahr zu rechnen. Mehrkosten bei den Kreisen, etwa wegen ihrer Investitionen, müssten hingenommen werden, um nicht das gesamte Reformvorhaben scheitern zu lassen.
- 41
b) Am 20.05.2005 fand die 27. Sitzung des bereits am 27.11.2002 vom Landtag eingesetzten Sonderausschusses „Verwaltungsmodernisierung und Funktionalreform“ statt. Dort referierte der Minister für Arbeit, Bau und Landesentwicklung aus der Sicht der obersten Landesplanungsbehörde über die Kreisstrukturreform. Er stellte die Prüfung von alternativen Modellen einer Kreisgebietsreform dar. Im ersten Block wurde die Einkreisung von kreisfreien Städten in die bestehenden zwölf Landkreise erwogen. In einem mittleren Block wurde untersucht, die Kreisfreiheit von Rostock und Schwerin bestehen zu lassen und neun, acht oder sieben Landkreise zu schaffen. Den dritten Block bildete die Untersuchung von sechs + eins (Rostock) bis vier + null. Im mittleren Block hatte sich das Modell acht + zwei als Grundmuster herausgestellt. Für den dritten Block habe sich aus rein raumordnerischer Sicht ergeben, das Vier-Kreis-Modell einzubringen. Die Entscheidung könne allerdings nicht nur raumordnerisch und regionalpolitisch getroffen werden, sondern sie müsse auch kommunalpolitischen und finanzpolitischen Belangen sowie der kommunalen Selbstverwaltung Rechnung tragen.
- 42
In der gleichen Sitzung wurde von der Landesregierung das bei ihrer Meinungsbildung herangezogene Seitz-Gutachten „Die ökonomischen und fiskalischen Effekte der Verwaltungsreform in Mecklenburg-Vorpommern“ erörtert.
- 43
c) In der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs vom 08.06.2005 (PlenProt. 4/59) überwies der Landtag den Gesetzentwurf an den Sonderausschuss Verwaltungsmodernisierung und Funktionalreform zur federführenden Beratung.
- 44
d) Der Sonderausschuss beschloss am 10.06.2005 eine Anhörung und sandte am 15.06.2005 insgesamt 1069 Schreiben an die kommunalen Gebietskörperschaften, die Ämter, 126 Verbände, Einrichtungen und zwei Professoren mit Gelegenheit zur Äußerung bis zum 16.09.2005. Es gingen 273 Stellungnahmen ein, zusätzlich 17 unaufgeforderte Stellungnahmen. Sie wurden allen Abgeordneten in elektronischer Form und den Fraktionen in Papierform zugänglich gemacht. Der Sonderausschuss stellte die Äußerungen auf 134 Themenblättern mit 520 Seiten zusammen. Sie sind nach den Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes geordnet; ferner finden sich Übersichten zu „Allgemein“, „Finanzen allgemein“ und „Seitz-Gutachten“ sowie am Schluss eine Übersicht über die Stellungnahmen. Die ausgefüllten Themenblätter wurden durch den Zwischenbericht des Sonderausschusses vom 13.01.2006 (LT-Drs. 4/2080) den Abgeordneten mitgeteilt.
- 45
Von Dezember 2005 bis Februar 2006, insbesondere am 27.01.2006 und am 03.02.2006, hörte der Ausschuss mündlich 150 kommunale Vertreter, Verbandsvertreter und Sachverständige.
- 46
Am 27.03.2006 legte der Sonderausschuss seine Beschlussempfehlung mit Bericht (LT-Drs. 4/2163) vor. Darin ist eine Zusammenstellung der Äußerungen der Angehörten enthalten.
- 47
e) Die Zweite Lesung fand am 05.04.2006 (PlenProt. 4/74) statt. Das Gesetz wurde in namentlicher Abstimmung mit 37 gegen 33 Stimmen beschlossen.
II.
- 48
Elf Landkreise haben – teilweise gleichzeitig, teilweise nacheinander – am 23.08., 28.08. und 06.12.2006 Verfassungsbeschwerde erhoben. Am 07.09.2006 haben 24 Abgeordnete des Landtages einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gestellt.
- 49
1. Die Beschwerdeführer und die Antragsteller sehen durch die Auflösung der Landkreise gemäß § 72 Satz 1 FKrG M-V und die Neubildung von Kreisen gemäß § 72 Satz 2 und §§ 73 bis 77 FKrG M-V die in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gewährleistete kommunale Selbstverwaltung der Kreise verletzt.
- 50
Die Beschwerdeführer beantragen festzustellen, dass § 72 FKrG M-V nichtig ist. Darüber hinaus begehren die Beschwerdeführer, von den §§ 73 bis 77 FKrG M-V jeweils diejenige Vorschrift für nichtig zu erklären, durch welche ihr Gebiet in einen neuen Kreis einbezogen wird. Die Antragsteller des Normenkontrollverfahrens beantragen, die Nichtigkeit der §§ 72 bis 77 sowie der §§ 79, 98, 100 FKrG M-V festzustellen.
- 51
2. Die Landkreise Bad Doberan, Güstrow, Nordwestmecklenburg und Parchim heben hervor, es sei zwar erforderlich, im Hinblick auf die Situation der öffentliche Haushalte und auf die absehbaren demografischen Entwicklungen grundlegende Veränderungen vorzunehmen, die auch an den Grenzen der Landkreise nicht Halt machen könnten. Sie stellen aber heraus, dass die fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Steigerung der Effizienz bei der Erfüllung übertragener Aufgaben gesehene Neugliederung schwerlich in Einklang zu bringen sei mit dem Grundverständnis des Bundesverfassungsgerichts, wonach die gesetzliche Aufgabenverteilung zwischen Staat und Kommunen stets mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Verwaltungseffizienz und Bürgernähe zu lösen sei.
- 52
Bei einer Mehrfachneugliederung mit Konzeptänderung, die hier vorliege, sei dem Vertrauensschutz besonders Rechnung zu tragen. Er habe als überlagernder Prüfungsmaßstab Bedeutung für die gesamte verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes. Dem genüge die Gebietsreform nicht. Der Gesetzgeber habe jedenfalls gegen die bei einer Mehrfachneugliederung bestehende Pflicht verstoßen, die Ergebnisse der Anhörung ordnungsgemäß bei der Verabschiedung der Kreisgebietsreform zu berücksichtigen. Die Anhörung habe lediglich der Form halber stattgefunden, was sich daran zeige, dass einen Tag vor der mündlichen Anhörung der Kreistagspräsidenten am 03.02.2006 in der Presse berichtet worden sei, die Koalitionsfraktionen hätten sich auf das Fünf-Kreis-Modell verständigt. Die Entscheidung über Art und Umfang der Kreisgebietsreform habe damit festgestanden. Bei der Bestimmung des eine Kreisneugliederung rechtfertigenden öffentlichen Wohls sei von einem kommunalbezogenen Begriffsverständnis auszugehen.
- 53
Der augenscheinlichste Fehler der beschlossenen Kreisstrukturreform sei das Fehlen einer Defizitanalyse. Es genüge nicht, dass die Gebietsreform mit Defiziten des Landes und der Verhinderung von Schäden in der Zukunft gerechtfertigt werde. Die Landesregierung vermöge in der Gesetzesbegründung nicht zu belegen, dass die heutigen Landkreise einer positiven Entwicklung des Landes entgegenstünden.
- 54
Der Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht der Landkreise sei unverhältnismäßig. Die Landesregierung berufe sich immer wieder auf die Notwendigkeit, die Existenzfähigkeit des Landes und die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung zu sichern. Diese Zwecke dienten durchaus dem Gemeinwohl. Die Geeignetheit der Kreisgebietsreform dafür sei aber nicht plausibel gemacht. Die Kreisgebietsreform sei nicht erforderlich. Alternative Lösungen seien nicht hinreichend beachtet worden. Eine Zusammenlegung zu kleineren Einheiten hätte der Gesetzgeber zumindest intensiv prüfen müssen und nur mit ausführlicher und konkreter Begründung ablehnen dürfen. Aufgaben könnten auch in der bisherigen Gebietsstruktur auf die Landkreise übertragen werden.
- 55
Der entscheidende Mangel des Gesetzes sei, dass der Gesetzgeber die zu berücksichtigenden Belange der betroffenen Landkreise nur unzureichend ermittelt und gewürdigt habe. Die negativen Auswirkungen auf die einzelnen Kreise würden nicht hinreichend beachtet. Ferner seien die Aussagen zu den möglichen Einsparungen auf Kreisebene äußerst zweifelhaft.
- 56
Die neuen Kreise seien keine Kreise im Sinne der Landesverfassung. Nach den Anteilen von Fläche und Bevölkerung im Land wichen sie nach oben beträchtlich von den Gegebenheiten in den anderen Flächenländern der Bundesrepublik ab. Die gestiegene Mobilität und die verbesserte Infrastruktur gäben dafür keine hinreichende Rechtfertigung. Die geplanten Anlaufstellen könnten das nicht ausgleichen. In ihrer Ausdehnung und Bevölkerungszahl stellten die fünf Großkreise Regionalkreise dar, die dem verfassungsrechtlichen Leitbild des Kreises nicht mehr gerecht würden, sondern denen das Leitbild einer Planungs- und Verwaltungsregion zu Grunde liege. Ehrenamtliches Engagement und bürgerschaftliche Mitwirkung würden erheblich leiden. Der Eingriff werde noch dadurch vertieft, dass Landesaufgaben im übertragenen Wirkungskreis an die Kreise gegeben würden. Es überwiege eindeutig der staatliche Einfluss auf die Selbstverwaltung. Endlich würden die neuen Kreise jeweils so viele Ämter und Gemeinden umfassen, dass die Aufsichtsfunktion nicht mehr hinreichend wahrgenommen werden könne.
- 57
Das Demokratieprinzip werde verletzt: Die einzelnen Mitglieder der Kreistage seien kaum mit den örtlichen Gegebenheiten des gesamten Kreisgebiets vertraut. Sie müssten erheblich größere Entfernungen zurücklegen, um zum Kreissitz zu gelangen. Die Anzahl der Kreistagsmitglieder verringere sich im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Schließlich komme es zu einer mit der Selbstverwaltung nicht vereinbaren Professionalisierung auf Kreistagsebene. Es verstoße gegen das Gewaltenteilungskonzept, dass gemäß Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V die angegriffenen Vorschriften mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage im Jahre 2009, mithin zu einem nicht parlamentarisch bestimmten Termin, in Kraft träten.
- 58
Der Landkreis Bad Doberan hält auch Art. 3 Nr. 20 Buchst. a VerwModG M-V für verfassungswidrig. Durch diese Vorschrift wird § 118 Abs. 1 KV M-V dahin neu gefasst, dass die Kreise hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte in Vollzeit mit Sachbearbeiterinnen in Vollzeit beschäftigen müssen.
- 59
3. Die Landkreise Ostvorpommern und Rügen machen im Wesentlichen geltend:
- 60
Die Anhörung habe den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt. Vielmehr habe sich die Landesregierung von vornherein auf ein Konzept festgelegt, ohne denkbare Alternativen zu prüfen. Zu keiner Zeit sei die Verwaltungsreform ergebnisoffen diskutiert worden. Zwar sei den Landkreisen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden; indessen hätten die Landesregierung und der Landtag sich mit deren Äußerungen nicht in erkennbarer Weise auseinandergesetzt.
- 61
Dem öffentlichen Wohl entspreche eine Verwaltungs- und Gebietsreform nur, wenn die reformierte Verwaltung besser arbeite. Zur Rechtfertigung reiche nicht die bloße Behauptung, die Verwaltung werde nach der Reform optimal arbeiten. Die Reform verstehe den Kreis als Planungsregion. Das sei mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild des Kreises nicht zu vereinbaren. Der Kreis müsse, da er Gemeindeverband sei, von den Gemeinden her betrachtet werden. Dabei sei unrichtig, dass es keinen originären und garantierten Selbstverwaltungsbereich der Kreise gebe, wie die Begründung des Gesetzentwurfs sage. Vielmehr bildeten die ihnen in den Kommunalverfassungen – in Mecklenburg-Vorpommern durch die §§ 88 und 89 KV M-V – zugewiesenen Aufgaben einen Kernbestand an Kreisaufgaben, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehe.
- 62
Die in Mecklenburg-Vorpommern neu zu bildenden Kreise könnten schon auf Grund ihrer Größe nicht mehr als Kreise im verfassungsrechtlichen Sinn angesprochen werden. Sie wichen in der absoluten Einwohnerzahl und dem Anteil an der Landesbevölkerung evident von allen bekannten Größenordnungen ab. Dasselbe gelte für ihre flächenmäßige Ausdehnung. Die künftigen Kreise hätten die Aufsicht über 20 bis 36 Ämter und amtsfreie Gemeinden. Zwar lasse sich aus der Verfassung keine exakte Mindestzahl für Kreise in einem Bundesland ableiten. Unzutreffend sei jedoch, dass es überhaupt keine verfassungsrechtlichen Vorgaben für deren Größe gebe.
- 63
Durch die §§ 3 bis 46 FKrG M-V würden zahlreiche öffentliche Aufgaben auf die Kreise im übertragenen Wirkungskreis oder auf die Landräte als untere staatliche Verwaltungsbehörde übertragen. Den Kreisen würden wesentliche Aufgaben staatlicher Stellen überbürdet. Bei den Selbstverwaltungskörperschaften setze „eine Art Metamorphose zu kondominialen Strukturen“ ein. Die Kreise würden nach Funktion und Zuschnitt regionale Verwaltungsträger nach dem Muster von Bezirksregierungen und mit nur eingeschränkter Selbstverwaltungsfunktion. Auch für sich genommen sei die Übertragung staatlicher Aufgaben nach Maßgabe der Funktional- und Kreisstrukturreform nicht mit der Verfassung vereinbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehe die durch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gesicherte Dezentralität der Aufgabenerledigung der Tendenz zu einer großräumigeren Organisation und stetigen Hochzonung von Aufgaben auch dann entgegen, wenn damit Optimierungseffekte im Hinblick auf Verwaltungseffizienz verbunden sein sollten. Die Dezentralität könne auch durch eine Übertragung von Aufgaben gefährdet werden. Der Staat sei auf Grund der Selbstverwaltungsgarantie gehindert, den Kreisen staatliche Aufgaben in einem Maß zu übertragen, das ihre Identität als Selbstverwaltungskörperschaft in Frage stelle. Die prinzipielle Trennung staatlicher und kommunaler Verwaltung lasse nicht zu, kommunale Strukturen zu zerstören und an ihre Stelle Planungs- und Verwaltungsregionen zu setzen.
- 64
Die Besonderheit der kommunalen Selbstverwaltung als Ausdrucksform des Demokratieprinzips bestehe darin, dass die Bürger wegen der im Verhältnis zum Staat anderen Größenordnungen weitergehende Möglichkeiten der Einwirkung auf die Verwaltung hätten. Jede Gebietsreform, die Gemeinden und Kreise vergrößere, sei notwendig mit einer Einbuße an Mitwirkung verbunden. Die rein zahlenmäßige Erhöhung der Kreistagsmandate könne die aus dem Demokratieprinzip folgenden Bedenken nicht entkräften. Der Hinweis auf die vorgesehene Professionalisierung der Fraktionsarbeit könne die Einwände gegen das Verwaltungsmodernisierungsgesetz eher verstärken, weil der ehrenamtlichen Mitwirkung von Bürgern entgegengewirkt werde.
- 65
Mit einer Mehrfachneugliederung, wie sie hier vorliege, werde im prinzipiellen Bruch mit der vorangegangenen Gebietsreform eine neue Konzeption angestrebt. Nach der Landkreisneuordnung von 1993/94 hätten die Landkreise eine funktionsfähige Verwaltung mit entsprechender Infrastruktur aufbauen müssen. Die Investitionen belasteten sie noch jetzt.
- 66
Prämisse jeder Kommunalisierung sei, dass die Übertragung der staatlichen Aufgaben auf kommunale Gebietskörperschaften sich deren Struktur anpassen müsse, nicht aber könne umgekehrt eine Gebietsneugliederung damit begründet werden, die bestehenden Gebietskörperschaften wiesen für die Übertragung der staatlichen Aufgaben nicht die richtige Größe auf. Eine weitere Kommunalisierung der unteren staatlichen Verwaltungsstufe wäre auch durch Übertragung der Aufgaben auf die Landkreise in ihrem bisherigen Zuschnitt möglich.
- 67
Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V sei verfassungswidrig.
- 68
4. Die Landkreise Demmin, Mecklenburg-Strelitz, Müritz, Nordvorpommern und Uecker-Randow sowie die Antragsteller des Normenkontrollverfahrens tragen zu den §§ 72 bis 77 FKrG M-V vor:
- 69
Es habe keine ordnungsgemäße Anhörung zum Gesetzentwurf gegeben. Der Sonderausschuss habe nicht alle Einwände der Landkreise zur Kenntnis genommen. Die Bedeutung des Anhörungsrechts habe der Gesetzgeber verkannt. Dies folge bereits daraus, dass in der Gesetzesbegründung nur 3 von 382 Seiten auf das Ergebnis der Anhörung verwandt würden. Es habe zu keinem Zeitpunkt eine echte Abwägungsentscheidung gegeben. Die Neugliederung sei das Ergebnis einer Koalitionsabsprache gewesen. Demgegenüber sei das Anhörungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten. Alternativen außerhalb des Modells von vier oder fünf Kreisen seien nicht näher beleuchtet oder gar unter Einbeziehung der Landkreise erörtert worden. Der Gesetzgeber sei dem ihn treffenden Abwägungsgebot nicht gerecht geworden. Er hätte den für die Regelung erheblichen Sachverhalt ermitteln und dem Gesetz zu Grunde legen müssen. Es wäre zu berücksichtigen gewesen, dass es sich nach eigener Einschätzung des Gesetzgebers um einen Fall der Mehrfachneugliederung gehandelt habe.
- 70
Neugliederungsentscheidungen könnten nicht allein auf die bedeutenden Aspekte von Effektivität und Effizienz reduziert werden. Vielmehr stünden diese in einem Spannungsverhältnis zur örtlichen Nähe, zur lokalen Verbundenheit und zur Identifikation der Bürger. Das Spannungsverhältnis sei dem Gesetzgeber nicht bewusst geworden. Abwägungsrelevant hätten auch die Folgen sein müssen, die der neue Kreiszuschnitt für das ehrenamtliche Engagement der Bürger habe. Die neuen Gebilde könnten nicht als Landkreise im verfassungsrechtlichen Sinne gewertet werden. Raumplanerische Gebilde wie etwa Regionen könnten Gemeindeverbänden nicht gleichgestellt werden. Dem Gesetzgeber gehe es um eine kommunal- und verfassungsrechtlich wahrlich revolutionäre Veränderung, nämlich die Entwicklung der bisherigen Landkreise zu Regionalkreisen. Damit werde ein neuer Typus eingeführt. Im Vordergrund stehe ausschließlich eine maßgeblich durch Defizite auf Landesebene verursachte Verwaltungseffektivierung. Das verstoße gegen das verfassungsrechtliche Leitbild des Kreises. Landkreise seien nicht an Effektivität ausgerichtete Verwaltungsorganisationen, sondern kommunale Körperschaften, für die Bürgernähe und Ortsbezogenheit kennzeichnend seien. Sie gewährleisteten Selbstverwaltung in überschaubaren Räumen. Die Entscheidungsfindung sei geprägt durch kollegiale Meinungsbildung und durch das Ehrenamt.
