Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 10 L 272/22
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung, mit der der Antragsteller die vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin im 2. - hilfsweise im 1. - Fachsemester des Modellstudiengangs Medizin nach den Rechtsverhältnissen des Sommersemesters 2022 bei der Antragsgegnerin anstrebt, ist unbegründet.
3Es fehlt an der erforderlichen Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Zulassung im 2. - hilfsweise im 1. - Fachsemester, weil die zur Verfügung stehenden Plätze kapazitätsdeckend besetzt sind und auch kein Anspruch auf eine vorläufige Zulassung innerhalb der festgesetzten Kapazität besteht.
4I. Der auf eine vorläufige Zulassung außerhalb der festgesetzten Kapazität gerichtete Antrag ist unbegründet.
5Durch die Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern an den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen zum Studienjahr 2021/2022 (VOhöhFS) vom 9. August 2021 (GV. NRW. S. 991), zuletzt geändert durch die Änderungsverordnung vom 22. Januar 2022 (GV. NRW. S. 52), hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein‑Westfalen (MKW) die Zahl der Studienplätze für das 2. Fachsemester des Modellstudiengangs Humanmedizin an der RWTH Aachen für das Sommersemester 2022 auf 278 festgesetzt.
6Nach Mitteilung der Antragsgegnerin vom 8. Juni 2022 (Stand: 8. Juni 2022), von deren Richtigkeit die Kammer vorliegend ausgeht, sind 289 Studierende für das 2. Fachsemester eingeschrieben, darunter zwei Beurlaubte. Eine darüber hinausgehende Kapazität besteht nicht.
71. Die Kapazitätsermittlung des MKW für das Studienjahr 2021/2022 hat die beschließende Kammer für das 1. Fachsemester des Modellstudiengangs Humanmedizin nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2021/2022 in verschiedenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bereits überprüft und die verordnungsrechtliche Zulassungszahl im Ergebnis als nicht kapazitätserschöpfend bewertet.
8Vgl. u. a. Beschlüsse vom 22. Februar 2022 ‑ 10 L 600/21 ‑ (zur inner- und außerkapazitären Vergabe) und - 10 Nc 5/21 - (zur ausschließlich außerkapazitären Vergabe), beide juris.
9a. Dabei ist die Kammer im Ausgangspunkt davon ausgegangen, dass jedenfalls solange andere plausible Rechenmodelle nicht zu höheren Kapazitäten führen, die Aufnahmekapazität im Modellstudiengang weiterhin (fiktiv) nach den Vorgaben der Kapazitätsverordnung zum früheren Regelstudiengang zu berechnen ist.
10Vgl. im Einzelnen: VG Aachen, Beschluss vom 22. Februar 2022 - 10 L 600/21 -, juris, Rn. 9 ff., 31 ff., m. w. N.
11b. Ausgehend hiervon hat die Kammer das in Deputatstunden (DS) gemessene Lehrangebot der Lehreinheit „Vorklinische Medizin“, der auch das hier relevante 2. Fachsemester „fiktiv“ zugeordnet ist und das in der Kapazitätsberechnung der Antragsgegnerin mit insgesamt 297 DS angesetzt wurde, kapazitätsrechtlich beanstandet und als zu niedrig befunden. Die Kammer hat insoweit beanstandet, dass das Lehrdeputat für zwei Stellen „Akademischer Rat ohne ständige Lehraufgaben“ lediglich mit jeweils 5 DS angesetzt worden ist, statt richtigerweise jeweils mit 8 DS. Dies hat nach Auffassung der Kammer zu einer Erhöhung des unbereinigten Lehrdeputats auf 303 DS geführt.
12Vgl. im Einzelnen: VG Aachen, Beschluss vom 22. Februar 2022 - 10 L 600/21 -, juris, Rn. 73 ff., 112.
13c. Unter Berücksichtigung eines Dienstleistungsexports für die Lehreinheit Zahnmedizin von 24,07 DS ergab sich ein bereinigtes jährliches Lehrangebot von ([303 DS - 24,07 DS = 278,93 DS] x 2 =) 557,86 DS.
14Vgl. im Einzelnen: VG Aachen, Beschluss vom 22. Februar 2022 - 10 L 600/21 -, juris, Rn. 112 ff., 126.
