Beschluss vom Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz - VGH B 7/06
Der Beschluss des Amtsgerichts Altenkirchen vom 1. Februar 2006 - 70 C 232/05 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Altenkirchen zurückverwiesen.
Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführerin ist die Hälfte der durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren verursachten notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten.
Gründe
I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Urteil und die Zurückweisung einer hiergegen erhobenen Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs.
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1. Mit Urteil vom 17. Oktober 2005 verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführerin – die Beklagte des Ausgangsverfahrens – im schriftlichen Verfahren zur Zahlung des von der Klägerin geforderten Betrages. Auf die hiergegen gemäß § 321a ZPO erhobene Gehörsrüge führte das Amtsgericht mit Beschluss vom 30. November 2005 das Verfahren fort. Zur Begründung gab das Gericht an, es hätte die Beschwerdeführerin darauf hinweisen müssen, dass eine von ihr aufgestellte Behauptung nicht hinreichend substantiiert und verständlich sei. Zugleich bestimmte das Amtsgericht eine Frist zur Einreichung etwaiger weiterer Schriftsätze sowie den Termin zur Verkündung einer Entscheidung. Daraufhin vertieften sowohl die Klägerin als auch die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen zur Klageforderung.
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Mit Schreiben vom 20. Januar 2006 wies das Amtsgericht darauf hin, dass nach Auffassung des nach einem Wechsel des Dezernats nunmehr zuständigen Richters die von der Beschwerdeführerin erhobene Gehörsrüge unbegründet sei. Aus dem angegriffenen Urteil gehe hervor, dass das Gericht den Sachvortrag der Beschwerdeführerin vollständig berücksichtigt habe, wenn auch möglicherweise mit falscher Würdigung. Letzteres stelle jedoch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, so dass die Rüge zurückzuweisen sei. Dem stehe auch nicht der Beschluss vom 30. November 2005 entgegen, da dieser keine Bindungswirkung entfalte. Mit ihm sei lediglich die Rechtsansicht des damals zuständigen Richters dargelegt worden.
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Durch Beschluss vom 1. Februar 2006 wies das Amtsgericht die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs zurück.
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2. Mit der gegen diesen Beschluss und das Urteil des Amtsgerichts erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 2 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –. Zur Begründung führt sie aus: Es verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, dass das Amtsgericht einen Teil ihres Vortrags als unsubstantiiert eingestuft habe, ohne einen entsprechenden Hinweis zu geben. Ferner sei das Gericht auch an seinen auf die Gehörsrüge nach § 321a ZPO ergangenen Beschluss über die Fortsetzung des Verfahrens gebunden. Dieser sei nicht von Amts wegen, sondern auf ihren Antrag ergangen und könne daher auch nur auf Antrag geändert werden. Außerdem habe der Beschluss verfahrensgestaltende Wirkung, die nicht rückgängig gemacht werden könne. Das Gericht habe im Übrigen die Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt. In seinem Vorgehen liege auch ein Verstoß gegen das Willkürverbot.
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3. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Eine Verletzung des Grundrechts aus Artikel 6 Abs. 2 LV sei nicht gegeben. Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Willkürverbot des Artikel 17 Abs. 2 LV seien ebenfalls nicht ersichtlich.
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Das Ministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.
II.
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1. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 ist zulässig.
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Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Rügen sind statthaft. Dies gilt sowohl für die ausdrücklich gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 6 Abs. 2 LV) und des in Art. 17 Abs. 2 LV enthaltenen Willkürverbots als auch für die der Sache nach gerügte Verletzung des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – befugt, die Durchführung des bundesprozessrechtlich geregelten Verfahrens der Gerichte an den Grundrechten der Landesverfassung zu messen, soweit diese den gleichen Inhalt wie entsprechende Rechte des Grundgesetzes haben (vgl. VerfGH RP, AS 29, 89 [91 ff.]). Der in der Landesverfassung garantierte Anspruch auf rechtliches Gehör ist inhaltsgleich mit der Gewährung in Art. 103 Abs. 1 GG. Das sich aus Art. 77 Abs. 2 LV ergebende Rechtsstaatsprinzip findet seine Entsprechung in Art. 20 Abs. 3 GG. Darüber hinaus ist der Verfassungsgerichtshof auch zur Prüfung befugt, ob die angegriffene Entscheidung gegen das Willkürverbot verstößt (vgl. VerfGH RP, AS 29, 215 und Beschluss vom 11. Februar 2004 – VGH B 23/03 –).