- 71
Die neuen Kreise sprengten mit ihren Flächen jede bisher bekannte Dimension. Der Verzicht auf echte bürgerschaftliche Mitwirkung gehe so weit, dass Demokratiedefizite ausdrücklich in Kauf genommen würden. Sie durch Professionalisierung auszugleichen, sei fragwürdig, da kommunale Selbstverwaltung Partizipation durch ehrenamtliche Mitwirkung sei. Durch die Einrichtung von Fraktionsreferenten würden Verantwortlichkeiten verschoben. Die Auflösung der Landkreise liege nicht im öffentlichen Wohl. Gründe zur Rechtfertigung einer Neugliederung dürften nur kommunalbezogen sein. Mit jeder Gebietsreform müsse die Arbeit der kommunalen Ebene verbessert werden. Daher sei eine kommunale Defizitanalyse unabdingbar. Sie fehle hier.
- 72
5. Soweit sich der Normenkontrollantrag gegen die §§ 79, 98 und 100 FKrG M-V richtet, tragen die Antragsteller ergänzend vor:
- 73
Die Regelung des § 79 Abs. 1 FKrG M-V sei verfassungswidrig, weil die Zusammensetzung des Aufbaustabes gegen das in Art. 3 LV verankerte Demokratieprinzip verstoße. Die von den durch Gesetz berufenen Mitgliedern des Aufbaustabes frei bestimmten Stellvertreter entbehrten der erforderlichen demokratischen Legitimation. In § 98 FKrG M-V sehen die Antragsteller die Vorgaben des strikten Konnexitätsprinzips des Art. 72 Abs. 3 Satz 2 LV nicht gewahrt. Es fehle schon an dem nach der Rechtsprechung anderer Landesverfassungsgerichte für die Einhaltung des Konnexitätsprinzips zwingenden Kostenfolgeabschätzungsverfahren. Schließlich beanstanden die Antragsteller insbesondere die Regelung des § 100 Abs. 1 Satz 3 FKrG M-V, wonach das Land die erforderlichen Mittel im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zur Verfügung stelle.
III.
- 74
Der Landtag beantragt, die Verfassungsbeschwerden zurückzuweisen und im Normenkontrollverfahren festzustellen, dass die §§ 72 bis 77, 79, 98, 100 FKrG M-V mit der Landesverfassung vereinbar sind. Die Landesregierung stellt keinen förmlichen Antrag.
- 75
1. Der Landtag stellt heraus, die Reform sei notwendig, um eine Gefährdung der Selbstverwaltung auf Kreisebene abzuwenden. Das Land befinde sich in einer Notlage, in der auf Landesebene und auf kommunaler Ebene große Anstrengungen unternommen werden müssten, um die Überlebensfähigkeit des Landes zu sichern. Die Kommunen könnten sich nicht aus der Mitverantwortung für die Entwicklung von Land und Bund heraushalten.
- 76
Das Gesetzgebungsverfahren sei nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber schulde grundsätzlich nichts als das Gesetz. Die Landkreise seien ordnungsgemäß angehört worden. Eine Anhörung brauche nicht ergebnisoffen in dem Sinne geführt zu werden, dass die Abgeordneten sich noch keine Meinung gebildet hätten. Es gebe keine Pflicht des Gesetzgebers, für eine Gebietsreform ein Leitbild aufzustellen und dieses zu wahren. Unzulänglichkeiten in der Sachverhaltsermittlung bildeten für sich keinen Nichtigkeitsgrund. Eine ins Einzelne gehende Defizitanalyse sei nicht notwendig gewesen; denn mit der Reform solle für die Zukunft vorgesorgt werden. Besondere Anforderungen ergäben sich nicht unter dem Gesichtspunkt der Mehrfachneugliederung, zumal die Landkreisneuordnung von 1993/94 keine Neugliederung, sondern eine erstmalige Gründung von Kreisen gewesen sei. Eine wesentliche dem Entwurf vorangehende Feststellung sei gewesen, dass die Landkreise relativ zu viel Personal für ihre Aufgaben und zu geringe Einnahmen hätten und dass sie wegen ihrer Kleinheit zu unflexibel und nicht in der Lage seien, neue Aufgaben zu übernehmen. Die Sachverhaltsermittlung im Rahmen der Anhörung sei umfassender und intensiver gewesen als sonst jemals bei der Gesetzgebung des Landes oder des Bundes.
- 77
Das öffentliche Wohl, durch das kommunale Gebietsreformen gerechtfertigt sein müssten, könne nicht als einseitig kommunalbezogen verstanden werden. Die im Grundsatzbeschluss des Landtages und in der Begründung des Gesetzentwurfs formulierten Ziele dienten dem Gemeinwohl. Nicht die Entscheidung für die Entlastung der Landesebene habe den Ausschlag für die Übertragung von Aufgaben an die Kommunen und damit zwingend zu deren Vergrößerung gegeben, sondern die zu geringe Größe der bestehenden Kreise habe zur Gebietsreform gezwungen, um zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und zur Erhöhung von Bürgernähe und Transparenz die gewünschte Funktionalreform zu ermöglichen. Die Vergrößerung der Kreise führe zu Rationalisierungen und Einsparungen. Es sei vorteilhaft für die Bevölkerung, dass die Zuständigkeiten bei den Kreisen gebündelt würden. Für die Festlegung der neuen Kreise sei ausschlaggebend gewesen, dass ihre Gebiete weitestgehend mit den nach anerkannten raumplanerischen Erkenntnissen feststehenden Planungsregionen übereinstimmten. Die Reform schaffe – mit dem Gutachter Seitz gesprochen – eine multidimensionale Einheit von Wirtschaftsraum, Lebensraum der Bevölkerung und administrativem Aktionsraum, was zu einer Stärkung der Entwicklungsfähigkeit und der Standortattraktivität des gesamten Landes beitrage.
- 78
Es gebe verfassungsrechtlich kein Leitbild des Kreises, das eine Höchstgrenze an Einwohnern oder Fläche enthielte. Für die Bildung von Kreisen, die ganze Regionen umfassten, spreche entscheidend die dadurch erzielbare Übereinstimmung von Planungsgebieten und Selbstverwaltungseinheiten. Ein einheitliches Entscheidungszentrum mit größerer Durchsetzungsmacht sei von großem Vorteil. Die Bürgernähe gehe durch die Gebietsänderungen nicht verloren. Es gebe nicht viele Angelegenheiten, die unmittelbar am Kreissitz erledigt werden müssten. Überdies hätten die Ämter und amtsfreien Gemeinden Anlaufstellen einzurichten. Die Tätigkeit der ehrenamtlichen Kommunalpolitiker werde durch die größeren Entfernungen innerhalb der neuen Kreise erschwert. Die Nachteile würden jedoch auf verschiedene Weise kompensiert. Die Erhöhung der Mandatszahlen werde die Arbeit der Kreistage erleichtern. Die kommunale Selbstverwaltung könne nicht mehr einen Stil pflegen, der für eine Honoratiorenvertretung angemessen gewesen sei. Zu bedenken sei, dass die Selbstverwaltung der Kreise einen anderen Charakter habe als diejenige der Gemeinden. Kreise seien immer Kunstgeschöpfe des Gesetzgebers gewesen. Eine weitere Kompensation bestehe darin, dass den Kreistagsfraktionen hauptamtliche Hilfskräfte zugebilligt würden. Mit der Übernahme von bisher durch das Land wahrgenommenen Aufgaben werde die Funktion der Kreistage gewichtiger. Sie hätten auch über wesentlich größere Etats zu bestimmen und seien für mehr Personal verantwortlich. Die Landkreise hätten keinen Anspruch auf Schutz ihres Vertrauens in den Fortbestand der Neugliederung von 1993/94. In Betracht komme allenfalls ein Vertrauensschutz auf die fortdauernde Nutzbarkeit getätigter Investitionen.
- 79
Der Gesetzgeber habe alle in Betracht kommenden Gründe in seine Abwägung eingestellt. Alternativen seien sorgfältig geprüft und überzeugend abgelehnt worden. Eine moderatere Gebietsreform würde sehr wahrscheinlich angesichts der demografischen, wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung des Landes bald zu neuen Änderungen nötigen. Der Gesetzgeber habe die Gründe, die für eine Stärkung der Verwaltungskraft und Effizienz sprächen, relativ sehr hoch bewertet. Er habe aber auch die Gegengründe mit einigem Gewicht in die Waagschale geworfen. Deren Gewicht werde aber dadurch gemindert, dass die Selbstverwaltung durch die Aufgabenverlagerungen gerade gestärkt werde und dass durch die Kompensationsmaßnahmen die Nachteile gemindert würden.
- 80
Der Landtag hält den Normenkontrollantrag auch für unbegründet, soweit er sich gegen die §§ 79, 98 und 100 FKrG M-V richtet. Die demokratische Legitimation der Aufbaustäbe ergebe sich aus der Wahl ihrer Mitglieder durch die Kreiseinwohner. Diese Legitimation erstrecke sich auch auf die von ihnen bestimmten Stellvertreter. Im Übrigen träfen die Aufbaustäbe nur in Ausnahmefällen selbst Entscheidungen. Die Kostenerstattungsbestimmung des § 98 FKrG M-V sei angesichts der Besonderheit des Regelungsgegenstandes, nämlich des Übergehens eines ganzen Aufgabenbündels erst mit der Kommunalwahl 2009, auf der Grundlage prognostischer Berechnungen des Mehraufwandes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zudem finde sich in § 98 Abs. 13 eine Anpassungsbestimmung. § 100 Abs. 1 FKrG M-V regele keine Kostenerstattung, die sich an Art. 72 Abs. 3 LV zu orientieren hätte. § 100 Abs. 1 Satz 3 FKrG M-V entspreche der einschlägigen Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts.
- 81
2. Die Landesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig, da die Beschwerdeführer durch die erst im Jahre 2009 in Kraft tretenden §§ 72 bis 77 FKrG M-V nicht beschwert seien.
- 82
Zur Sache ist über die Rahmenbedingungen ausgeführt, der Gesetzgeber habe kraft seiner Gewährleistungs- und Vorsorgeverantwortung die Zuständigkeiten von Land und Kreisen sinnvoll zugeordnet, um letztlich die kommunale Selbstverwaltung in den Kreisen zu stärken. Da 1993/94 erstmals den verfassungsrechtlichen Anforderungen der kommunalen Selbstverwaltung Rechnung getragen worden sei, habe die Reform von 2006 mehr Eigenschaften einer Neugliederung als einer Mehrfachneugliederung. Im Falle eines Scheiterns der Reform wäre eine Abwärtsspirale des Landes unvermeidbar.
- 83
Durch die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung werde die kommunale Ebene institutionell, nicht aber individuell geschützt. Das öffentliche Wohl als Voraussetzung für eine Neugliederung sei eine materiell niedrige Hürde, da die Bindung an das Gemeinwohl eine selbstverständliche Voraussetzung jeder verfassungsrechtlich gebundenen Gesetzgebung sei. Eine Trennung der Gemeinwohlbelange in solche des Landes und solche der Kommunen verbiete sich, weil beide Ebenen aufeinander angewiesen seien. Bei der Konkretisierung von Kriterien aus dem unbestimmten Begriff des öffentlichen Wohls sei zu beachten, dass die kommunale Selbstverwaltung der Gemeinden einerseits und der Kreise andererseits unterschiedlich gewährleistet sei. Während die Gemeinden alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung regelten, gebe es für die Kreise lediglich den gesetzlichen Aufgabenbereich nach Maßgabe der Gesetze. Deute also der Wortlaut der Verfassung einen unantastbaren Bereich gemeindlicher Zuständigkeiten an, so fehle dieser den Kreisen. Damit sei ein geringerer Grad des individuellen Schutzes zwingend vorgegeben. Den Kreisen fehle die ursprüngliche Verwurzelung in der örtlichen Gemeinschaft; sie seien Zweckschöpfungen des Gesetzgebers mit schwächelnder Selbstverwaltungsgarantie. Die komplexe planerische, nur in den äußeren Eckpfeilern verfassungsrechtlich gebundene gesetzgeberische Entscheidung begrenze die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Kreisreform darauf, ob die Ziele und Leitbilder verfassungskonform und die gesetzgeberischen Abwägungsschritte nicht offensichtlich und eindeutig widerlegbar seien. Der Gesetzgeber habe das in der Verfassung nicht näher umschriebene Gemeinwohl erst selbst zu finden. Es gebe für die Landkreise keinen erhöhten Vertrauensschutz, der als überlagernder Prüfungsmaßstab anzuwenden wäre. Der Schutz bestehender kommunaler Gebietskörperschaften sei stets nur relativ, abgeleitet und eingeschränkt. Die umfängliche, insgesamt dreimalige Anhörung genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
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Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung wirke bei Kreisreformen zugleich als Impuls und Grenze. Kommunale Selbstverwaltung sei zum einen durch ihre Aufgaben, zum anderen durch räumlichen Bezug bestimmt. Dem entspreche, dass kommunale Verwaltung einerseits wirkungsvolle und leistungsfähige Verwaltung, andererseits lebendige und bürgernahe Verwaltung sein solle. Verfassungsrechtliche Grenzen würden überschritten, wenn Kreise geschaffen würden, die keine sinnvolle Mitbestimmung der überörtlichen Selbstverwaltung durch die Bürger und die kreisangehörigen Gemeinden mehr ermöglichten. Zugleich müssten Kreisreformen der Leistungsfähigkeit der Verwaltung Rechnung tragen. Wie der Gutachter Seitz ausgeführt habe, würden der Bevölkerungsrückgang und mehr noch die Rückführung der Osttransfers die reale Einnahmeposition im Land bis zum Jahr 2020 dramatisch verschlechtern. Insbesondere die Landkreise hätten einen im Westvergleich erheblichen Personalüberhang. Ihre überproportional hohen Ausgaben, aber auch Einnahmen trügen zu einer Zementierung von Strukturen auf der Landkreisebene bei. Nach Auffassung des Landesrechnungshofes sei das derzeitige Niveau der kommunalen Zuweisungen nicht zu halten.
- 85
Aus den Materialien zur Entstehung des Gesetzes seien die wesentlichen Leitlinien des Gesetzgebers mit kaum zu überbietender Klarheit und Geschlossenheit zu entnehmen. Das Leitbild der Kreise sei mit den Planungsregionen verknüpft. Damit solle für die Kreise künftig die Teilhabe an der Regionalplanung erreicht werden. Es gehe um Steigerung der Leistungsfähigkeit sowohl bei Übertragung bislang staatlicher Aufgaben als auch bei Selbstverwaltungsaufgaben. Das trage dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Verwaltung Rechnung und stärke die Bündelungsfunktion der Kreise.
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Es gebe kein mit Flächen und Einwohnerzahlen fassbares verfassungsrechtliches Leitbild des Kreises. Fest stehe allein, dass er mit überörtlichen Selbstverwaltungsaufgaben ausgestattet sein müsse. Angesichts verbesserter Kommunikations- und Verkehrsverhältnisse und der Zwänge zu Rationalisierung und Einsparung habe sich die Tendenz zur Bildung größerer Gebietseinheiten beschleunigt. Die Bedeutung der Fläche sinke. Eine gewisse Plausibilität möge die Vermutung haben, mit zunehmender Kreisgröße könne die Bürgerferne steigen. Daraus entstehe aber keine Hürde, weil nur eine Gesamtbetrachtung Schlüsse erlaube. Im Übrigen würden Kreisverwaltungen auffallend wenig in Anspruch genommen. Außerdem würden durch die vorgesehenen örtlichen Anlaufstellen Wege vielfach kürzer.
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Die Funktionalreform I bedeute keine Verstaatlichung der Kreise, sondern eine Kommunalisierung von Aufgaben. Die Kommunalisierung als Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie zu deuten, sei verfehlt. Denn die Kommunen als Träger öffentlicher Gewalt seien selbst ein Stück Staat. Die kommunale Zuständigkeit werde gegenüber der staatlichen verstärkt. Kennzeichnend für die Verwaltungsmodernisierung in Mecklenburg-Vorpommern sei die Gleichzeitigkeit von Funktional- und Kreisstrukturreform. Die Überschaubarkeit habe hier einen anderen Stellenwert als bei einer bloßen Gebietsreform. Die neuen Kreise brächten Planungsgebiete und Selbstverwaltungsbereiche räumlich und funktionell in Übereinstimmung mit einer Steigerung der Transparenz und damit der Überschaubarkeit der vom Kreis zu treffenden Entscheidungen. Entscheidend sei, dass die Relation von Aufgaben, Einwohnerzahl und Gebietsgröße eine sinnvolle Wahrnehmung der gesetzlich zugewiesenen Aufgaben unter besonderer Wahrung der Selbstverwaltungsaufgaben ermöglichen müsse. An den verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grundelementen demokratischer Legitimation in den Kreisen ändere die Reform nichts. Es gebe kein festes Zahlenverhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten. Nicht jedes Kreistagsmitglied müsse mit den Problemen jedes Teilgebiets vertraut sein. Wichtig sei, dass durch die Aufgabenverlagerungen der Entscheidungsbereich der Kreistage ausgedehnt werde. Das Ziel, das Land zukunftssicher zu machen, sei als Ausdruck der Gewährleistungsverantwortung des Gesetzgebers nicht nur legitim, sondern verfassungsgefordert. Alle Erkenntnisse der Verwaltungswissenschaft deuteten darauf hin, dass größere Gebietskörperschaften leistungsfähiger und kostengünstiger seien. Auf kommunaler Ebene bedeute die Vergrößerung immer eine Bündelung der vorhandenen Ressourcen, die besser genutzt werden könnten. Es ließe sich erwägen, ob eine etwas höhere als die vorgesehene Zahl von fünf Kreisen, etwa sieben oder acht, eine sinnvolle Alternative sein könnte. Dies könne einer Rechtskontrolle schon deshalb nicht zu Grunde gelegt werden, weil damit das verfassungsmäßige Ziel, Kreise und Planungsregionen weitgehend zur Deckung zu bringen, beiseite geschoben würde.
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Die Landesregierung tritt dem Normenkontrollantrag auch entgegen, soweit er die §§ 79, 98, 100 FKrG M-V betrifft.
Entscheidungsgründe
B.
