Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 5 K 1863/17.A
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. März 2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand:
2Die am 00.00.0000 in Daraa/Syrien geborene Klägerin, ausgewiesen durch einen syrischen Reiseausweis, ausgestellt am 26. Oktober 2015 von der syrischen Botschaft in Beirut, ist syrische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit.
3Nach eigenen Angaben floh sie mit ihrem damaligen Ehemann und den drei gemeinsamen Kindern am 18. November 2015 in die Türkei und reiste am 28. November 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (BüMA) datiert vom 8. Dezember 2015. Am 2. September 2016 stellte die Klägerin einen Asylantrag und wurde zugleich zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates angehört.
4Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt am 6. Januar 2017 gab die Klägerin zu ihren Asylgründen im Wesentlichen an:
5Sie habe mit ihrer Familie in Daraa, Almahata gelebt und in einem Salon als Visagistin gearbeitet. Ihre Mutter lebe im Libanon; zwei Brüder hielten sich noch im Heimatland auf. Erstmals habe sie Syrien mit ihrem Mann und den Kindern bereits 2012 verlassen; sie hätten bis 2015 in Beirut/Libanon im Flüchtlingslager Burj Albarajna gelebt. Da ihr Mann Palästinenser und der Aufenthalt der Palästinenser im Libanon nicht mehr verlängert worden sei, seien sie nach Syrien zurückgereist, um von dort aus nach Deutschland zu fliehen. 2012 hätten sie sehr viele Probleme in Syrien gehabt. Die FSA habe sich in der Nähe des Dorfes aufgehalten und sich in den Häusern versteckt. Die syrische Armee habe deshalb Häuser durchsucht und den Stadtteil auch bombardiert. Damals seien ihr Cousin und dessen Frau ums Leben gekommen. Ihre Kinder hätten Panik und Albträume gehabt.
6Mit Bescheid vom 17. März 2017, zugestellt am 29. März 2017 erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1.) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2.).
7Die Klägerin hat am 7. April 2017 Klage erhoben. Zur Begründung nimmt sie im Wesentlichen Bezug auf ihre im Rahmen der Bundesamtsanhörung vorgetragenen Asylgründe.
8Die Klägerin beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. März 2017 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
13Mit Bescheid vom 24. Mai 2017 erkannte das Bundesamt den 2009, 2010 und 2014 geborenen Kindern sowie dem damaligen Ehemann der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ehe der Klägerin wurde mit Beschluss des Amtsgerichts E. vom 26. Oktober 2018 geschieden. Auf gerichtliche Nachfrage hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass keine Sorgerechtsregelung getroffen wurde.
14Mit Beschluss vom 25. April 2017 hat die Kammer das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Diese hat mit Beschluss vom 4. Oktober 2017 der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der elektronischen Akten des Bundesamtes betreffend die Klägerin (E1 und E2) sowie betreffend den geschiedenen Ehemann der Klägerin und die drei gemeinsamen Kinder (E3 und E4) und die beigezogenen Ausländerakten betreffend alle Familienmitglieder (P1 bis P5).
16Entscheidungsgründe:
17Die zulässige Klage, über die die Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO ‑), ist begründet.
18Ziffer 2 des Bundesamtsbescheides vom 17. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Denn die Klägerin hat in dem für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes - AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 3 und 5 AsylG.
19Die Gewährung von Familienasyl (bzw. Flüchtlingszuerkennung) nach § 26 AsylG setzt neben dem Asylantrag keinen weiteren Antrag („Familienasylantrag“) voraus.
20Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Urteil vom 16. Oktober 2018 - 21 B 18.31010 -, juris, Rn 17.
21Aus den Gründen des Bundesamtsbescheides vom 24. Mai 2017 folgt, dass den 2009, 2010 und 2014 geborenen und damit allesamt minderjährigen Kindern der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft aus eigenen Gründen - und nicht etwa abgeleitet vom Vater - zuerkannt wurde, weil es sich um bei der U.N.R.W.A registrierte palästinensische Flüchtlinge handelt.