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Der Rechtsweg ist insoweit erschöpft (vgl. § 44 Abs. 3 VerfGHG); der Beschluss des Amtsgerichts ist unanfechtbar (vgl. § 321 a Abs. 4 Satz 4 ZPO). Die Verfassungsbeschwerdefrist des § 46 Abs. 1 VerfGHG ist gewahrt.
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2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 ist auch begründet.
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Das Amtsgericht hat den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 77 Abs. 2 LV) ergebenden Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren verletzt.
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a) Neben dem Gebot materieller Gerechtigkeit umfasst das Rechtsstaatsprinzip als wesentlichen Bestandteil auch die Gewährleistung der Rechtssicherheit. Um der Rechtssicherheit willen kann es geboten sein, einer durch gerichtliche Entscheidung geschaffenen Verfahrenslage endgültige Verbindlichkeit beizumessen, auch wenn sie inhaltlich möglicherweise in Frage zu stellen ist.
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Dem Gebot der Rechtssicherheit entspricht es, dass die Entscheidung eines Gerichts, der Gehörsrüge einer Partei gemäß § 321a Abs. 5 Satz 1 ZPO abzuhelfen und das Verfahren fortzuführen, für die Instanz bindend ist.
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Im Gegensatz zu frei abänderbaren prozessleitenden Anordnungen wird mit der einer Gehörsrüge abhelfenden Entscheidung das Verfahren in einen anderen Stand überführt: Nach § 321a Abs. 5 Satz 2 ZPO wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befand. Im schriftlichen Verfahren tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können (§ 321a Abs. 5 Satz 4 ZPO). Nur durch die Selbstbindung des Gerichts an seine einmal getroffene positive Entscheidung wird gewährleistet, dass das spätere Verfahren und insbesondere eine möglicherweise kostenaufwendige Sachprüfung auf einer prozessualen Grundlage durchgeführt wird, deren Bestand nicht mehr in Frage steht. Die Parteien haben daher aus Gründen der Rechtssicherheit einen Anspruch darauf, dass die aufgrund einer erfolgreichen Gehörsrüge entstandene prozessrechtliche Lage bestehen bleibt und vom Gericht nicht abgeändert werden kann.
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Insofern kann nach einer positiven Entscheidung über eine Gehörsrüge gemäß § 321a ZPO nichts anderes gelten als für die Entscheidung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Mit der Gewährung von Wiedereinsetzung wird ebenfalls eine neue prozessrechtliche Lage geschaffen, deren Bestand für das weitere Verfahren aus Gründen der Rechtssicherheit nicht mehr in Frage gestellt werden darf. Schon nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher die Wiedereinsetzungsgewährung für das Gericht selbst bindend (vgl. BGH, NJW 1954, 880; FamRZ 1993, 1191; NJW 1995, 2497; BAG, NJW 1972, 1684).
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b) Diesen sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen wird das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 1. Februar 2006 nicht gerecht. Mit seiner Abweisung der Gehörsrüge verkennt es die aus Gründen der Rechtssicherheit gebotene Bindung an seine zunächst getroffene Entscheidung, der Gehörsrüge der Beschwerdeführerin nach § 321a ZPO abzuhelfen und das Verfahren fortzuführen. Der Wechsel in der Person des zuständigen Richters ist für die Frage der Bindung des Gerichts ohne Belang. Unabhängig von der weiteren Frage, ob der Beschluss des Amtsgerichts zusätzlich auch das Willkürverbot oder den Anspruch auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführerin verletzt, ist der Verfassungsbeschwerde gegen den angegriffenen Beschluss mit dem Ausspruch der sich aus § 49 Abs. 2 und 3 VerfGHG ergebenden Rechtsfolgen stattzugeben.
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3. Mit dem Erfolg der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Februar 2006 ist der Rechtsweg gegen dessen Urteil vom 17. Oktober 2005 wieder eröffnet. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil ist daher mangels Erschöpfung des Rechtsweges derzeit unzulässig (vgl. § 44 Abs. 3 Satz 1 VerfGHG).
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4. Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist kostenfrei (§ 21 Abs. 1 VerfGHG). Der Ausspruch über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 21a Abs. 1 Satz 1 VerfGHG.
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