- 89
Unter B. und C. der Gründe beschränkt das Landesverfassungsgericht sich auf die Prüfung, ob die Verfassungsbeschwerden und der Normenkontrollantrag zulässig und begründet sind, soweit sie sich gegen die §§ 72 bis 77 FKrG M-V richten. Die Angriffe gegen weitere Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes werden unter D. II. behandelt.
I.
- 90
Die kommunalen Verfassungsbeschwerden sind zulässig.
- 91
1. Die Beschwerdeführer sind als Landkreise im Verfahren nach Art. 53 Nr. 8 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern – LVerfGG – beschwerdebefugt. Sie sind durch die §§ 72 bis 77 FKrG M-V selbst und unmittelbar betroffen. Durch § 72 FKrG M-V werden die Landkreise aufgelöst; unter Eingliederung der bestehenden sechs kreisfreien Städte werden aus ihnen nach Maßgabe der §§ 73 bis 77 FKrG M-V neue Kreise gebildet. Die Beschwerdeführer greifen jeweils die sie selbst betreffende Vorschrift der §§ 73 bis 77 FKrG M-V an.
- 92
2. Die Beschwerdeführer sind durch die von ihnen angegriffenen Bestimmungen auch gegenwärtig betroffen. Dem steht nicht entgegen, dass nach Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V die Vorschriften erst im Jahre 2009 in Kraft treten.
- 93
Das Erfordernis der gegenwärtigen Beschwer hat die Aufgabe, einer Ausweitung der Verfassungsbeschwerde in Richtung auf eine Popularklage, die dem Landesverfassungsprozessrecht von Mecklenburg-Vorpommern fremd ist, entgegen zu treten (vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 558). Grundsätzlich ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz erst zulässig, sobald der jeweilige Beschwerdeführer durch die Regelungswirkung der angegriffenen Norm beschwert ist. Eine Regelungswirkung entfaltet eine noch nicht in Kraft getretene Norm rechtstechnisch noch nicht, so dass einer Verfassungsbeschwerde regelmäßig die gegenwärtige Beschwer fehlt. Indessen hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von diesem Grundsatz entwickelt. Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein noch nicht in Kraft getretenes Gesetz ist nicht immer wegen fehlender gegenwärtiger Beschwer unzulässig. Ist klar abzusehen, dass und wie ein Beschwerdeführer künftig von der Regelung betroffen sein wird, liegt bereits gegenwärtig eine Beschwer vor (BVerfGE 101, 54, 73 f.; BVerfGE 108, 370, 385; zustimmend Benda/Klein, a.a.O. Rn. 561; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 199; vgl. auch LVerfG LSA, Urt. v. 09.03.2007 - LVG 7/06 -, Tz 55 unter Hinweis auf LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 1/94 -, LVerfGE 2, 273, 276, 285 = LKV 1995, 75). Dem schließt sich das Landesverfassungsgericht an.
- 94
Daraus ergibt sich eine gegenwärtige Beschwer der Beschwerdeführer. Sie sollen mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage im Jahre 2009 nicht mehr existieren, sondern in neuen Kreisen aufgehen. Sie können nicht darauf verwiesen werden, Rechtsschutz erst dann zu suchen, wenn sie nicht mehr existieren.
- 95
Überdies entfaltet die Kreisgebietsreform schon jetzt rechtliche Vorwirkungen. In § 79 FKrG M -V sind die Aufbaustäbe geregelt, die den Übergang in die neue Gebietsstruktur vorzubereiten haben. § 84 FKrG M-V ermächtigt die Landkreise und kreisfreien Städte, die demselben neuen Kreis angehören werden, einvernehmlich eine vorläufige Hauptsatzung für diesen zu erlassen. Nach § 97 FKrG M-V wird ein Sondervermögen Verwaltungsmodernisierung zur Beteiligung an der Finanzierung einmaliger reformbedingter Kosten gebildet, zu denen diejenigen der Aufbaustäbe gehören. Diese Vorschriften sind nach Art. 29 Abs. 1 VerwModG M-V am 01.08.2006 in Kraft getreten.
- 96
3. Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen für kommunale Verfassungsbeschwerden liegen vor. Die Jahresfrist des § 53 LVerfGG ist gewahrt. Dem Begründungserfordernis des § 54 LVerfGG ist genügt.
II.
- 97
Der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle betreffend die §§ 72 bis 77 FKrG M-V ist nach Art. 53 Nr. 2 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG statthaft und auch sonst zulässig.
- 98
Der Antrag ist von 24 Abgeordneten und damit von mehr als einem Drittel der 71 Abgeordneten des 4. Landtages Mecklenburg-Vorpommern gestellt worden. Dass zwischenzeitlich der 5. Landtag gewählt wurde und zusammengetreten ist, macht den Normenkontrollantrag nicht unzulässig. Das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle wird durch das Quorum von einem Drittel der Abgeordneten des Landtages (§ 40 Abs. 1 LVerfGG) angestoßen. Es ist ein objektives Beanstandungsverfahren, dessen Zulässigkeit nicht dadurch berührt wird, dass später ein neuer Landtag zusammengetreten ist. Der parlamentarische Grundsatz der Diskontinuität gilt hier nicht (vgl. BVerfGE 79, 311, 327; 82, 286, 297).
C.
- 99
Auf die Verfassungsbeschwerden der Landkreise und den von Abgeordneten des Landtages gestellten Antrag auf abstrakte Normenkontrolle stellt das Landesverfassungsgericht fest, dass die §§ 72 bis 77 des Funktional- und Kreisreformgesetzes mit Art. 72 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern unvereinbar sind.
I.
- 100
1. Der Landtag hat das Verwaltungsmodernisierungsgesetz, dessen Art. 1 das Funktional- und Kreisstrukturreformgesetz bildet, kraft seiner gesetzgebenden Gewalt aus Art. 20 Abs. 1 Satz 3 LV beschlossen. Kernstücke des Gesetzes sind die Übertragung zahlreicher Verwaltungsaufgaben von Landesbehörden auf kommunale Verwaltungsträger, vorwiegend auf die Kreise, durch die in §§ 1 bis 46 FKrG M-V geregelte Funktionalreform I sowie die in §§ 72 bis 77 FKrG M-V geregelte Kreisgebietsreform. Sie besteht darin, die bisherigen Landkreise aufzulösen und zusammen mit den bisher kreisfreien Städten zu fünf neuen Kreisen zusammenzuschließen. Nach dem Konzept des Gesetzgebers sind diese beiden Regelungsbereiche notwendig miteinander verknüpft; aus seiner Sicht ist die weitgehende Aufgabenübertragung auf die Kreise nur bei deren Vergrößerung in der durch das Gesetz festgelegten Weise möglich.
- 101
2. a) Die Kompetenz des Landtages, eine Funktionalreform und eine Kreisgebietsreform zu regeln, ergibt sich zum einen aus Art. 70 Abs. 2 Satz 1 LV. Nach dieser Vorschrift werden Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren der öffentlichen Verwaltung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt. Zur öffentlichen Verwaltung im Sinne von Art. 70 Abs. 2 LV rechnet auch die kommunale Selbstverwaltung, wie sich aus der Umschreibung der öffentlichen Verwaltung in Art. 69 LV ergibt. Zwar ist in der Landesverfassung nicht ausdrücklich geregelt, dass es zur Auflösung und Neubildung von Kreisen eines Gesetzes bedarf. Dies ist lediglich in § 97 Abs. 2 der Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Kommunalverfassung - KV M-V) bestimmt. Indessen folgt verfassungsrechtlich die Notwendigkeit eines Gesetzes daraus, dass es sich um eine grundlegende und daher vom Parlament zu verantwortende Entscheidung über die Ausformung rechtlich verselbständigter und von der Verfassung mit eigener Rechtsstellung ausgestatteter Verwaltungsträger handelt.
- 102
b) Für die Funktionalreform, soweit die Kommunen betroffen sind, ergibt sich die Kompetenz des Landtages zum anderen aus Art. 72 LV. Der Aufgabenbereich der Kreise wird nach Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gesetzlich festgelegt. Eine weitere Grundlage findet sich in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 LV. Nach dieser Vorschrift können die Gemeinden und Kreise durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes durch Rechtsverordnung zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben verpflichtet werden, wenn dabei gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen werden. Die Norm hat Bedeutung nicht nur im Hinblick darauf, dass bei der Aufgabenübertragung auf Kommunen Bestimmungen über die Kostendeckung getroffen werden müssen, sondern sie regelt als Spezialnorm zu Art. 70 Abs. 2 LV die Aufgabenübertragung auf Kommunen insgesamt. In der ursprünglichen Fassung war nur die Übertragung von Aufgaben der Landesverwaltung zur Erfüllung nach Weisung behandelt. Durch das Erste Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 04.04.2000 (GVOBl. M-V S. 158) wurde nicht nur in dem neu angefügten Satz 2 das strikte Konnexitätsprinzip verankert, sondern es wurde auch Satz 1 dahin ausgebaut, dass er sich nunmehr auf sämtliche Übertragungen von Aufgaben auf die Kommunen bezieht.
- 103
Durch Art. 72 Abs. 3 Satz 1 LV ist der Gesetzgeber auch ermächtigt, in größerem Umfang Aufgaben auf die Kommunen zu übertragen. Dem steht nicht entgegen, dass nach dem Wortlaut der Norm die Kommunen nur zur Erfüllung „bestimmter“ öffentlicher Aufgaben verpflichtet werden können. Die Vorschrift will keine quantitative Eingrenzung der Übertragbarkeit von Aufgaben vornehmen. Vielmehr zielt sie darauf, dass der Gesetzgeber sich bei jeder Übertragung einer Aufgabe im Hinblick auf das strikte Konnexitätsprinzip Rechenschaft über deren Umfang und Kosten zu geben hat.
- 104
Bereits bei vergleichender Betrachtung von Art. 70 Abs. 2 und Art. 72 Abs. 3 LV werden Unterschiede in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers deutlich, wenn er Vorschriften über die Zuweisung von Verwaltungsaufgaben erlässt. Im Rahmen der staatlichen Verwaltung kann er Aufgaben grundsätzlich frei nach Zweckmäßigkeit zuordnen. Überdies ist es nach Art. 70 Abs. 3 LV Aufgabe der Landesregierung als Spitze der vollziehenden Gewalt (Art. 41 Abs. 1 LV), über die Einrichtung der Landesbehörden im Einzelnen zu bestimmen. Sind dagegen die Kommunen berührt, ist die Gestaltungsfreiheit dadurch beschränkt, dass der Gesetzgeber auf die in Art. 72 LV gewährleistete kommunale Selbstverwaltung Rücksicht zu nehmen hat.
- 105
3. Gesetze, welche die kommunale Selbstverwaltung betreffen, müssen deren Garantie in Art. 72 Abs. 1 LV Rechnung tragen. Dazu ist Folgendes herauszustellen:
- 106
a) Die kommunale Selbstverwaltung ist in Art. 28 Abs. 2 GG den Ländern als Strukturprinzip ihres Verwaltungsaufbaus vorgegeben und auf dieser Grundlage durch die Länder gewährleistet. Als institutionelle Garantie bedarf sie der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (BVerfGE 79, 127, 143; statt aller Löwer in: von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2001, Art. 28, Rn. 41 ff., 59 m.w.N.). Mit der Ausgestaltung ist eine Pflicht des Landes verbunden, die auf Freiräume sichernde Gestaltung der kommunalen Selbstverwaltung gerichtet ist. Dabei ist hervorzuheben, dass der Verfassunggeber die kommunale Selbstverwaltung mit eigenen Aufgaben in den Aufbau des politischen Gemeinwesens eingefügt und ihr dadurch – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 79, 127, 143) – eine spezifische Funktion beigemessen hat.
- 107
b) Die kommunale Selbstverwaltung bedeutet Aktivierung der Bürger für ihre eigenen Angelegenheiten. Die in der örtlichen Gemeinschaft lebendigen Kräfte schließen sich zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat zusammen mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren (BVerfGE 11, 266, 275 f.; 107, 1, 12). Diese Aussage bezieht sich gleichermaßen auf Gemeinden und Kreise. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft – also in den Gemeinden – sind Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder sich spezifisch auf sie beziehen (BVerfGE 79, 127, 152). Leitbild der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie ist eine bürgerschaftliche Mitwirkung, die sich auch in einem politischen Gestaltungswillen niederschlägt (ThürVerfGH, Urt. v. 18.12.1996 - VerfGH 2/95 u.a. -, LVerfGE 5, 391, 417 = NVwZ-RR 1997, 639). In den Kreisen bezieht sich der eigenverantwortliche, ehrenamtliche Modus der Aufgabenwahrnehmung auf das Kreisgebiet und seine Einwohner.
- 108
c) Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung ist vertieft durch die Staatsformbestimmung des Art. 3 LV. Nach dessen Absatz 2 dient die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben. Damit ist die Form der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung als eigener Verfassungswert hervorgehoben (vgl. Löwer in: von Münch/Kunig, a.a.O. Rn. 51). Bezug nehmend auf den dem Art. 3 Abs. 2 LV entsprechenden Art. 11 Abs. 4 der Verfassung des Freistaates Bayern hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 79, 127, 149) herausgestellt, dass die Gemeinden die Keimzellen der Demokratie und am ehesten diktaturresistent seien. Entsprechend hat der Thüringische Verfassungsgerichtshof (a.a.O. S. 418) zu Recht darauf hingewiesen, dass Bürgernähe und Bürgerbeteiligung eine besondere Bedeutung in den neuen Bundesländern gewinnen, weil hier die kommunale Selbstverwaltung erst mit der „Wende“ wieder eingeführt worden ist.
- 109
d) Entgegen der Auffassung der Landesregierung sind Kreise keine Zweckschöpfungen des Gesetzgebers mit „schwächelnder Selbstverwaltungsgarantie“.
- 110
Die hierfür angeführte Begründung, „Kreise stellen eben keine originären Selbstverwaltungsträger dar, ihr Selbstverwaltungsrecht ist, wie Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG verdeutlicht, vielmehr derivativ, genauer: gesetzesabhängig“ (Erbguth, Modellvorhaben Verwaltungsreform Mecklenburg-Vorpommern? LKV 2004, 1, 2), lässt nicht die Folgerung zu, dass die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden und der Kreise von unterschiedlicher Rechtsqualität ist. Die unterschiedliche Gesetzesabhängigkeit betrifft nicht das Selbstverwaltungsrecht, sondern die Aufgabenzuweisung. Die Kreise haben, anders als die Gemeinden, keine Aufgabenallkompetenz. Der Gesetzgeber muss aber den Kreisen bestimmte Aufgaben als Selbstverwaltungsaufgaben, also als kreiskommunale Aufgaben des eigenen Wirkungskreises, zuweisen. Für das Recht der Selbstverwaltung, also die Befugnis zur eigenverantwortlichen Aufgabenerledigung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG, das sich auf diesen Umkreis von Aufgaben bezieht, gilt aber nichts grundsätzlich anderes als für die Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfGE 83, 363, 383; HessStGH, Urt. v. 20.10.1999 - P.St. 1294 -, DÖV 2000, 76, 77). Die Selbstverwaltung der Gemeinden und der Kreise bilden als kommunale Selbstverwaltung eine Einheit (vgl. Dreier in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 28, Rn. 167). Nichts anderes lässt sich aus der von Erbguth (a.a.O.) angeführten Rastede-Entscheidung (BVerfGE 79, 127, 150) folgern. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinen in Bezug genommenen Ausführungen - lediglich - das Aufgabenverteilungsprinzip zwischen Kreisen und Gemeinden zugunsten der Gemeinden heraus.
- 111
e) Die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung und die bürgerschaftlich-demokratische kommunale Selbstverwaltung stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 79, 127, 153) hat ausgesprochen, die Verfassung setze den ökonomischen Erwägungen, dass eine zentralistisch organisierte Verwaltung rationeller und billiger arbeiten könnte, den demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung ihrer öffentlichen Aufgaben entgegen und gebe ihm den Vorzug. Die spezifische Funktion der bürgerschaftlich getragenen Verwaltung hat das Bundesverfassungsgericht seither wiederholt hervorgehoben (BVerfGE 82, 310, 313; 83, 363, 381 f.; 107, 1, 11 f.).
- 112
Dem schließt sich das Landesverfassungsgericht an. Dabei meint „Vorzug“ nicht, dass es dem Gesetzgeber letztlich verwehrt wäre, bei einem Gesetzgebungsvorhaben sich zu Lasten bürgerschaftlicher Mitwirkung für eine ökonomisch sinnvolle Lösung zu entscheiden. Er muss aber die Grundentscheidung des Grundgesetzes und der Landesverfassung für bürgerschaftlich-demokratische Mitwirkung stets im Blick haben und mit dem entsprechenden Gewicht einbeziehen. Selbstverwaltung soll durchaus auch Leistungsfähigkeit im Sinne rationeller Aufgabenerfüllung umfassen. Dennoch besteht ein Spannungsverhältnis. Gute Landesverwaltung ist primär auf rationelle Aufgabenerfüllung nach Maßgabe der Gesetze und des Regierungsprogramms ausgerichtet. Für gute kommunale Selbstverwaltung ist neben rationeller Aufgabenerfüllung von Verfassungs wegen die bürgerschaftlich-demokratische Entscheidungsfindung ein Wesensmerkmal. Das verbietet es, gute staatliche Verwaltung und gute Selbstverwaltung gleichzusetzen.
- 113
f) Die kommunale Selbstverwaltung kann nicht nur durch den Entzug, sondern auch durch die Übertragung von Aufgaben gefährdet sein. Das kann sich insbesondere ergeben, wenn der Gesetzgeber materiell staatliche Aufgaben den Kommunen als Selbstverwaltungsaufgaben zuweist (Dreier in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 28, Rn. 120 m.w.N.). Eine mittelbare Beeinträchtigung kann sich ergeben, wenn durch Übertragung staatlicher Aufgaben in den übertragenen Wirkungskreis oder auf den Landrat als untere staatliche Verwaltungsbehörde Verwaltungskapazitäten gebunden werden und der Raum für originäre Selbstverwaltungsangelegenheiten empfindlich geschmälert wird (Dreier a.a.O. Rn. 121 m.w.N.).
- 114
g) Der Gesetzgeber hat nicht nur dem Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie Rechnung zu tragen. Auch außerhalb dieses Bereichs hat er deren spezifische Funktion zu berücksichtigen (BVerfGE 79, 127, 143). Ebenso hat das Landesverfassungsgericht (Urt. v. 11.05.2006 - LVerfG 1/05 u. a. -, NordÖR 2006, 443, 445) zur kommunalen Finanzgarantie entschieden.