22Vgl. zum Erfordernis einer originären Schutzberechtigung des Stammberechtigen: BayVGH, Urteil vom 26. April 2018 - 20 B 18.30332 -, juris, Rn 27.
23Nach § 26 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 26 Abs. 5 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen ledigen Kindes, dem Flüchtlingsschutz zuerkannt wurde, auf Antrag ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:
241. die Anerkennung des Stammberechtigten ist unanfechtbar,
252. die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU hat schon in dem Staat bestanden, in dem der Stammberechtigte politisch verfolgt wird,
263. die Eltern sind vor der Anerkennung des Stammberechtigten eingereist oder haben den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt,
274. die Anerkennung des Stammberechtigten ist nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen und
285. die Eltern haben die Personensorge für den Stammberechtigten inne.
29Die Voraussetzungen der Ziffern 1 bis 4 liegen unzweifelhaft vor. Die Zuerkennungen der Flüchtlingseigenschaft für die minderjährigen Kinder der Klägerin mit Bundesamtsbescheid vom 24. Mai 2017 sind unanfechtbar und die Familie bestand bereits in Syrien (vgl. Heiratsurkunde über Eheschließung am 22. April 2008). Die Klägerin hat ihren Asylantrag auch unverzüglich nach der Einreise gestellt. Sie ist am 28. November 2015 in das Bundesgebiet eingereist und hat am 8. Dezember 2015 um Asyl nachgesucht (vgl. die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender). Der Umstand, dass die Klägerin aufgrund der Überlastung des Bundesamtes erst am 2. September 2016 den förmlichen Asylantrag stellen konnte, kann nicht zu ihren Lasten gehen.
30Anhaltspunkte dafür, dass der Leiter des Bundesamtes oder ein von ihm beauftragter Bediensteter gemäß § 73 Abs. 4 AsylG ein Widerrufsverfahren eingeleitet hat, bestehen nicht. Das Vorliegen von Widerrufsgründen hinsichtlich des Stammberechtigten ist im Familienasylverfahren nach § 26 AsylG nicht inzident zu prüfen.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2006 - 1 C 8/05 -, juris, Rn. 15ff.
32Schließlich ist die Klägerin auch im Besitz der Personensorge für die minderjährigen Kinder (Ziffer 5). Unabhängig davon, ob nach dem syrischen Personenstandsgesetz dem Vater der Kinder das alleinige Sorgerecht zusteht und die Rechte der Mutter de facto auf die Alltagssorge nach § 1687 Absatz 1 Satz 2 bis 4 BGB beschränkt sind, da sie "nur" - bis zu einem gewissen Alter der Kinder, das nach deren Geschlecht differiert - dazu verpflichtet ist, die Kinder großzuziehen (sog. Hadana),
33vgl. zusammenfassend und ausführlich zum syrischen Personenstandsrecht: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Syrien: Obsorgeregelung nach Scheidung, Einverständniserklärung des Vaters für die Ausreise des Kindes, 12. Januar 2017; AG Hameln, Beschluss vom 27. Februar 2017 - 31 F 34/17 EASO -, juris, Rn 24ff
34beurteilt sich die Frage, wie sich das Sorgerecht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung darstellt, nach Art. 15 bis 22 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ), das für die Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist; dies gilt auch dann, wenn das danach anzuwendende Recht, das eines Nichtvertragsstaates wie z.B. Syrien ist (vgl. Art. 20 KSÜ). Im Grundsatz (vgl. Art. 16 Abs. 1 KSÜ) werden nach diesen Vorschriften die Wirkungen des Eltern-Kind-Verhältnisses an das Recht des Staates angeknüpft, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, weil in diesem Rechtskreis auch vorrangig das praktische Bedürfnis zum Handeln besteht. Dementsprechend ist das Sorgerechtsstatut also durch die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar und die Zuweisung oder das Erlöschen der elterlichen Verantwortung bestimmt sich kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes.