- 115
h) Die Anforderungen an ein die kommunale Selbstverwaltung betreffendes Gesetz und entsprechend die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte sind umso höher, je mehr die kommunale Selbstverwaltung an Substanz verliert (BVerfGE 79, 127, 154; 110, 370, 401; LVerfG M-V a.a.O. S. 463). Der Niedersächsische Staatsgerichtshof (Urt. v. 04.02.1979 - StGH 2/77 -, NdsStGHE 2, 1, 152) hat für Gebietsänderungen von Kreisen herausgestellt, dass für die Demokratiefunktion der Selbstverwaltung ein Verlust eintreten könne, und zutreffend formuliert: „Je schwerwiegender dieser Verlust und andere mit dem Eingriff verbundene Nachteile für die Selbstverwaltung und die Bevölkerung im Einzelfalle sind, umso gewichtiger müssen die Gründe des öffentlichen Wohls sein, die den Eingriff des Gesetzgebers in den Bestand der betroffenen Kreise rechtfertigen sollen.“
- 116
4. Für Kreisgebietsreformen gilt ferner:
- 117
a) Gebietsänderungen beeinträchtigen den verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts grundsätzlich nicht. Zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung gehört aber, dass Bestands- und Gebietsänderungen nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach vorheriger Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind (BVerfGE 50, 50 f.; 86, 90, 107). Das öffentliche Wohl ist als Sammelbegriff offen für eine Vielzahl von Zwecken in unterschiedlichen Konstellationen. Seine maßgeblichen Konturen erhält es durch die jeweilige Regelungsmaterie und deren rechtliche Vorprägungen. Die Gründe des öffentlichen Wohls im Einzelnen bestimmt der Gesetzgeber (NdsStGH a.a.O. S. 151; ThürVerfGH, Urt. v. 18.12.1996 - VerfGH 2/95 u. a. -, LVerfGE 5, 391, 416 = NVwZ-RR 1997, 639). Er hat dabei einen großen, jedoch durch die Verfassung gebundenen Spielraum. Damit wird einerseits Raum für das Politische geschaffen, andererseits wird der Steuerungsfunktion der Verfassung Geltung verschafft. So hat das öffentliche Wohl als steuerndes Element einer kommunalen Gebietsreform die Strukturmerkmale kommunaler Selbstverwaltung in sich aufzunehmen und als entscheidungsleitend in Rechnung zu stellen. Dementsprechend hat der Gesetzgeber das naheliegende Abwägungsmaterial zu ermitteln und auf dieser Grundlage die unterschiedlichen Belange und Interessen zu bewerten, um ein Abwägungsergebnis herbeizuführen, das auf der Summe der gewogenen Einzelaspekte beruht. Das die Neugliederungsentscheidung legitimierende öffentliche Wohl ist somit maßgeblich prozedural zu bestimmen (BVerfGE 86, 90, 108; VerfGH Rh-Pf, Urt. v. 17.04.1969 - VGH 2/69 -, DÖV 1969, 560, 565; Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 361 f.).
- 118
Nicht gefolgt werden kann deshalb der Auffassung der Landesregierung, für eine Kreisgebietsreform stelle das öffentliche Wohl eine „materiell niedrige Hürde“ dar. Das öffentliche Wohl ist nicht etwas, das wie eine Hürde überwunden werden müsste. Vielmehr ist die Verwirklichung des öffentlichen Wohls Ziel und Zweck einer Gebietsreform. Überdies ist es Richtschnur für alle Gesetzgebung.
- 119
b) Umgekehrt kann das Landesverfassungsgericht nicht der Auffassung der Beschwerdeführer und Antragsteller folgen, das öffentliche Wohl, zu dem die Neugliederung stattfinde, müsse kommunalbezogen sein. Dieses öffentliche Wohl ist umfassend; es schließt sowohl staatliche als auch kommunale Belange ein. Auf die wechselseitige Bezogenheit von Land und Kommunen hat das Landesverfassungsgericht bereits hingewiesen (Urt. v. 11.05.2006 - LVerfG 1/05 u. a. -, NordÖR 2006, 443, 444). Das öffentliche Wohl kann nicht mit dem Wohl der betroffenen Kreise gleichgesetzt werden (LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994, LKV 1995, 75, 78); beispielsweise dürfen die Entwicklung des ganzen Landes und die Regionalplanung berücksichtigt werden (ThürVerfGH, Urt. v. 08.09.1997 - VerfGH 8/95 -, LVerfGE 7, 380 = VwRR MO 1997, 67; NdsStGH a.a.O. S. 165). Die wechselseitige Bezogenheit zeigt sich namentlich bei der Kommunalaufsicht. Diese hat unter anderem die Aufgabe, die kommunale Selbstverwaltung zu fördern, die Rechte der kommunalen Körperschaften zu schützen wie auch - dem gesamtstaatlichen Interesse folgend - die Rechtmäßigkeit der Verwaltung sicherzustellen (§ 168 Abs. 1 i.V.m. § 78 KV M-V).
- 120
c) Bei einer Kreisgebietsreform muss die kommunale Selbstverwaltung mit dem ihr von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht einbezogen werden. Dabei müssen die beiden tragenden Komponenten – die Leistungsfähigkeit im Sinne rationeller Aufgabenerfüllung einerseits und die bürgerschaftlich-demokratische Dimension andererseits – in den Blick genommen werden. Wird eine dieser beiden Komponenten als Regelungsziel in den Vordergrund gestellt, so ist die Kontrolle notwendig, ob auch der anderen Komponente hinreichend genügt ist. Erforderlich ist eine eigene Überprüfung und Gewichtung durch das Parlament (BVerfGE 86, 90, 116).
- 121
d) In die Abwägung muss der Gesetzgeber die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung einstellen (BVerfGE 86, 90, 109). Sonst leidet seine Entscheidung an einem Abwägungsdefizit. Ob die für die Abwägung wesentlichen Belange auf Grund zutreffender oder vertretbar ermittelter Fakten mit ihrem vor dem Hintergrund der Verfassung richtigen Gewicht eingestellt worden sind, unterliegt der vollen Prüfung durch das Landesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 86, 90, 110 ff.).
- 122
e) Eine Kreisgebietsreform, welche die strukturellen Anforderungen der Verfassung an Kreise im Sinne von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV verfehlen würde, wäre unzulässig. Zu diesen Anforderungen gehört auch die Überschaubarkeit des Kreisgebiets (Schmidt-Aßmann, Perspektiven der Selbstverwaltung der Landkreise, DVBl. 1996, 533, 540).
- 123
f) Diese Grundsätze gelten sämtlich auch dann, wenn mit einer Kreisgebietsreform neue Wege beschritten werden. Der Landtag hat in der mündlichen Verhandlung herausgestellt, es sei ein „anderer Pfad“ gegangen worden. Die Größe der Kreise werde nämlich von sozialen, wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Verflechtungszonen her bestimmt, wobei die kommunale Selbstverwaltung durch Mehraufgaben gestärkt werde. Die Landesverfassung verwehrt nicht neue Ansätze. Doch sie müssen sich jeweils an ihr messen lassen.
II.
- 124
Der Gesetzgeber ist fehlerfrei von einem Anlass zur umfassenden Modernisierung der Verwaltung – sowohl des Landes wie auch seiner Kommunen – ausgegangen.
- 125
1. Zur Lage des Landes stellt das Landesverfassungsgericht, im Wesentlichen auf der Basis von im Gesetzentwurf angeführten Daten, heraus:
- 126
Bereits Daten zu Fläche und Bevölkerung des Landes im bundesdeutschen Vergleich zeigen Besonderheiten, auf die eine verantwortliche Gesetzgebung sich einrichten muss. Mecklenburg-Vorpommern steht unter den 13 Flächenländern der Bundesrepublik in der Fläche an sechster Stelle. In der Bevölkerung steht es indessen erst auf dem zwölften Rang vor dem Saarland, einem untypischen Flächenland. Im Land leben nur 1,72 Mio Menschen; damit ist es seit 2004 hinter den Stadtstaat Hamburg zurückgefallen. Die Bevölkerungsdichte ist mit 71 Einwohnern je qkm im Land und mit 53 Einwohnern je qkm in den Landkreisen extrem gering. Unter den 20 flächenmäßig größten deutschen Landkreisen finden sich sechs aus Mecklenburg-Vorpommern.
- 127
Das Land hat seit 1990 etwa 200.000 Einwohner verloren. Nach der Bevölkerungsprognose von 2003 werden für 2020 gut 1,5 Mio Einwohner und für 2050 zwischen 1,34 und 1,186 Mio Einwohner angenommen. Gleichermaßen ist die Bevölkerungszahl der meisten Landkreise gesunken; Ausnahmen sind der die Hansestadt Rostock umschließende Landkreis Bad Doberan sowie die westlichen, an alte Bundesländer grenzenden Landkreise Ludwigslust und Nordwestmecklenburg. Der Rückgang der Bevölkerung wird sich fortsetzen. Davon sind besonders stark – teilweise dramatisch – östliche Landesteile betroffen. Für das Jahr 2020 ist prognostiziert, dass alle, außer den drei genannten Landkreisen, die bei der Landkreisneuordnung 1993/94 zu Grunde gelegte Regeleinwohnerzahl von 100.000 unterschreiten werden, bis hin zu 60.000 oder weniger Einwohnern in den Landkreisen Müritz, Rügen und Uecker-Randow. Deshalb kann bei vielen Landkreisen zweifelhaft sein, ob sie noch zur nachhaltigen Erfüllung der kreislichen Aufgaben in der Lage sein werden. Deutlich abgenommen hat die Bevölkerung der kreisfreien Städte, zum großen Teil auch durch Abwanderung in das Umland. Das wird sich fortsetzen; allerdings ist für die Hansestadt Greifswald ein leichter Zuwachs bis 2020 prognostiziert und für die Hansestadt Rostock eine Stabilisierung bei knapp 200.000 Einwohnern.
- 128
Der Altersaufbau der Bevölkerung im Land befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen ist von knapp 15 Prozent im Jahre 1990 auf etwa 25 Prozent im Jahre 2003 angestiegen; für 2020 wird ein Anteil von 35 Prozent erwartet. Die Anteile der unter 20-Jährigen werden in der Größenordnung von 15 Prozent, der 20 bis 60-Jährigen in der Größenordnung von 50 Prozent liegen und damit jeweils etwa fünf Prozentpunkte niedriger als im Jahre 2003. Ein beträchtliche Rolle bei dieser Entwicklung spielt auch, dass zahlreiche junge Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren aus dem Land abwandern.
- 129
Der Haushalt des Landes befindet sich in einer strukturellen Schieflage. Die Finanzausstattung ist gegenwärtig noch besser als diejenige der finanzschwachen westdeutschen Flächenländer. Sie wird aber rückläufig sein. Der Schuldenstand ist hoch. Land und Kommunen haben relativ zu hohe Ausgaben, insbesondere wegen Personalüberhängen. Die Kommunen stehen unter Konsolidierungsdruck, gerade auch bei Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung. Investitionen gehen zurück; Kassenkredite steigen an.
- 130
Mit der Bevölkerungsabnahme verringern sich die Einnahmen aus Steuern und Finanzzuweisungen; das Land verliert Einnahmen aus Steuern und Länderfinanzausgleich in Höhe von etwa 2.300 Euro pro Einwohner und Jahr. Bis zum Jahre 2019 wird der Solidarpakt II abschmelzen und auslaufen. Die Entwicklung der Wirtschaft ist unbefriedigend; seit 2001 war sie rückläufig.
- 131
Die Organisation der Landesverwaltung ist nicht zweckmäßig. Sie ist bei den unteren Landesbehörden durch eine Vielzahl von Sonderbehörden und teilweise durch Kleinteiligkeit geprägt ist.
- 132
2. In dieser schwierigen Lage sind der Landtag und die Landesregierung berechtigt, die Strukturen der Verwaltung an die bereits laufenden und die prognostizierten Entwicklungen der vorhersehbaren Zukunft anzupassen. Sie haben vorausschauend und vorsorgend die drohenden Schäden und Gefahren vom Land und den Kommunen abzuwenden oder sie zumindest zu begrenzen.
- 133
Dies darf auch eine Kreisgebietsreform einschließen. Ein generell gesteigertes Vertrauen der Landkreise auf ihren Fortbestand aus dem Gesichtspunkt, dass es sich um eine Mehrfachneugliederung handele, kann nicht anerkannt werden (a). Eine Defizitanalyse war nicht erforderlich (b).
- 134
a) Es kann schon zweifelhaft sein, ob überhaupt eine Mehrfachneugliederung vorliegt. Sie setzt voraus, dass Neugliederungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne aufeinander folgen (Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 152). Durch die vorangegangene Landkreisordnung von 1993/94 sind keine etablierten kommunalen Körperschaften durch neue kommunale Körperschaften abgelöst worden. Die im Jahre 1952 geschaffenen kleingliedrigen Kreise waren staatliche Einheiten ohne das Recht zur Selbstverwaltung. Das Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung) vom 17.05.1990 (GBl. DDR I S. 255) war nur ein erster Schritt der Angleichung der Rechtsverhältnisse auf kommunaler Ebene (vgl. ThürVerfGH, Urt. v. 18.12.1996 - VerfGH 2/95 -, LVerfGE 5, 391, 418 = NVwZ-RR 1997, 639). Die Gebietsstruktur war durch das neue Land Mecklenburg-Vorpommern zwingend zu verändern, damit überhaupt substanzielle kreisliche Selbstverwaltung im Lichte der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV möglich wurde.
- 135
Aber auch wenn angenommen wird, eine Mehrfachneugliederung liege vor, ist es nicht geboten, die umstrittene Kreisgebietsreform nach den besonderen Grundsätzen zu behandeln, die in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sogenannten Rück-Neugliederungen entwickelt worden sind (vgl. BVerfGE 86, 90, 110; 91, 70, 78). Die Veränderung der Gebietsstruktur durch die Landkreisneuordnung von 1993/94 geschah in einer Zeit des Umbruchs, als noch nicht vorhersehbar war, ob die Erwartungen über die Entwicklung des Landes erfüllt werden. Dem Gesetzgeber muss es aber möglich sein, seine Zielvorstellungen zu ändern und andere Prioritäten zu setzen, wenn eine Veränderung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen oder zusätzlich gewonnene landesplanerische Erkenntnisse dies angezeigt erscheinen lassen (vgl. VerfGH NW, Urt. v. 15.03.1975 - VerfGH 26/74 -, OVGE 30, 287, 288). Eben dies trifft für Mecklenburg-Vorpommern zu. Die damaligen Prognosen haben sich als zu optimistisch erwiesen. Zum Anlass für eine neue Konzeption hat der Gesetzgeber Faktoren genommen, die in ihrer Bedeutung, die sie gegenwärtig erlangt haben, zum Zeitpunkt der Gebietsreform 1993/94 noch nicht erkennbar waren.
- 136
b) Wenn der Gesetzgeber sich durch grundlegende Änderungen der allgemeinen Verhältnisse im Land zu einer Gesamtreform veranlasst sehen darf, braucht er eine Defizitanalyse nicht darüber vorzunehmen, ob und in welcher Beziehung die bestehenden Landkreise und kreisfreien Städte konkret ihre Aufgaben nicht hinreichend erfüllen.
- 137
3. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist der Gesamtansatz von Landtag und Landesregierung, eine Funktionalreform mit einer Kreisgebietsreform zu verknüpfen. Bei der Entwicklung der Konzeption haben die beiden Verfassungsorgane Hand in Hand gearbeitet. Auf die von der Landesregierung am 21.01.2003 beschlossenen „Eckpunkte zur Reform der öffentlichen Verwaltung in Mecklenburg-Vorpommern“ (LT-Drs. 4/205) folgte der Beschluss des Landtages vom 12.05.2004 über eine „Grundkonzeption einer umfassenden Verwaltungsmodernisierung und Funktionalreform“ (LT-Drs. 4/1184). Diese Konzeption legte die Landesregierung ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 18.05.2005 (LT-Drs. 4/1710) zu Grunde. Die in der Grundkonzeption herausgestellten Ziele der Verwaltungsmodernisierung, welche die Landesregierung in den Gesetzentwurf aufgenommen hat, sind sämtlich gemeinwohlbezogen, nämlich: Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung; Steigerung der Leistungsfähigkeit der Verwaltung und Verminderung der Kosten; Schaffung transparenter, einfacher Verwaltungsstrukturen; Abbau bürokratischer Hemmnisse; Verbesserung der Bürgernähe durch Vereinfachung und Verkürzung der Entscheidungsstrukturen.
III.
- 138
In allen Verfahren haben die Beschwerdeführer und Antragsteller die Frage aufgeworfen, ob die neu gebildeten Kreise noch Kreise im Sinne von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV sind. Wären sie das nicht, so würde die Kreisgebietsreform eine verfassungswidrige Abschaffung der Kreise als Institution bedeuten. Aus der Sicht der Beschwerdeführer und der Antragsteller stellt sich die Neuordnung der Kreise so dar. Sie halten die Flächen der Kreise für so überdimensioniert, dass dort ehrenamtliche Verwaltung nicht mehr sinnvoll stattfinden könne. Wegen der Flächen und der Zuweisung zahlreicher Aufgaben, die bislang das Land unmittelbar wahrgenommen hat, sehen sie in Großkreisen eher staatliche Verwaltungsbezirke als kommunale Selbstverwaltungskörperschaften.
- 139
Was die Flächen angeht, sind Bedenken nicht von der Hand zu weisen. Mit den Großkreisen dringt das Land in der Tat in eine neue Dimension vor. Die neuen Kreise wären die flächengrößten Kreise der Bundesrepublik, teilweise mit weitem Abstand. So würde der Kreis Westmecklenburg mit 6.997 qkm den mit 3.058 qkm bisher größten Landkreis Uckermark in Brandenburg weit mehr als zweifach übertreffen, der Kreis Mecklenburgische Seenplatte würde mit 5.809 qkm fast die zweifache Fläche erreichen. Es ist noch nicht gelungen, überzeugungskräftig zu entwickeln, wo von Verfassungs wegen eine äußerste Grenze für die Fläche von Kreisen liegt und wie weit die Grenze bei Einbeziehung weiterer Faktoren - etwa Verkehrsinfrastruktur und Bevölkerungsdichte - variabel wäre. Auch war bisher noch kein Verfassungsgericht eines Bundeslandes vor die Frage gestellt, ob Kreise, wie sie durch die §§ 73 bis 77 FKrG M-V festgelegt sind, noch dem verfassungsrechtlichen Bild des Kreises gerecht werden.
- 140
Das Landesverfassungsgericht hat sich entschieden, diese kaum generell zu beantwortende Frage, obgleich sie als logisch vorrangig angesehen werden kann, dahinstehen zu lassen, da die Kreisgebietsreform jedenfalls aus anderen Gründen verfassungswidrig ist.
IV.
- 141
Die §§ 72 bis 77 FKrG M-V sind verfassungswidrig, weil im Verwaltungsmodernisierungsgesetz wesentlichen Belangen der durch Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gewährleisteten Selbstverwaltung der Kreise nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht Rechnung getragen worden ist.
- 142
Von vornherein wurde – anknüpfend an die Planungsregionen - angestrebt und dann verwirklicht, dass die Verwaltung überwiegend einräumig und einheitlich wird, und zwar in Kreisen und Landesbehörden (1.). Wird ein solches Modell gewählt, so ist erforderlich, dass bei seiner Entwicklung und Würdigung im Gesetzgebungsverfahren die partizipatorisch-demokratischen Komponenten der kommunalen Selbstverwaltung im Blick behalten werden (2.). Der Zuschnitt der Kreise folgte maßgeblich aus dem Bestreben, bisher von Landesbehörden wahrgenommene Aufgaben in großem Umfang auf die kommunale Ebene zu verlagern (3.). Dabei hat der Gesetzgeber die kommunale Selbstverwaltung unter dem Blickwinkel der Erhöhung der Leistungskraft und der Aufgabenerweiterung der Kreise gewürdigt (4.). Indessen hat er die bürgerlich-demokratische Dimension der kommunalen Selbstverwaltung, soweit sie auf nachhaltiger Ausübung des Ehrenamts gerichtet ist, nicht hinreichend in eine Abwägung eingestellt (5.). Das Gesetz als Ergebnis zeigt, dass die kommunale Selbstverwaltung der Kreise in erheblichem Maße negativ betroffen ist (6.). Dem in dieser Lage geltenden verfassungsrechtlichem Gebot, weniger einschneidende Alternativen der Neugliederung wertend in das Gesetzgebungsverfahren einzuführen, ist der Gesetzgeber nicht hinreichend nachgekommen (7.).
- 143
1. In der Grundkonzeption des Landtages ist die Einräumigkeit der Verwaltung dahin umschrieben, dass die Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche von Behörden und öffentlichen Einrichtungen soweit wie möglich nach dem Prinzip der Einheit von Planungs-, Entscheidungs-, Vollzugs- und Kontrollräumen zu gestalten seien. Der weitere Grundsatz der Einheit der Verwaltung ist dahin gekennzeichnet, dass Aufgaben und Verantwortung soweit wie möglich bei einer Behörde oder Einrichtung zu konzentrieren seien.
- 144
Wie Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung verwirklicht werden sollten, lässt sich bereits aus den Eckpunkten der Landesregierung entnehmen. Um weitgehend Aufgaben vom Land auf die Kreise zu übertragen und um zugleich Defizite der gegenwärtigen Kreisstruktur zu bereinigen, wurde ins Auge gefasst, Regionalkreise unter Einbeziehung der gegenwärtig kreisfreien Städte zu bilden. Die Regionalkreise sollten jeweils über ein leistungsfähiges Oberzentrum verfügen. Daraus wurde gefolgert, dass die neuen Kreise im Wesentlichen den jeweils ein Oberzentrum enthaltenden vier Planungsregionen entsprechen sollten. Die im Auftrag des Kabinetts vom Innenminister eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe - IMAG - hatte als Vorgabe für ihre Vorschläge zur Übertragung von Aufgaben das Vier-Kreis-Modell.
- 145
Die Grundkonzeption des Landtages schloss sich an das Modell an. Freilich sind im Grundkonzept konkrete Angaben über die Anzahl der künftigen Kreise nicht enthalten. Indessen ist gesagt, die Landkreise seien erheblich zu vergrößern, das heißt zu Regionalkreisen zu entwickeln. Damit wurde der in den Eckpunkten verwendete Begriff aufgenommen. Ferner ist herausgestellt, dass die Integration der kreisfreien Städte in die Kreise geboten erscheine. Beides zusammengenommen indizierte vier an den Planungsregionen orientierte Kreise.
- 146
Der Regierungsentwurf eines Verwaltungsmodernisierungsgesetzes legte sich dann auf fünf Kreise fest, nachdem die Regierungskoalition sich darauf verständigt hatte, dass in der Planungsregion Vorpommern zwei Kreise gebildet werden sollten. Im Vorblatt ist unter „Alternativen“ angegeben: „Zur Ausfüllung des Leitbildes des Landtagsbeschlusses vom 12. Mai 2004 ist das Vier-Kreis-Modell denkbar.“
- 147
Im nachfolgenden parlamentarischen Verfahren blieb es bei dem Modell des Gesetzentwurfs.
- 148
2. Im Vergleich mit entsprechenden Vorhaben, die in anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt worden sind, weist die Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern gemäß §§ 72 bis 77 FKrG M-V Besonderheiten auf, die für die Entscheidung, ob die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gewahrt ist, bedeutsam sind.
- 149
Das Land ist mit seinem auf Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung in Verbindung mit der Orientierung an vorhandenen Planungsregionen gerichteten Reformansatz neue Wege gegangen. Die neuen Kreise sind mit Abstand die größten in Deutschland. Der Innenminister hat in der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 08.06.2005 geäußert, mit seinem Gesamtansatz betrete das Land verfassungsrechtliches Neuland (PlenProt. 4/59, S. 3456).
- 150
Indem er bereits auf der Ebene der Grundsätze der Verwaltungsmodernisierung die Einräumigkeit und die Einheit der Verwaltung in Großkreisen, die an die Planungsregionen anknüpfen, fixiert hat, ist der Gesetzgeber von dem Entscheidungsmuster abgewichen, nach dem gemeinhin umfassende Kreisgebietsreformen konzipiert und durchgeführt werden. In der Regel laufen solche Reformen nach einem schrittweisen Programm ab. In einem ersten Schritt werden allgemeine Ziele formuliert. Alsdann werden Leitbilder und Leitlinien festgelegt. Darauf folgt die Umsetzung der Ziele, Grundsätze und Maßstäbe in der Fläche durch die konkrete Abwägung nach entsprechender Sachverhaltsermittlung. Dabei folgen die Entscheidungen über den Zuschnitt der jeweiligen Kreise prinzipiell einem durch die vorangegangenen Schritte aufgestellten Leitbild, das für die Projizierung auf die Fläche Alternativen offen lässt. Dieses Schema ist dann auch Grundlage für die Prüfung durch die damit befassten Verfassungsgerichte der Länder (vgl. SächsVerfGH, Urt. v. 13.12.1996 - Vf. 21-VIII-95 -, LVerfGE 5, 311, 319 f. = SächsVBl. 1997, 79; ThürVerfGH, Urt. v. 08.09.1997 - VerfGH 8/95 -, LVerfGE 7, 361, 380 = VwRR MO 1997, 67; LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 1/94 -, LVerfGE 2, 273, 276, 285 = LKV 1995, 75, 76; LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 4/94 -, LVerfGE 2, 323, 324, 331 = SächsVBl. 1994, 236).
- 151
Anders als bei der Kreisgebietsreform von 1993/94 hat der Gesetzgeber für das Verwaltungsmodernisierungsgesetz in seinen Zielen und Grundsätzen kein Leitbild in diesem Sinne aufgestellt, das in einem weiteren Schritt noch konkret in der Fläche umzusetzen gewesen wäre. Ein Leitbild ist, wie der Begriff aus sich heraus sagt, ein Bild, das bei der Entscheidung, wie die einzelnen Kreise konkret zugeschnitten werden, den Gesetzgeber leitet, nicht aber selber schon den Zuschnitt abschließend festlegt. Dem entsprach das Gesetzgebungsverfahren zum Verwaltungsmodernisierungsgesetz nicht. Vielmehr stand bereits dadurch, dass die Grundsätze der an die Planungsregionen anknüpfenden Einräumigkeit und der Einheit der Verwaltung aufgestellt wurden, fest, wie der Zuschnitt der neuen Kreise sein würde. Modifiziert wurde dies lediglich insofern, als zwischen dem Vier-Kreis-Modell und dem Fünf-Kreis-Modell gewählt wurde.
- 152
Dieses im Gesetzgebungsverfahren zu Grunde gelegte Vorgehen ist als solches nicht von vornherein von Verfassungs wegen ausgeschlossen. Indessen hat es zur Konsequenz, dass der Gesetzgeber bereits bei seinen Festlegungen auf der Ebene der Grundsätze sämtliche Aspekte der kommunalen Selbstverwaltung und damit insbesondere auch ihre partizipatorisch-demokratischen Komponenten im Blick zu haben, sie in ihrem Eigenwert einzustellen und abzuwägen hat.
- 153
Dem genügt die Kreisgebietsreform nicht.
- 154
3. Das Verwaltungsmodernisierungsgesetz ist vornehmlich von dem Zweck getragen, eine effizientere, kostengünstigere Verwaltung im Land und in den Kreisen zu erreichen.
- 155
a) Von dem Bestreben geleitet, die Landesverwaltung organisatorisch zu bereinigen, ist im Gesetzentwurf als Grundlage für die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers Art. 70 Abs. 2 Satz 1 LV angeführt worden. Indessen sind, soweit die Kommunen betroffen sind, auch die Gesetzgebungskompetenzen aus Art. 72 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 LV einschlägig (s.o. C.I.2.b). Diese machen deutlich, dass das Verfassungsrecht eine gegenüber dem Recht der innerstaatlichen Organisation stärkere Steuerungskraft entfaltet, wenn Träger der kommunalen Selbstverwaltung betroffen, werden (vgl. Dreier in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 28, Rn. 178). Die Kreisgebietsreform ändert unmittelbar und nachhaltig die Kreisgebiete als Substrat der Ausübung kommunaler Selbstverwaltung. Die Übertragung neuer Aufgaben durch die Funktionalreform I betrifft die (neuen) Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften unmittelbar, soweit es sich um Selbstverwaltungsaufgaben handelt. Soweit den Kreisen Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung oder dem Landrat als unterer staatlicher Verwaltungsbehörde Aufgaben übertragen werden, sind sie als Selbstverwaltungskörperschaften mittelbar betroffen, da das jeweilige Gewicht der unterschiedlichen Aufgaben für die Struktur der Kreise Bedeutung hat. Die bislang kreisfreien Städte sind unmittelbar dadurch betroffen, dass ihnen durch den Verlust der Kreisfreiheit Aufgaben entzogen werden. Diese Gesichtspunkte müssen in eine Abwägung eingestellt werden, wobei sie freilich durch Gegengründe überwunden werden können, es sei denn, es wird in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung eingegriffen.
- 156
b) Wie in den Eckpunkten der Landesregierung, in der Grundkonzeption des Landtages und in der Begründung des Gesetzentwurfs des Öfteren hervorgehoben, orientiert sich die Schaffung der Großkreise an raumordnerischen Gesichtspunkten. Das bedeutet die (grundsätzliche) Identifizierung der Planungsregionen mit den künftigen Kreisen. In der Begründung des Gesetzentwurfs (S. 193) ist gesagt, mit den Planungsregionen existiere eine klare, übersichtliche Grenzziehung. Sie gründe auf eine abgewogene Entscheidung des Gesetzgebers zum Landesplanungsgesetz. Diese bilde einen sachgerechten, nachvollziehbaren Ausgangspunkt für die Kreisstrukturreform.
- 157
Dem könnte gefolgt werden, wenn die Planungsregionen zum „Ausgangspunkt“ in dem Sinne genommen worden wären, dass anschließend geprüft worden wäre, ob und wie die Planungsregionen und die Kreise besser miteinander kompatibel gemacht werden könnten. Das ist jedoch nicht geschehen. Vielmehr ist ohne Weiteres die raumordnerische Abwägung als grundsätzlich ausreichende Abwägung auch für die Kreisgebietsreform angesehen worden. Damit sind grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Bereichen vernachlässigt worden. Die Raumordnung ist Planung, welche die Kommunen übergreift, ihre Adressaten sind Aufgabenträger. Adressaten und Subjekte der kommunalen Selbstverwaltung sind die Bürger.
- 158
c) Die Entscheidung, die neuen Kreise an den Planungsregionen auszurichten, ist maßgeblich von dem Bestreben getragen, die bislang vom Land wahrgenommenen Verwaltungsaufgaben so weit wie möglich auf die Kreise zu übertragen. Der Zuschnitt der Kreise ist gerade im Hinblick darauf bestimmt worden, dass sie zur effizienten Wahrnehmung der neu zugewiesenen Aufgaben fähig sind.
- 159
aa) Schon aus den am 21.01.2003 beschlossenen Eckpunkten der Landesregierung (LT-Drs. 4/205) lässt sich das erschließen. Zwar sind dort in der Beschreibung der Ausgangslage (S. 2 f.) bestehende Leistungseinschränkungen gleichermaßen für die Verwaltungen der Landkreise und die Landesverwaltung dargestellt. Dann ist aber gesagt, die Funktionalreform erfordere Verwaltungseinheiten, die nach Größe und Personalausstattung in der Lage seien, die zu übertragenden Aufgaben wahrzunehmen (S. 9), das heißt eben die bislang vom Land wahrgenommenen Aufgaben. Ungeachtet dessen, dass im Folgenden (S. 10) auch Aufgabenbereiche der kommunalen Selbstverwaltung, die in größeren Strukturen besser zu erfüllen seien, genannt sind, war eine auf die staatlichen Belange fixierte Sicht entscheidend. Ob im Hinblick auf die kommunale Selbstverwaltung eine schonendere Reform angezeigt sein könnte, wurde nicht erwogen. Untersucht wurde, welche räumlichen Strukturen sich als Grundlage einer Reform der Landesverwaltung eignen (Anl. 6); indessen fehlt eine entsprechende Untersuchung, die auf die spezifischen kommunalen Belange abstellt. Daraus ergab sich das Modell von vier an den Planungsregionen mit je einem Oberzentrum ausgerichteten Regionalkreisen als Arbeitsgrundlage, die ergebnisoffen zu überprüfen sei (S. 10). Freilich zeigte sich in den weiteren Vorüberlegungen und im Gesetzgebungsverfahren, dass die einmal vorgenommene Fixierung auf die staatlichen Belange beibehalten wurde.
- 160
bb) Die auf Grund eines Kabinettsbeschlusses vom gleichen Tage durch den Innenminister gebildete interministerielle Arbeitsgruppe gab in ihrem Bericht (LT-Drs. 4/1210, Anl. 1) für alle Ressorts tabellarische Übersichten der für eine Verlagerung vorgesehenen Aufgaben. Dabei wurde jeweils danach unterschieden, ob die Zuweisung zur Wahrnehmung auf kommunaler Ebene ein Vier-Kreis-Modell voraussetze oder von ihm unabhängig („strukturunabhängig“) sei. Es fällt auf, dass bei der Qualifizierung als strukturunabhängig durchweg Einigkeit bestand. Soweit jedoch angenommen wurde, die Übertragung setze das Vier-Kreis-Modell voraus, stimmte der Landkreistag ganz überwiegend dagegen, zum großen Teil auch der Städte- und Gemeindetag. Ferner verneinte das Wirtschaftsministerium hinsichtlich der aus seinem Geschäftsbereich zu übertragenden Aufgaben - vornehmlich aus dem Bereich des Straßenbaus -, dass die Zuweisung das Vier-Kreis-Modell voraussetze. Das Finanzministerium verneinte dies hinsichtlich der Aufgaben des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
- 161
Der Bereich des Straßenbaus hat später in den parlamentarischen Beratungen eine beträchtliche Rolle gespielt. Ansonsten ist aber nicht ersichtlich, dass die Minderheitsvoten während der Vorbereitung und der Durchführung des Gesetzgebungsvorhabens in eine Abwägung eingestellt worden wären. In der Begründung des Gesetzentwurfs (S. 176) heißt es insoweit lediglich, die Aufgabenübertragungen im Rahmen der Funktionalreform I hätten im Wesentlichen ihre Grundlage in den Empfehlungen der IMAG.
- 162
cc) In der Grundkonzeption des Landtages vom 12.05.2004 (LT-Drs. 4/1184) ist ebenfalls der Ansatz deutlich, dass durch Vergrößerung der Kreise Verwaltungsräume geschaffen werden sollten, die für die Übertragung von Aufgaben, die bisher das Land wahrgenommen hat, geeignet sind. Es heißt dort, eine umfassende Verlagerung von Landesaufgaben erfordere die Entwicklung der bisherigen Landkreise zu Regionalkreisen (S. 4).
- 163
dd) Im Gesetzentwurf ist darauf abgestellt, dass sich bestimmte Aufgaben „erst von einer bestimmten Größe ab“ effektiv und wirtschaftlich bewältigen ließen (S. 196). Was mit einer bestimmten Größe gemeint ist, wird nicht beschrieben, sondern es ist nur unter Hinweis auf das von Seitz im April 2005 erstellte Gutachten „Die ökonomischen und fiskalischen Effekte der Verwaltungsreform in Mecklenburg-Vorpommern“ ausgeführt, dass die Effizienz bei Verteilung auf 18 Aufgabenträger - also die jetzigen Landkreise und kreisfreien Städte - nicht gegeben wäre. Darüber, ob zur hinreichend effektiven Erfüllung der bislang bei den Kreisen angesiedelten Aufgaben eine Verminderung um weniger als 13 Aufgabenträger genügen könnte, ist nichts gesagt. Der sich bei einer derartigen Fragestellung ergebende Befund ist deshalb auch nicht in die Abwägung eingestellt worden.
- 164
Vielmehr wird die Wahl des Modells der Übereinstimmung von Kreisen und Planungsregionen daraus hergeleitet, dass bei der Suche der „optimalsten“ räumlichen Struktur für die Funktionalreform I „ebenfalls die derzeitige Struktur der unteren Landesbehörden berücksichtigt werden“ müsse (S. 197). Dabei handelt es sich um die Weichenstellung. Denn im Hinblick auf die vorgefundene Vierer- bis Sechser-Struktur sei - so wird gefolgert (S. 200) - die Bildung von mehr als fünf Kreisen im Rahmen der Funktionalreform keine Alternative.
- 165
4. a) Eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung sieht der Gesetzgeber des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes vornehmlich darin, dass durch die Bündelung zahlreicher Aufgaben bei den Kreisen deren Leistungskraft im Sinne rationeller Aufgabenerfüllung gesteigert werde. Das ist zweifellos ein wichtiger Gesichtspunkt.
- 166
b) Der Gesetzgeber sieht die kommunale Selbstverwaltung - mittelbar - ebenfalls dadurch gestärkt, dass die Bedeutung der Kreise durch die Zuweisung zahlreicher neuer Aufgaben in den übertragenen Wirkungskreis gesteigert werde. Der Wertung, dass sich dadurch das Gewicht der Kreise insgesamt erhöht und dies sich positiv auf ihren Selbstverwaltungsbereich auswirken kann, ist nicht zu widersprechen.