35Vgl. z.B. Staudinger/Dieter Henrich (2014) EGBGB Art 21, Rn 25, wonach im Falle iranischer Eheleute, die mit ihren Kindern in Deutschland leben, nach Einbürgerung eines Ehegatten an die Stelle von walayat und hazanat die gleichberechtigte Sorge beider Eltern tritt; vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5. März 2013 - 18 UF 298/12 - NJW-RR 2013, 1157 Rn 17 m.w.N. zum Sorgerechtsstatut bei Wechsel von Russland nach Deutschland.
36Vorliegend steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die minderjährigen Kinder der Klägerin bereits vor der Ehescheidung durch Beschluss des Amtsgerichts E. vom 26. Oktober 2018 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hatten. Als gewöhnlicher Aufenthalt gilt grundsätzlich der Ort oder das Land, in dem der Minderjährige seinen tatsächlichen Daseinsmittelpunkt hat. Dies erfordert nicht nur einen Aufenthalt von gewisser Dauer, sondern auch das Vorhandensein weiterer sozialer Bindungen zu diesem Ort. Die Eingliederung in das soziale Umfeld muss also dazu geführt haben, dass die Bindung zu diesem Ort stärker ist als zu jedem anderen Ort. Hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts wird in der Regel eine Zeitspanne von sechs Monaten als erforderlich angesehen, was aber nicht bedeutet, dass im Fall eines Aufenthaltswechsels ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte und bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestünde. Der gewöhnliche Aufenthalt kann auch schon dann begründet sein, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt auf längere Zeitdauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen Daseinsmittelpunkt sein soll.
37Vgl. Staudinger/Dieter Henrich (2014) EGBGB Art 21 Rn 16ff
38Die Familie der Klägerin ist am 28. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist; die Kinder befanden sich also zum Zeitpunkt der Scheidung seit nahezu drei Jahren in Deutschland. Bereits am 2. September 2016 führte der Vater der Kinder in der Bundesamtsanhörung aus, dass keine Rückkehr nach Syrien beabsichtigt sei; sie hätten sich hier eingelebt und seine Kinder gingen hier zur Schule. Seit 24. Mai 2017 ist den Kindern die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Somit ist davon auszugehen, dass aufgrund der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland gemäß § 1626 BGB die elterliche Sorge den Eltern jedenfalls im Zeitpunkt der Scheidung gemeinsam zustand (vgl. Art. 16 Abs. 4 KSÜ: Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes, so bestimmt sich die Zuweisung der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes an eine Person, die diese Verantwortung nicht bereits hat, nach dem Recht des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts.); wann genau sich das Sorgerechtsstatut gewandelt hat, kann offen bleiben. Da im Zuge der - nach deutschem Recht erfolgten - Scheidung keine Regelung der elterlichen Sorge getroffen wurde, bleibt es beim gemeinsamen elterlichen Sorgerecht, so dass mithin im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - auch - der Klägerin die elterliche Sorge zusteht.
39Ob die Klägerin die begehrte Flüchtlingsanerkennung auch aufgrund von § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylG hätte beanspruchen können, kann offen bleiben, da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 AsylG dem begünstigten Familienangehörigen dieselbe Rechtsstellung wie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylG vermittelt.
40Vgl. BayVGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - 21 ZB 17.30451 -, juris, Rn. 8.
41Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.
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Referenzen
- § 73 Abs. 4 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 31 F 34/17 1x (nicht zugeordnet)
- 1 C 8/05 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze 1x
- § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- § 26 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- BGB § 1687 Ausübung der gemeinsamen Sorge bei Getrenntleben 1x
- § 26 Abs. 5 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 18 UF 298/12 1x (nicht zugeordnet)