- 167
In diesem Zusammenhang hat der Gesetzgeber durch Art. 3 Nr. 18 Buchst. c) bb) VerwModG M-V den § 115 Abs. 4 Satz 3 KV M-V geändert. Danach kann der Landrat bei der Durchführung der Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises sich mit dem Kreistag oder seinen Ausschüssen beraten; nach der bisherigen Rechtslage ist dies nur vorgesehen, soweit der Landrat bei der Durchführung solcher Aufgaben Ermessen hat. Die Auswirkung dieser Rechtsänderung wird eher gering sein. Ob der Landrat sich mit dem Kreistag berät, steht ihm frei; ein Recht des Kreistags und seiner Ausschüsse wird nicht begründet. Überdies sind rechtlich gebundene Entscheidungen im übertragenen Wirkungskreis einer wie auch immer gearteten Mitwirkung der Gremien nicht zugänglich. Ebenso bleibt ohne kompetenzielle Auswirkung, dass nach dem durch Art. 3 Nr. 21 Buchst. b) bb) VerwModG M-V geänderten § 119 Abs. 3 KV M-V der Landrat in allen bedeutenden Angelegenheiten aus seiner Tätigkeit als untere staatliche Verwaltungsbehörde den Kreisausschuss informiert.
- 168
Der Gesetzgeber hat erkannt, dass eine Übertragung zusätzlicher staatlicher Aufgaben die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV in Frage stellen kann (Gesetzentwurf S. 234 f.). Das Landesverfassungsgericht ist entgegen der von den Beschwerdeführern und Antragstellern hierzu vertretenen Ansicht der Auffassung, dass das Verwaltungsmodernisierungsgesetz unter diesem Gesichtspunkt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt. Wie in der mündlichen Verhandlung im Einzelnen erörtert, hat die Auswertung der von den Beschwerdeführern auf Anforderung eingereichten Aufstellungen über die von ihnen nach §§ 89, 90 KV M-V zu erfüllenden Aufgaben ergeben, dass - bei manchen Schwierigkeiten der Abgrenzung im Einzelnen - der Anteil der Aufgaben des eigenen Wirkungskreises wohl zwischen 30 und 40% liegt. Durch die Funktionalreform I verringert sich der Anteil in gewissem Umfang. Andererseits wird eine Reihe von Aufgaben - darunter die besonders gewichtige Regionalplanung - neu dem eigenen Wirkungskreis zugewiesen; hinzu kommt die Sonderregelung über die Schulentwicklungsplanung. Damit besteht keine die kommunale Selbstverwaltung gefährdende Disproportionalität.
- 169
c) Die neuen Selbstverwaltungsaufgaben verschaffen der Tätigkeit der Kreistage und somit der bürgerschaftlich-demokratischen Dimension der kommunalen Selbstverwaltung mehr Gewicht. Das liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung.
- 170
5. Die dargestellte Fixierung des Gesetzgebungsvorhabens auf die Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung hat dazu geführt, dass die bürgerschaftlich-demokratische Dimension der kommunalen Selbstverwaltung nicht mit dem vollen ihr von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht in eine Abwägung eingestellt worden ist. Die bürgerschaftlich-demokratische Dimension ist ihrem Wesen nach Behandlung und Entscheidung eigener Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft beziehungsweise der die Gemeinden übergreifenden Angelegenheiten auf Kreisebene. Kreise müssen so gestaltet sein, dass es ihren Bürgern typisch möglich ist, nachhaltig und zumutbar ehrenamtliche Tätigkeit im Kreistag und seinen Ausschüssen zu entfalten. Diesen Aspekt hat der Gesetzgeber vernachlässigt.
- 171
Es liegt auf der Hand, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit als Mitglied des Kreistages oder eines seiner Ausschüsse bei einer beträchtlichen Vergrößerung der Fläche eines Kreises ebenso beträchtlich erschwert werden kann und vielfach wird. Infolge des höheren Zeitaufwandes, der damit verbunden wäre, drohte erkennbar die Gefahr, dass die Bereitschaft von Bürgern, ein Ehrenamt auf Kreisebene wahrzunehmen, weiter nachlässt.
- 172
Wenn im Gesetzentwurf (S. 230 ff.) die Größe der Flächen mit dem Argument relativiert wird, die neuen Kreissitze seien für die Menschen ihrer Region gut erreichbar, so ist das Problem der Erschwerung von ehrenamtlicher Tätigkeit in großen Räumen, die der Gesetzgeber selbst als Regionen bezeichnet, nicht mit seinen verschiedenen Facetten in den Blick genommen (s. u. 6.).
- 173
Auf S. 236 f. wird für die jetzigen Landkreise und die künftigen Kreise verglichen, wie hoch die Anteile der Bevölkerung in Entfernungsringen um die Kreissitze sind. Dabei wird festgestellt, dass im Nahbereich der künftigen Kreissitze mehr Menschen wohnen werden als im Nahbereich der jetzigen Kreisstädte. Diese Mitteilung ist nicht aussagekräftig. Denn im Nahbereich der künftigen Kreissitze wohnen vor allem die Einwohner der jetzigen kreisfreien Städte. Werden sie herausgerechnet, so ergibt sich, dass weitaus weniger Einwohner der jetzigen Landkreise im Nahbereich eines Kreissitzes wohnen werden als heute.
- 174
Zum Fernbereich ist festgehalten, dass 21,28 % der Menschen mehr als 40 km Luftlinie vom Kreissitz entfernt wohnen werden. Der entsprechende Wert für die heutigen Landkreise ist mit 6,23 % angegeben. Schon das zeigt deutlich, dass mehr Menschen im Fernbereich leben werden. Aber auch hier ergibt sich ein zutreffendes Bild - mit noch weiter auseinander gehenden Vergleichszahlen - erst, wenn Prozentzahlen nach Herausrechnung der Einwohner der jetzigen kreisfreien Städte ermittelt werden.
- 175
Für die Größe der Kreise wird im Gesetzentwurf verfassungsrechtlich eine strikte Grenze nicht gesehen. Allein auf die bestehenden Landkreise in der Bundesrepublik zu schauen, würde „letztlich eine Blockade jedweden gesetzgeberischen Handelns bedeuten“ (S. 237). Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Notwendigkeit einer Abwägung nicht zu einer Blockade gesetzgeberischen Handelns führt. Es umschließt auch schonendere Reformen.
- 176
Weiter (S. 238) wird auf die Forderung des Landtages in seiner Grundkonzeption eingegangen, das ehrenamtliche Engagement müsse in überschaubaren Räumen unter Kenntnis örtlicher und regionaler Belange gewährleistet sein. Das entspreche „an sich“ - so der Gesetzentwurf - den den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zugedachten Funktionen. Insoweit sei allerdings darauf hinzuweisen, dass nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen eine großstädtische und regionale Identität wesentlich ausgeprägter sei als eine sogenannte Kreisidentität. Mit diesem Argument nahm der Gesetzentwurf das angeführte Element der Grundkonzeption nicht auf, sondern schob es für eine am Regionalen orientierte Lösung beiseite.
- 177
Den Darlegungen im Gesetzentwurf ist nicht zu entnehmen, dass die neuen Kreise noch überschaubar sind und dass in ihnen noch Kenntnis der örtlichen und regionalen Besonderheiten zu erwarten ist. Vielmehr ist dazu gesagt, man habe zu registrieren, dass Selbstverwaltung erhalten bleibe und durch Kreise mit gesteigerter Verwaltungskraft besser geleistet werden könne. Angefügt ist, die Ausdehnung der Verwaltungsräume werde durch die Einrichtung dezentraler Anlaufstellen und durch eGovernment relativiert. Diese Argumente betreffen indessen nicht die Überschaubarkeit der Kreise.
- 178
Dass die Bedeutung der Fläche abnehme, wird unter anderem durch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur bei Erhöhung des Kraftfahrzeugbestandes belegt (S. 242). Daraus ist lediglich die allgemeine Folgerung gezogen, es sei zumutbar, dass sich teilweise die Wege zum Kreissitz verlängerten.
- 179
Dass die bürgerschaftlich-demokratische Dimension der kommunalen Selbstverwaltung nicht mit dem ihr zukommenden Gewicht eingestellt worden ist, wird auch augenfällig in dem Abschnitt „Kommunale Selbstverwaltung und Kreise“ (S. 242 ff.). Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bedeutung der Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften marginalisiert wird:
- 180
Zum Kriterium einer „gewissen Ortsnähe“ ist gesagt, es gebe keine genauen Festlegungen, wie groß Kreise sein dürften, um die für ehrenamtliche Mitarbeit „förderliche“ Ortsnähe zu ermöglichen. Daraus wird gefolgert und nicht weiter begründet, dem Gesetzgeber stehe ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Demgegenüber war es Sache des Gesetzgebers, eben hierauf abwägend eine Antwort zu suchen. Stattdessen werden die andersartigen Gesichtspunkte gebracht, die nebenberuflich ehrenamtlich tätigen Kreistagsmitglieder könnten nicht alles entscheiden und außerdem sei eine Professionalisierung der Kreistagsarbeit vorgesehen. Diese Argumente werden der Eigenheit kommunaler Willensbildung nicht gerecht (s. u. 6.). Anschließend wird wiederholend ausgeführt, dass die örtliche und die regionale Identität für die Bürger in einer Gemeinde eine weitaus größere Rolle spiele als eine „vermeintliche Kreisidentität“ (S. 243). Das wird mit der geringen Beteiligung an Wahlen zu Kreistagen und von Landräten belegt. Eine geringe Wahlbeteiligung kann mancherlei Ursachen haben. Als Beleg für mangelnde Identifikation reicht sie noch nicht aus.
- 181
6. Überdies werden Kreise gebildet, die auch als Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens aus dem Blickwinkel der bürgerschaftlich-demokratischen Dimension der kommunalen Selbstverwaltung bedenklich sind. Insbesondere erscheint die in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV als ein prägendes Element der kommunalen Selbstverwaltung gewährleistete Ehrenamtlichkeit der Tätigkeit im Kreistag und in seinen Ausschüssen gefährdet, vor allem in den besonders groß dimensionierten Kreisen.
- 182
a) Das Landesverfassungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung den Kreistagspräsidenten, die dies wünschten, das Wort gegeben. Sie haben eindrückliche Angaben über ihre Kreistage und die Bedingungen, unter denen deren Mitglieder arbeiten, gemacht. Daraus ist hervorzuheben, dass es bereits jetzt in den Kreistagen weit überproportional Angehörige des öffentlichen Dienstes und Personen gibt, die einen Beruf nicht mehr oder noch nicht ausüben. Freiberuflich und selbständig gewerblich Tätige sind in den Kreistagen unterrepräsentiert, teilweise kaum noch vorhanden. Das hängt nicht zuletzt mit der - vor allem zeitlichen - Belastung zusammen, die ein Kreistagsmandat mit sich bringt. Kraftvolle Selbstverwaltung ist aber darauf angewiesen, dass Vertreter aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen sich zusammenfinden, um im Austausch der Meinungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kenntnisse und Erfahrungen lebensnahe, die Probleme bewältigende Entscheidungen zu treffen. Es ist vorauszusehen, dass in den neuen Kreisen die Selbstverwaltung sich noch deutlich weiter von kraftvoller Selbstverwaltung entfernen wird.
- 183
b) Die Arbeitslast der neuen Kreistage wird beträchtlich höher sein wegen der Selbstverwaltungsaufgaben, die den Kreisen im Zuge der Funktionalreform I zugewiesen werden. Das Landesverfassungsgericht stellt nicht in Abrede, dass eine Zunahme an Aufgaben im Grundsatz das Gewicht der kommunalen Selbstverwaltung erhöht. Das ist aber dann in Zweifel gezogen, wenn immer weniger Bürger es als für sich zumutbar ansehen, die mit einer Kreistagsmitgliedschaft zwangsläufig verbundene Last auf sich zu nehmen.
- 184
Dem lässt sich nicht dadurch begegnen, dass den Kreistagen angesonnen wird, sich bei der Befassung mit Angelegenheiten des Kreises zurückzuhalten und sich auf die „wirklich wichtigen“ Angelegenheiten zu beschränken. Nach § 104 Abs. 1 KV M-V ist, in Ausprägung der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV, der Kreistag die Vertretung der Bürger und das oberste Willensbildungs- und Beschlussorgan des Kreises. Aus diesen Funktionen folgt, dass er für alle wichtigen Kreisangelegenheiten zuständig ist. Der Kreistag hat - es neben den ihm in § 104 Abs. 3 KV M-V vorbehaltenen Aufgaben und den allgemeinen Kontrollrechten - in der Hand, unter anderem jede Angelegenheit auf Grund ihrer „politischen Bedeutung“ zum Gegenstand einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung zu machen (§ 104 Abs. 2 KV M-V). Damit liefern die Mitglieder des Kreistages mit ihren vor Ort gesammelten Erfahrungen wichtige Impulse für Infragestellungen und Neuerungen, an denen sich Identifikation des Bürgers festmachen kann (Wallerath, Verwaltungserneuerung, VerwArch 1997, 1, 11; vgl. auch Reiser, Zwischen Ehrenamt und Berufspolitik, Professionalisierung der Kommunalpolitik in den deutschen Großstädten, 2006, S. 204 ff.).
- 185
c) Die Arbeitslast vieler Kreistagsmitglieder wird beträchtlich höher sein wegen des größeren Zeitaufwands für die Wege zwischen Wohnung und Sitz der Kreisverwaltung. Dagegen kann nicht eingewandt werden, dies treffe nur auf eine Minderheit zu, da die Mehrheit oder jedenfalls viele Bürger am Kreissitz oder in dessen Nahbereich wohnten. Das ist weitgehend ein Ergebnis der Einkreisung der bisher kreisfreien Städte. Für die Bürger außerhalb der Nahbereiche der künftigen Kreisstädte aber verhält es sich in aller Regel so, dass sie - vielfach deutlich - längere Wege zurückzulegen haben, um zum Kreissitz zu gelangen. Gerade darauf, dass auch Bürger aus den entfernteren Bereichen zumutbar ein Kreistagsmandat wahrnehmen können, kommt es aber an. Sonst wäre nachhaltig in Frage gestellt, dass die Bevölkerung aller Gebietsteile des Kreises sich im Kreistag wiederfände. Es bestünde die Gefahr, dass Probleme der häufig strukturschwächeren Randbereiche nicht genügend in den Blick genommen würden.
- 186
d) Zweifelhaft ist, ob die Kreistagsmitglieder in den Großkreisen die Verantwortung, die sie in der Fläche haben, hinsichtlich der kreisintegralen Aufgaben und der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben der Kreise noch hinreichend wahrnehmen könnten. Die Überschaubarkeit des Gebiets, die ein Wesensmerkmal des Kreises im Sinne von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV ist, erscheint jedenfalls bei den größeren der Kreise fraglich. Schon zwischen dortigen Städten ist teilweise deutlich mehr als eine Stunde an Autofahrzeit aufzuwenden. Nochmals gesteigert sind die Entfernungen zwischen den Gemeinden. Dies gilt für die Kreise Westmecklenburg und Mecklenburgische Seenplatte in allen geographischen Richtungen.
- 187
Überschaubarkeit bedeutet, dass Kreistagsmitglieder sich auch über die Verhältnisse in entfernteren Bereichen des jeweiligen Kreises zumutbar eigene Kenntnis verschaffen können. Denn viele Entscheidungen, die im Kreistag getroffen und in seinen Ausschüssen vorbereitet werden, sind durch Raumbezug gekennzeichnet. Der Kreistag hat z.B. darüber zu befinden, wo er eine Straße ausbauen, wo er eine Schule errichten lässt, wo er Jugendhilfe fördert, welches Museum er einrichtet oder weiter betreibt. Die Wahrnehmung der Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion für die Gemeinden erfordert ebenfalls Kenntnisse über die örtlichen Verhältnisse.
- 188
e) „Um mögliche Demokratiedefizite bei Vergrößerung der Verwaltungsräume zu kompensieren“ (Gesetzentwurf S. 162), enthält das Verwaltungsmodernisierungsgesetz Änderungen des Kommunalwahlgesetzes (KWG M-V) und der Kommunalverfassung mit der Intention, die Arbeit der Kreistage und ihrer Mitglieder zu erleichtern. Sie können nur wenig dazu beitragen, eine kraftvolle, durch ehrenamtliche Tätigkeit getragene kommunale Selbstverwaltung vor der dargestellten Gefährdung zu bewahren.
- 189
Durch Art. 4 Nr. 3 VerwModG M-V ist § 4 Abs. 2 KWG M-V dahin neu gefasst, dass die Anzahl der Kreistagsmitglieder in Kreisen mit bis zu 300.000 Einwohnern 67 und in Kreisen mit über 300.000 Einwohnern 85 beträgt. Bisher beträgt sie in Landkreisen mit bis zu 100.000 Einwohnern 47 und mit über 100.000 Einwohnern 53. Bei höherer Anzahl kann die Kreistagsarbeit sich auf mehr Mitglieder verteilen; Möglichkeiten der Spezialisierung werden erhöht. Die deutlich höhere Belastung durch verantwortliche Wahrnehmung eines Kreistagsmandats wird aber bleiben.
- 190
Nach § 105 Abs. 4 KV M-V in der Fassung von Art. 3 Nr. 17 VerwModG M-V sind den Fraktionen Zuwendungen aus dem Kreishaushalt zu gewähren; dabei ist auch der Notwendigkeit angemessener Unterstützung durch hauptamtliches Personal Rechnung zu tragen. Zuwendungen können Erschwernisse der Arbeit in Grenzen mildern. Auch sie können das Problem der deutlich geminderten Überschaubarkeit der Verwaltungsräume nicht oder nur unwesentlich entschärfen. Nicht unbedenklich ist auch, dass Fraktionen in gesteigertem Maße bedacht werden sollen, während für Gruppen oder als Einzelmitglied Gewählte keine Unterstützung vorgeschrieben ist. Ob die Unterstützung durch hauptamtliches Personal im Grundsatz und in der Praxis für die kommunale Selbstverwaltung in Ausübung eines Ehrenamts eher förderlich oder nachteilig ist, kann durchaus unterschiedlich beurteilt werden. Hauptamtliches Personal kann durch Zuarbeit den Mitgliedern der Kreistage verlässliche Entscheidungsgrundlagen liefern. Die Unterstützung kann aber auch bedeuten, dass sich eine Tendenz zur Professionalisierung der Entscheidungsfindung durch ehrenamtliche Kreistagsmitglieder entwickelt. Die kommunale Selbstverwaltung könnte damit durch eine Wohltat in ihrem verfassungsrechtlich gesicherten Charakter geschmälert werden.
- 191
f) Zusammenfassend ist fraglich, ob in den Kreisen noch Aufbau der Demokratie von unten nach oben im Sinne von Art. 3 Abs. 2 LV geleistet werden kann. Der Kreis kann schwerlich als Schule der Demokratie wirken, wenn faktisch weite Kreise der Bevölkerung von der Tätigkeit im Kreistag ausgeschlossen sind. Gleiches gilt, wenn diejenigen, die sie wahrnehmen, die Grundlagen für verantwortliche Entscheidungen nicht verlässlich gewinnen können, weil sie die Gemeinden mit ihren Besonderheiten nur noch schwer im Blick haben können.
- 192
7. Ist danach das Ergebnis der Kreisgebietsreform – die Bildung von fünf Großkreisen – unter dem Blickwinkel der bürgerschaftlich-demokratisch geprägten Selbstverwaltung problematisch, so könnte es verfassungsrechtlich allenfalls hingenommen werden, wenn als Grundlage für eine verantwortliche Entscheidung der Abgeordneten des Landtages in das Gesetzgebungsverfahren oder wenigstens bei seiner Vorbereitung schonendere Alternativen wertend eingeführt worden wären. Nur so hätten die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Modelle für die Verwaltungseffizienz einerseits und für die bürgerlich-demokratische Komponente der kommunalen Selbstverwaltung andererseits sachgerecht in den Blick genommen werden können. Dies ist indessen nicht geschehen.
- 193
a) Es genügt nicht der Hinweis, die Opposition habe im Landtag keine Gegenmodelle vorgelegt. Freilich hat sie nach Art. 26 Abs. 2 LV die Aufgabe, nicht nur das Regierungsprogramm kritisch zu bewerten, sondern auch eigene Programme zu entwerfen. Das umfasst auch mögliche Gesetzgebungsinitiativen.
- 194
Unabhängig davon war es von Verfassungs wegen erforderlich, dass eine Abwägung der widerstreitenden Belange erfolgte, da es um ein tief in das Recht der kommunalen Selbstverwaltung eingreifendes Gesetzgebungsvorhaben ging. Zur Ermittlung des Sachverhalts hätte gehören müssen, durch Fakten und deren Bewertung die Auswirkungen der angestrebten Lösung sowie auch anderer die kommunale Selbstverwaltung weniger beeinträchtigender Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
- 195
Das Landesverfassungsgericht verkennt nicht, dass Gesetzgebungsvorhaben darauf ausgerichtet sind, verwirklicht zu werden. Dieses Ziel kann beeinträchtigt werden, wenn einer das Gesetzgebungsvorhaben tragenden Mehrheit angesonnen wird, sich in einem Gesetzentwurf oder wenigstens in den parlamentarischen Beratungen mit gegenläufigen Überlegungen auseinanderzusetzen. Auch das ändert aber nichts an dem Verfassungsgebot, bei der Kreisgebietsreform eine Abwägung unter Einbeziehung der verfassungsrechtlich gewährleisteten kommunalen Selbstverwaltung mit ihrem vollen Stellenwert vorzunehmen. Die Landesregierung oder der Landtag hätte vorbereitend oder begleitend zum Gesetzgebungsverfahren beispielsweise Gutachten zu unterschiedlichen Modellen einholen können, wie es – in Übereinstimmung mit der bewährten Praxis anderer Bundesländer – bei der Landkreisneuordnung von 1993/94 geschehen ist. Wird nicht so verfahren, ist es Aufgabe der Landesregierung, im Gesetzentwurf die notwendigen Grundlagen für die erforderliche Abwägung zu liefern; dazu hätten hier schonendere Alternativen gehört. Geschieht das nicht hinreichend, ist der Landtag selber gehalten, sich die Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen.
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b) Die Unterrichtung durch den Innenminister - „Zusammenstellung von Beiträgen und Untersuchungen zur Vorbereitung der Verwaltungsreform zur Information des Landtages“ - (LT-Drs. 4/1210) enthält keine Materialien, aus denen sich eine Abschätzung konkreter Alternativen mit Vor- und Nachteilen entnehmen ließe. Soweit rechtliche Beiträge von Wissenschaftlern, die dort wiedergegeben sind, Zurückhaltung gegenüber dem Vorhaben durchscheinen lassen, war dies entsprechend der Funktion der Beiträge nicht mit der Ausarbeitung von Alternativmodellen verbunden. In der „Zusammenfassung der Untersuchungen und Beiträge zu den Rechtsfragen der Verwaltungsreform“ (Anlage 3) zeigte sich keine Offenheit für andere Lösungen, sondern im Gegenteil eine Verengung auf die angestrebte Lösung. Es heißt dort, eine umfangreiche Funktionalreform setze die Bildung von Kreisen mit regionalem Zuschnitt voraus; damit könne dieses Kreismodell als einziges umfassende Gründe des öffentlichen Wohls für sich in Anspruch nehmen.
- 197
c) Der für die Raumordnung zuständige Minister hat in der 27. Sitzung des Landtags-Sonderausschusses „Verwaltungsmodernisierung und Funktionalreform“ über neun Modelle mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Kreisen referiert. Der eine Eckpunkt war das Modell, die Städte Greifswald, Stralsund und Wismar in die bestehenden Landkreise einzugliedern und den Städten Neubrandenburg, Rostock und Schwerin die Kreisfreiheit zu belassen. Den anderen Eckpunkt bildete das Modell von nur noch vier Kreisen, die mit den Planungsregionen identisch sein sollten (abgesehen von der Zuordnung des Landkreises Uecker-Randow zur Mecklenburgischen Seenplatte). Der Minister stellte dar, dass die oberste Landesplanungsbehörde das Modell von vier Kreisen bevorzuge. Den Bewertungen der verschiedenen Modelle lagen Abwägungen zu Grunde. Der Minister betonte jedoch, dass ausschließlich aus raumordnerischer Sicht gewertet worden sei. Er stellte - zutreffend - heraus, es könne nicht nur raumordnerisch und regionalpolitisch an die Fragen der Neugliederung herangegangen werden, sondern es sei auch die Betrachtung aus der Sicht der Finanzpolitik und der kommunalen Selbstverwaltung geboten.
- 198
d) Im Gesetzentwurf der Landesregierung findet sich keine Prüfung von alternativen Lösungen, die dem Verfassungsgebot der Abwägung unter Einstellung auch der bürgerschaftlich-demokratischen Dimension der kommunalen Selbstverwaltung genügen würde.
- 199
Die Frage von Alternativen wird im Hinblick auf die Erledigung der bisher von Landesbehörden wahrgenommenen Aufgaben gestellt und dahin beantwortet, dass in Anbetracht der Vierer- bis Sechser-Struktur dieser Behörden eine effiziente und ökonomisch sinnvolle Verteilung der spezialisierten Aufgaben auf 18 Aufgabenträger nicht möglich sei; zur Bildung von mehr als fünf Kreisen gebe es im Hinblick auf die Struktur der unteren Landesbehörden im Rahmen der Funktionalreform keine Alternative (S. 197 f., 200). Das ist ersichtlich keine an den Belangen der kommunalen Selbstverwaltung ausgerichtete Prüfung.
- 200
An anderer Stelle (S. 208) ist gesagt, ohne Einkreisung der kreisfreien Städte wäre das Gesamtkonzept der Reform nicht durchführbar, weil eine Aufgabenverlagerung unter Kosteneinsparung nur Sinn mache, wenn die Aufgaben nicht auf 18 Verwaltungsträger verlagert werden müssten.
- 201
Auf Seite 217 ff. finden sich Erörterungen unter der Überschrift „Alternativen?“. Eingangs ist hervorgehoben, die Reform der Kreisstrukturen, zumal sie eine Mehrfachneugliederung darstelle, sei nur zulässig, wenn es keine milderen, weniger einschneidenden, aber dennoch gleichermaßen geeigneten Mittel gebe, die Reformziele zu erreichen. Jedoch sei zu beachten, dass es sich um eine Gesamtreform handele, deren einzelne Ziele nicht isoliert erreicht werden könnten. Die Reform wolle die kommunale Selbstverwaltung insgesamt stärken, die Leistungsfähigkeit der Verwaltungen des Landes und der Kommunen steigern und dazu auf allen Ebenen transparente und einfache Strukturen schaffen.
- 202
Danach werden einzelne Alternativen, die teilweise schon im jeweiligen Zusammenhang diskutiert worden seien, „der Vollständigkeit halber nur kurz erwähnt“. Der Gesetzentwurf befasst sich dabei mit den Möglichkeiten, keine oder nur eine eingeschränkte Gesamtreform vorzunehmen oder die interkommunale Zusammenarbeit auszubauen oder Aufgaben auf andere Körperschaften zu verlagern. Schließlich wird die Alternative vorgestellt, die Kreise nur in geringerem Umfang zu vergrößern (S. 223 f.). Was dort ausgeführt wird, ist keine dem Recht der kommunalen Selbstverwaltung genügende Prüfung von Alternativen.
- 203
Da die umfassende Verwaltungsreform leistungsstarke Kreise ermöglichen wolle, so der Gesetzentwurf, erschließe sich der Sinn für eine Minimalreform zum Beispiel aus etwa acht Kreisen nicht. Damit würde man, wird weiter ausgeführt, ihre Leistungskraft auch nur in Maßen – wenn überhaupt – steigern. Das Landesverfassungsgericht kann nicht nachvollziehen, dass die Umbildung zu „etwa acht Kreisen“ als „Minimalreform“ gekennzeichnet wird.
- 204
Immerhin wäre es eine beträchtliche Veränderung gegenüber dem jetzigen Zustand mit zwölf Landkreisen und sechs kreisfreien Städten. Ebenfalls drängt sich die Frage auf, weshalb bei einer solchen – schonenderen – Gebietsreform nur eine mäßige und möglicherweise überhaupt keine Steigerung der Leistungskraft eintreten würde. Einsparungen und Effizienzgewinne sollen sich – das stellt der Gesetzentwurf weiter fest – erst ab einer gewissen Größe eines Kreises erzielen lassen und im Bereich der Verwaltungsleitung und der Querschnittsverwaltung besonders hoch sein. Was die „gewisse Größe“ ist, von der ab sich angeblich erst Einsparungen und Effizienzgewinne erzielen ließen, ist dem Gesetzentwurf nicht zu entnehmen.
- 205
Der Hinweis auf das Gutachten von Seitz, der die Analysen im Ergebnis bestätigt habe und aus ökonomischen und fiskalischen Erwägungen sogar eine Kreisstruktur mit vier Kreisen als ideal ansehe, bringt für die Prüfung, ob eine die kommunale Selbstverwaltung mehr schonende Lösung angebracht ist, nichts. In dem ökonomisch und fiskalisch orientierten Gutachten ist die bürgerschaftlich-demokratische Dimension der kommunalen Selbstverwaltung ausdrücklich ausgeblendet.
- 206
Die Darlegungen zu möglichen Alternativen kranken daran, dass stets an den Grundsätzen der Einräumigkeit und der Einheit der Verwaltung, wie sie in der Grundkonzeption des Landtages und im Gesetzentwurf verstanden werden, festgehalten wurde. Um zu einer sachgerechten Prüfung von Alternativen zu gelangen, hätten aber gerade diese Grundsätze zur Disposition gestellt oder relativiert werden müssen. Anderenfalls ergeben sich Zirkelschlüsse. So wird im Wesentlichen nicht in den Blick genommen, dass einer kreisfreien Stadt oder mehreren von ihnen die Kreisfreiheit belassen werden könnte. Dann würde es das herausgestellte Problem des Übergewichts im Kreistag nicht zu geben brauchen. Allenfalls zum Teil stichhaltig ist auch das Argument, bei kleineren Kreisen unter Einschluss der bisher kreisfreien Städte würden Schwerin und Neubrandenburg immer eine Randlage einnehmen. In den vom Raumordnungsminister vorgestellten mittleren Modellen von neun, acht und sieben Kreisen unter Beibehaltung jeweils der Kreisfreiheit von Rostock und Schwerin hat die Stadt Neubrandenburg keine Randlage. Wenn eine Randlage von Schwerin als unvermeidlich angesehen wird, hätte dies die Prüfung nahelegen können, die Stadt kreisfrei zu lassen.
- 207
Die Möglichkeit, nur einigen kreisfreien Städten die Kreisfreiheit zu belassen, wird nicht behandelt. Es ist nur generell gesagt, dass bei kleineren Kreisen ohne die kreisfreien Städte die Stadt-Umland-Beziehungen nicht angegangen würden. Es gibt sicherlich auch andere Möglichkeiten als die Einkreisung, solche Beziehungen sachgerecht zu regeln, zumal sie für eine kreisfreie Stadt nicht nur im Verhältnis zum angrenzenden Landkreis, sondern auch zu den angrenzenden Gemeinden zu bewältigen sind.
- 208
Es trifft zu, dass es bei mehr als fünf Kreisen nicht möglich wäre, die Einheit von Planungs-, Entscheidungs-, Vollzugs- und Kontrollräumen in der Art, wie sie im Gesetz bestimmt ist, aufrecht zu erhalten. Dieses Argument ist indessen keine Prüfung einer Alternative, sondern eine Selbstbestätigung des Gesetzes. Weiter ist gesagt, die gebietliche Übereinstimmung von Behörden und sonstigen öffentlichen Einrichtungen sei in einer kleinteiligeren Struktur nicht zweckmäßig, da sich die Verwaltungsträger vervielfachen würden. Wenn damit einzig auf Zweckmäßigkeit abgestellt wird, ist das staatliche Interesse an einer für seine Zwecke sinnvollen Behördenstruktur angesprochen, nicht aber das durch Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gewährleistete Recht der Kreise auf kommunale Selbstverwaltung.
- 209
Endlich wird dieses Recht verfehlt, wenn am Ende gesagt ist, eine Gebietsstruktur mit mehr als fünf Kreisen könne die kommunale Selbstverwaltung „nur eingeschränkt stärken“ bzw. sie würde nicht zu deren Stärkung führen. Denn dabei ist lediglich auf Einsparmöglichkeiten, erweiterte Gestaltungsspielräume und Leistungsfähigkeit im Sinne rationeller Verwaltung in großen Einheiten abgestellt.
- 210
e) Im parlamentarischen Verfahren änderte sich an dem Bild, dass schonendere Lösungen nicht geprüft wurden, nichts. Der Zwischenbericht des Sonderausschusses vom 13.01.2006 (LT-Drs. 4/2080) enthält nur eine Dokumentation der Anhörungsergebnisse ohne eigene Wertung. Ob dies dem Sinn einer ordnungsgemäßen Anhörung im Rahmen einer kommunalen Gebietsreform entsprach (vgl. BVerfGE 50, 195, 202; 86, 90, 107 f.), kann offen bleiben. Auch aus Beschlussempfehlung und Bericht des Sonderausschusses vom 27.03.2006 (LT-Drs. 4/2163) ist keine Abwägung im Hinblick auf Alternativen ersichtlich. Es heißt lediglich, dass es keine Alternativen gebe. „Die Ausschussmehrheit geht davon aus, dass die zukünftigen Anforderungen an die öffentliche Verwaltung in Mecklenburg-Vorpommern nur durch die vorgesehene Verwaltungsreform bewältigt werden können und die Kreisstrukturreform erst die Voraussetzungen für die hier empfohlene Funktionalreform schafft“ (S. 4).
V.
- 211
Das Landesverfassungsgericht sieht davon ab, die Nichtigkeit der §§ 72 bis 77 FKrG M-V festzustellen. Vielmehr spricht es aus, dass diese Vorschriften mit der Landesverfassung unvereinbar sind. Dafür sind die folgenden Gründe maßgeblich:
- 212
1. Die regelmäßige rechtliche Folge des Verstoßes einer gesetzlichen Vorschrift gegen die Landesverfassung ist deren Nichtigkeit. Hält im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle das Landesverfassungsgericht die beanstandete Rechtsvorschrift für unvereinbar mit der Landesverfassung, so stellt es nach § 42 (ehemals § 41) Abs. 1 Satz 1 LVerfGG ihre Nichtigkeit fest. Ebenso stellt es nach § 57 (ehemals § 56) LVerfGG bei Stattgabe einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz die Nichtigkeit der gesetzlichen Bestimmung fest. Nach der früheren Gesetzeslage war nicht vorgesehen, an Stelle der Nichtigkeit – lediglich – die Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung festzustellen. Auf dieser Grundlage hat das Landesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochen, dass bei Verfassungswidrigkeit einer Norm auf deren Nichtigkeit zu erkennen sei und ein sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung beschränkender Ausspruch ganz ausnahmsweise nur dann in Betracht komme, wenn eine Nichtigerklärung zu größerer Verfassungsferne im Grundrechtsbereich führen würde (LVerfG M-V, Urt. v. 21.10.1999 - LVerfG 2/98 -, LVerfGE 10, 337, 370 = LKV 2000, 149, 158; Urt. v. 18.05.2000 - LVerfG 5/98 -, LVerfGE 11, 265, 301 = LKV 2000, 345, 356; Urt. v. 07.07.2005 - LVerfG 8/04 -, LKV 2006, 23).
- 213
Indessen hat der Gesetzgeber durch Art. 1 Nr. 10 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Landesverfassungsgerichtsgesetzes vom 14.07.2006 (GVOBl. M-V S. 573) dem Landesverfassungsgericht ausdrücklich die Befugnis gegeben, Entscheidungsformeln anders zu fassen. Dem § 29 (ehemals § 28) LVerfGG ist Abs. 3 angefügt worden. Nach dessen Satz 1 kann das Landesverfassungsgericht, wenn es nach § 42 oder nach § 57 LVerfGG die Nichtigkeit einer Rechtsvorschrift festzustellen hat, stattdessen in Ausnahmefällen deren Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung M-V feststellen.
- 214
2. Von dieser Befugnis macht das Landesverfassungsgericht Gebrauch. Ein Ausnahmefall im Sinne der Vorschrift liegt vor. Ihn nimmt das Landesverfassungsgericht deshalb an, weil die §§ 72 bis 77 FKrG M-V vor der Verkündung dieses Urteils zwar als Gesetz erlassen, jedoch noch nicht in Kraft getreten sind. Die Vorschriften waren mit ihrer Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt äußerlich wirksam. Da sie nach Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V jedoch erst mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage im Jahre 2009 in Kraft treten sollten, waren sie noch nicht innerlich wirksam. Das können sie wegen ihrer Qualifizierung als verfassungswidrig durch das Landesverfassungsgericht auch nicht mehr werden.
- 215
3. Die Feststellung, dass die §§ 72 bis 77 FKrG M-V mit der Landesverfassung unvereinbar sind, hat Gesetzeskraft. Diese kommt nach § 29 Abs. 2 Sätze 1 und 2 LVerfGG Entscheidungen zu, durch die das Landesverfassungsgericht in Verfahren der Normenkontrolle und in Verfahren der Verfassungsbeschwerde die Nichtigkeit gesetzlicher Vorschriften feststellt.
- 216
Gesetzeskraft haben gleichermaßen Entscheidungen, durch die das Landesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit gesetzlicher Vorschriften mit der Landesverfassung feststellt. Dem steht nicht entgegen, dass in § 29 Abs. 3 LVerfGG die entsprechende Anwendung von dessen Abs. 2 Sätze 1 und 2 nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Vielmehr ist in § 29 Abs. 3 Satz 3 LVerfGG für den Fall der Feststellung der Unvereinbarkeit nur bestimmt, dass Abs. 2 Satz 3 entsprechend gilt; nach dieser Vorschrift hat der Ministerpräsident in den Fällen der Gesetzeskraft gemäß § 29 Abs. 1 Sätze 1 und 2 LVerfGG die Entscheidungsformel im Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen. Hieraus kann nicht gefolgert werden, dass die Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung keine Gesetzeskraft hätte. Das erschließt sich schon aus dem Sinn und Zweck des § 29 Abs. 2 Satz 3 LVerfGG. Die Veröffentlichung der Entscheidungsformel durch den Ministerpräsidenten dokumentiert, dass die Entscheidung Gesetzeskraft hat; m.a.W. setzt die Veröffentlichung durch den Ministerpräsidenten, die in § 29 Abs. 3 Satz 3 LVerfGG angeordnet ist, zwingend die Gesetzeskraft voraus. Dass auch Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts gemäß § 29 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG Gesetzeskraft zukommt, ergibt sich ferner daraus, dass die Unvereinbarkeit nur festgestellt werden darf, wenn an sich Nichtigkeit gegeben wäre, das Landesverfassungsgericht sich aber „stattdessen“ auf die Feststellung der Unvereinbarkeit beschränkt. Der Inhalt beider Aussprüche ist im Grundsatz gleich: Die jeweilige gesetzliche Vorschrift ist nicht mehr anwendbar, es sei denn, dass im Einzelfall das Landesverfassungsgericht für eine Übergangszeit anderes bestimmt (LVerfG M-V, Urt. v. 18.05.2000 - LVerfG 5/98 -, LVerfGE 11, 265, 301 = LKV 2000, 345, 352; Urt. v. 07.07.2005 - LVerfG 8/04 -, LKV 2006, 23).
D.
- 217
Auf Grund der Feststellung der Unvereinbarkeit der §§ 72 bis 77 FKrG M-V mit der Landesverfassung sind die anderen Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes überwiegend gegenstandslos (I.). Da zu den gegenstandslosen Vorschriften auch die mit dem Normenkontrollantrag angegriffenen §§ 79, 98 und 100 FKrG M-V, ferner der vom Landkreis Bad Doberan angegriffene Art. 3 Nr. 20 Buchst. a VerwModG M-V und schließlich der von den Landkreisen Ostvorpommern und Rügen incidenter zur Prüfung gestellte Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V gehören, ist über deren Verfassungsmäßigkeit nicht zu entscheiden (II.).
I.
- 218
1. Die Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes knüpfen überwiegend an die für verfassungswidrig befundene Kreisgebietsreform an. Sie sind mit der Feststellung, dass die §§ 72 bis 77 FKrG M-V mit der Landesverfassung unvereinbar sind, hinfällig; sie können, soweit sie bereits in Kraft getreten sind, nicht mehr angewendet werden, und, soweit sie noch nicht in Kraft getreten sind, nicht mehr in Kraft treten. Ihnen fehlt der Bezugspunkt, weil die neuen Kreise nach Maßgabe des Funktional- und Kreisstrukturreformgesetzes nicht eingerichtet werden dürfen. Das führt nicht dazu, dass die an die Kreisgebietsreform anknüpfenden Vorschriften ihrerseits ebenfalls verfassungswidrig wären, sondern dazu, dass sie gegenstandslos sind. Diese Sicht entspricht derjenigen des Bundesverfassungsgerichts, das ebenfalls in der Entscheidungsformel Vorschriften für gegenstandslos erklärt hat (BVerfGE 86, 90, 91). Eine Gesamtnichtigkeit, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes wegen eines von ihm gesehenen engen Zusammenhanges aller Teile des Gesetzes angenommen hat (BVerfGE 111, 226, 270 ff.; kritisch Sondervotum 274, 285), kommt hier nicht in Betracht. Ein enger Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform besteht bei manchen Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes nicht. Der Respekt vor dem Gesetzgeber verlangt, dass sie erhalten bleiben.
- 219
2. Es ist geboten, festzustellen, welche Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes wegen der Unvereinbarkeit der §§ 72 bis 77 FKrG M-V gegenstandslos sind. Bei der Komplexität des Artikelgesetzes mit der Bündelung von zwei Funktionalreformen sowie der Umstrukturierung von Teilen der Landesverwaltung kann aus dem Inhalt der einzelnen Vorschriften und deren Zusammenhang im Gesetz nicht immer eindeutig und für jedermann ohne Weiteres überzeugend entnommen werden, ob sie mit der Kreisgebietsreform stehen und deshalb mit ihr fallen. Unterbliebe die Feststellung, so würde im Land Rechtsunsicherheit um sich greifen.
- 220
3. Die Feststellung, welche Vorschriften gegenstandslos sind, obliegt dem Landesverfassungsgericht. Dem Landtag – und ebenso der Landesregierung – steht kein Verfahren zur Verfügung, mit dem in Zweifelsfällen rechtlich verbindlich festgestellt werden könnte, ob nach Ergehen des vorliegenden Urteils Normen des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes noch gelten oder nicht. Diese Aufgabe hat das Landesverfassungsgericht zu erfüllen.
- 221
Freilich ist im Landesverfassungsgerichtsgesetz lediglich bestimmt, dass das Landesverfassungsgericht einzig am Maßstab der Landesverfassung die Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit einer Vorschrift feststellt (s.o. C.V.1.). Vorliegend geht es um die Klarstellung, welche Wirkungen die Feststellung, dass die §§ 72 bis 77 FKrG M-V mit der Verfassung des Landes unvereinbar sind, auf den sonstigen Normenbestand des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes hat. Das ist ein Annex zur Feststellung der Unvereinbarkeit. Allein dieser Umstand löst die Frage aus, welche sonstigen Vorschriften gegenstandslos sind.
- 222
Danach ist es gerechtfertigt und geboten, dass das Landesverfassungsgericht in analoger Anwendung der §§ 42, 57 und 29 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG feststellt, in welchem Umfang die Verfassungswidrigkeit der Kreisgebietsreform zur Gegenstandslosigkeit anderer Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes führt.
- 223
4. Die Feststellung der Gegenstandslosigkeit hat dieselbe Wirkung wie die Gesetzeskraft einer Entscheidung des Landesverfassungsgerichts. Diese kommt nach § 29 Abs. 2 und 3 LVerfGG sowohl der Feststellung der Nichtigkeit als auch der Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung zu (s.o. C.V.3.). Die entsprechende Anwendung auch dieser Vorschriften ist gerechtfertigt und geboten. Anders wäre die zum Wohl des Landes unerlässliche Klarstellung, die neben dem Landtag, der Landesregierung sowie den Gerichten und Behörden im Lande auch die Bürgerinnen und Bürger bindet, nicht zu erreichen.
- 224
5. Überwiegend hängen die sonstigen Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes objektiv und nach dem Willen des Gesetzgebers untrennbar mit den verfassungswidrigen §§ 72 bis 77 FKrG M-V zusammen und sind somit gegenstandslos. Das trifft für alle Vorschriften zu, durch die im Rahmen der Funktionalreform I Aufgaben vom Land auf die Kreise sowie die großen kreisangehörigen Städte übertragen werden. Insoweit ist die Existenz der neuen Kreise – unter Einkreisung der bisher kreisfreien Städte – vorausgesetzt. Ferner sind die meisten Vorschriften der Art. 2 bis 28 über die Änderung von Landesgesetzen durch einen untrennbaren Bezug zur Kreisgebietsreform geprägt. Nach alledem spricht das Landesverfassungsgericht in I. 2. des Tenors die Gegenstandslosigkeit als Regel aus und stellt die Ausnahmen in einem Katalog fest.
- 225
6. Bei der Abgrenzung, welche Vorschriften gegenstandslos sind und welche nicht, lässt das Landesverfassungsgericht sich vom Willen des Gesetzgebers leiten. In einem ersten Schritt ist festzuhalten, dass zahlreiche Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes objektiv die Kreisgebietsreform nicht voraussetzen; so liegt es insbesondere bei der interkommunalen Aufgabenneuzuordnung im Rahmen der Funktionalreform II. In einem zweiten Schritt hält das Landesverfassungsgericht fest, dass ein Wille des Gesetzgebers, bei Verfassungswidrigkeit der §§ 72 bis 77 FKrG M-V sollte das Verwaltungsmodernisierungsgesetz vollständig hinfällig werden, nicht erkennbar ist; daraus, dass in der politischen Diskussion laufend die wechselseitige Abhängigkeit der Reformschritte herausgestellt worden ist, lässt sich ein so weitgehender Schluss nicht ziehen. Diese Einschätzung sieht das Landesverfassungsgericht dadurch bestätigt, dass nach Art. 29 Abs. 1 bis 3 VerwModG M-V ein beträchtlicher Bestand von Vorschriften bereits in Kraft getreten ist, darunter die Aufgabenneuzuordnung an Ämter und amtsfreie Gemeinden. In einem dritten Schritt ist das Landesverfassungsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass es dem Willen des Gesetzgebers am ehesten entspricht, wenn es an Art. 29 VerwModG M-V anknüpft. Soweit nach dessen Abs. 1 bis 3 Vorschriften bereits in Kraft getreten sind, ist daraus grundsätzlich zu schließen, dass für sie der Gesetzgeber selber einen untrennbaren Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform verneint hat. Sie sind daher in der Regel nicht gegenstandslos. Das gilt freilich nicht, soweit Vorschriften zu dem Zweck in Kraft getreten sind, die Kommunalverwaltung in die neue Kreisstruktur zu überführen; so liegt es im Grundsatz bei den §§ 78 bis 100 FKrG M-V.
- 226
7. Dies vorausgeschickt, sind einige Positionen des Katalogs zu erläutern:
- 227
a) Die §§ 69 bis 71 FKrG M-V haben nur insoweit Bestand, als sie sich auf die den Ämtern und amtsfreien Gemeinden neu zugeordneten Aufgaben beziehen. Sie sind mit dieser stillschweigenden Einschränkung in Kraft getreten.
- 228
b) Die §§ 78 bis 87 FKrG M-V sind flankierende Vorschriften zur Kreisgebietsreform und daher auch insoweit gegenstandslos, als sie bereits in Kraft getreten sind.
- 229
c) § 93 Abs. 1 FKrG M-V ist in seinem eigentlichen Anwendungsbereich gegenstandslos; er bleibt insoweit anwendbar, als in Abs. 2 seine entsprechende Geltung für Aufgaben der Ämter und amtsfreien Gemeinden bestimmt ist. Abs. 3 und 4 sind gegenstandslos. Von Abs. 5 behalten nur die Sätze 1 und 2 Bestand. Abs. 6 Satz 1 ist so zu lesen, dass er sich nur auf die Beteiligten nach Abs. 2 bezieht. Die Sätze 3 und 4 sind gegenstandslos, da sie auf Zeiträume nach Bildung der neuen Kreise abstellen, zu der es nicht kommen wird. Die Sätze 5 bis 7 sind gegenstandslos, da sie an die Funktionalreform I anknüpfen. Abs. 7 und 8 behalten Bestand.
- 230
d) Die in § 97 FKrG M-V enthaltene Rechtsgrundlage für das Sondervermögen Verwaltungsmodernisierung entfällt. Das Land wird die Abwicklung zu regeln haben.
- 231
e) § 99 Abs. 1 FKrG M-V hat Bestand. Durch die Vorschrift ist ein Gesetzgebungsauftrag erteilt, um die Finanzausstattung der Ämter und amtsfreien Gemeinden der Übertragung neuer Aufgaben im Zuge der Funktionalreform II anzupassen. Der Auftrag ist in Art. 20 VerwModG M-V umgesetzt.
- 232
f) Der in § 100 FKrG M-V erteilte Auftrag zur Neuregelung des kommunalen Finanzausgleichs ist als gesetzlich fixierte Verpflichtung gegenstandslos, da er an das In-Kraft-Treten des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes nach dessen Art. 29 Abs. 5 anknüpft.
- 233
g) Die in § 101 FKrG M-V festgelegte Pflicht der Landesregierung, dem Landtag einen Bericht zur Entwicklung der Gemeindestrukturen zu erstatten, hat Bestand; die Frist zur Vorlage des Berichts ist zwischenzeitlich abgelaufen.
- 234
h) In Art. 5 VerwModG M-V – Änderung des Sparkassengesetzes – haben die wegen der Umbenennung in „Ostdeutschen Sparkassenverband“ vorgenommene redaktionelle Änderungen Bestand. Bei den übrigen Vorschriften besteht ein untrennbarer Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform.
- 235
i) Bei Art. 20 VerwModG M-V – Änderung des Finanzausgleichsgesetzes – hat der Gesetzgeber in Art. 29 Abs. 1 die Nr. 8 Buchst. a insgesamt in Kraft gesetzt. Indessen sind die Doppelbuchstaben aa und dd gegenstandslos, da sie die Änderung des Wortlauts von „Landkreise“ in „Kreise“ enthalten.
- 236
j) Die Änderung des Wassergesetzes durch Art. 21 VerwModG M-V, soweit in Kraft getreten, hat offensichtlich keinen notwendigen Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform.
- 237
k) Gleiches gilt für die Änderung des Landesnaturschutzgesetzes durch Art. 23 VerwModG M-V.
- 238
l) Art. 29 Abs. 1 VerwModG M-V hat Bestand, soweit er das In-Kraft-Treten von Vorschriften regelt, die nicht gegenstandslos sind. Abs. 2 und 3 haben Bestand, wobei es in Abs. 3 Satz 1 nicht „20“, sondern „21“ heißen muss.
- 239
8. Wenn das Landesverfassungsgericht nur Vorschriften, die bereits in Kraft getreten sind, von der Gegenstandslosigkeit ausnimmt, so verkennt es nicht, dass bei einigen Normen, die erst gemäß Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V in Kraft treten sollen, objektiv ein notwendiger Bezug zur Kreisgebietsreform nicht bestehen dürfte. So verhält es sich bei einigen Vorschriften zur Funktionalreform I, soweit nämlich bisher vom Land wahrgenommene Aufgaben nicht auf die Kreise oder die großen kreisangehörigen Städte, sondern auf andere Gebietskörperschaften übertragen werden. Folgende Normen des Gesetzes über die Funktional- und Kreisstrukturreform seien genannt: § 8 Seemannsgesetz; § 22 Durchführung baufachlicher Prüfungen; § 33 Geschäftsstellen der Schiedsstellen; § 37 Sondernutzungserlaubnisse am Strand. Ebenfalls erscheint ein Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform nicht zwingend, soweit durch Art. 3 Nr. 7 Buchst. a und Nr. 19 Buchst. b in der Kommunalverfassung Anforderungen an Beigeordnete beider kommunaler Ebenen festgelegt werden. Indessen hat der Gesetzgeber seine Wertung dadurch getroffen, dass die genannten Normen nicht vor dem in Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V bezeichneten Zeitpunkt in Kraft treten sollen.
II.
- 240
Darüber, ob gegenstandslose Vorschriften, wären sie nicht hinfällig geworden, der Landesverfassung entsprechen würden, entscheidet das Landesverfassungsgericht nicht. Deshalb sei lediglich bemerkt:
- 241
1. Die Regelung des § 79 Abs. 1 Satz 3 FKrG M-V bezüglich der Bestellung von Stellvertretern für die Aufbaustäbe dürfte - wie in der mündlichen Verhandlung im Einzelnen erörtert - den Anforderungen an die demokratische Legitimation (vgl. BVerfGE 107, 59, 87 f.) genügen.
- 242
2. Die Regelungen über die Kosten der Funktionalreform I in § 98 FKrG M-V begegnen keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere die prozeduralen Anforderungen an die Wahrung des strikten Konnexitätsprinzips aus Art. 72 Abs. 3 LV erscheinen dem Landesverfassungsgericht mit Blick auf die Besonderheiten des Regelungsgegenstandes als gewahrt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass vom Gesetzgeber bei der Ermittlung der Kosten eine Prognose für das Jahr 2009 abverlangt wird. Dies führt zu Unsicherheiten und Ungenauigkeiten, die der Gesetzgeber durch die in § 98 Abs. 13 FKrG M-V geregelte Anpassungsklausel aufgefangen hat.
- 243
3. Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet § 100 Abs. 1 Satz 3 FKrG M-V. Die Vorschrift steht in keiner rechtlichen Beziehung zum Konnexitätsprinzip aus Art. 72 Abs. 3 LV. Im Übrigen hat das Land die Mittel für den kommunalen Finanzausgleich im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen. Dies hat das Landesverfassungsgericht in seinem Urteil zum kommunalen Finanzausgleich vom 11.05.2006 (LVerfG 1/05 u. a., NordÖR 2006, 443) niedergelegt.
- 244
4. Über die Verfassungsmäßigkeit von Art. 3 Nr. 20 Buchst. a VerwModG M-V hätte das Landesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde des Landkreises Bad Doberan auch dann nicht entscheiden können, wenn die Vorschrift nicht gegenstandslos wäre. Denn insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Die angegriffene Vorschrift über die Pflicht zur Bestellung hauptamtlicher Gleichstellungsbeauftragter würde erst die künftigen Kreise betreffen. Daher kann der Landkreis nicht im Sinne des § 52 Abs. 2 LVerfGG behaupten, durch sie in seinem Recht auf Selbstverwaltung verletzt zu sein. Jedoch ist in der mündlichen Verhandlung erörtert worden, dass die angegriffene Vorschrift mit ihrer Regelungsdichte verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen kann.
- 245
5. Der von den Landkreisen Ostvorpommern und Rügen incidenter angegriffene Art. 29 Abs. 5 VerwModG M-V regelt das In-Kraft-Treten des Gesetzes für die §§ 72 bis 77 FKrG M-V und für Vorschriften, die in Folge von deren Unvereinbarkeit mit der Landesverfassung gegenstandslos sind. Für die Norm ist daher kein Raum. Indessen hat, wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, das Landesverfassungsgericht keine Bedenken dagegen, das In-Kraft-Treten eines Gesetzes über die Reform der Kommunalverwaltung an den im Rahmen der Kommunalverfassung bestimmbaren Zeitpunkt der ersten Wahl zu den Kreistagen künftiger Kreise zu knüpfen.
E.
- 246
Die Verfahren sind nach § 33 Abs. 1 LVerfGG kostenfrei. Gemäß § 34 Abs. 1 LVerfGG sind den beschwerdeführenden Landkreisen ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Das Landesverfassungsgericht ordnet nach § 34 Abs. 2 LVerfGG an, dass den Antragstellern des Normenkontrollverfahrens ihre notwendigen Auslagen ebenfalls zu erstatten sind.
F.
- 247
Die Entscheidung ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.
G.
- 248
Nach § 29 Abs. 2 Satz 3 LVerfGG hat der Ministerpräsident die Entscheidungsformel (I. des Urteilstenors) im Gesetz- und Verordnungsblatt Mecklenburg-Vorpommern zu veröffentlichen.
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