15d. Dieses bereinigte jährliche Lehrangebot von 557,86 DS ist durch den gewichteten Curricularanteil von 1,98 zu dividieren. Ausgehend hiervon hat die Kammer eine jährliche Aufnahmekapazität von gerundet 282 Studienanfängern ermittelt (557,86 : 1,98 = 281,747475). Unter Berücksichtigung eines Schwundausgleichsfaktors von 0,98 ergab sich bei einer rechnerisch ermittelten Zulassungszahl von 282 für das Wintersemester 2021/2022 im Ergebnis eine Studienanfängerzahl von gerundet 288 (282 : 0,98 = 287,76).
162. Diese Rechtsprechung der Kammer ist in verschiedenen Beschwerdeverfahren durch das OVG NRW überprüft worden. Dabei hat das OVG NRW die Kammer im Ausgangspunkt bestätigt, jedoch beanstandet, dass sie für die beiden Stellen für Akademische Räte ohne ständige Lehraufgaben nur jeweils 8 DS angesetzt hat. Richtigerweise sei für die beiden Stellen das aus § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV NRW folgende Regellehrdeputat in Höhe von 9 DS und nicht ein für die nicht stellenkonform eingesetzten wissenschaftlichen Angestellten (unbefristet) geltendes geringeres Lehrdeputat nach § 3 Abs. 4 Satz 4 LVV NRW anzusetzen. Das gründe im abstrakten Stellenprinzip. Im Ergebnis seien daher auf der Lehrangebotsseite zu dem von der Kammer berechneten unbereinigten Lehrangebot von 303 DS zwei Deputatstunden hinzuzurechnen.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2022 - 13 B 339/22 u. a. -, Bl. 2 ff., 5 des Beschlussabdrucks (unveröffentlicht).
18Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an. Richtigerweise wären in der Kapazitätsberechnung daher 305 DS auf Lehrangebotsseite zu berücksichtigen gewesen.
19Ausgehend hiervon berechnen sich bei diesem Lehrangebot, einem Dienstleistungsexport von 24,07 DS, einem gewichteten Curricularanteil von 1,98 und einem Schwundausgleichsfaktor von 0,98 für das 1. Fachsemester insgesamt 290 Studienanfängerplätze.
20Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Mai 2022 - 13 B 339/22 u. a. -, Bl. 2 ff., 5 des Beschlussabdrucks (unveröffentlicht).
21Die im Vergleich zur verordnungsrechtlich für das 1. Fachsemester festgesetzten Zulassungszahl von 282 insgesamt 8 zusätzlichen Studienplätze waren nach den Beschlüssen der Kammer vom 22. Februar 2022 (u. a. - 10 L 600/21 -) und des OVG NRW vom 23. Mai 2022 (- 13 B 339/22 u. a. -) aus Gründen effektiven Rechtsschutzes unter den obsiegenden Antragstellerinnen und Antragstellern der jeweiligen gerichtlichen Verfahren auszulosen und entsprechend der ermittelten Rangliste zu vergeben. Dies ist zwischenzeitlich geschehen.
223. Für das vorliegend relevante Sommersemester 2022 folgt hieraus, dass auch die für das 2. Fachsemester im Studienjahr 2021/2022 verordnungsrechtlich festgesetzte Zulassungszahl von 278 nach oben zu korrigieren ist.
23Unter Zugrundelegung eines nach dem sog. Hamburger Modell unter Berücksichtigung von insgesamt fünf aufeinanderfolgenden Stichprobensemestern (Wintersemester 2018/2019 bis einschließlich Wintersemester 2020/2021) ermittelten - und auch vom OVG NRW nicht beanstandeten - Schwundausgleichsfaktors von 0,98,
24vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2022 - 13 B 348/22 u. a. -, Bl. 2 ff. des Beschlussabdrucks (unveröffentlicht),
25ergibt sich eine durchschnittliche semesterliche Übergangsquote von 98,6546 %. Diese zugrunde gelegt errechnet sich ausgehend von 290 Studienanfängerplätzen für das 2. Fachsemester im Studienjahr 2021/2022 eine Kapazität von gerundet 286 Studienplätzen (290 x 98,6546 % = 286,10).
264. Die demnach im 2. Fachsemester vorhandenen 286 Studienplätze sind durch die nach der Mitteilung der Antragsgegnerin vom 8. Juni 2022 eingeschriebenen 287 Studierenden (ohne Beurlaubte) kapazitätsdeckend besetzt. Dass unter den eingeschriebenen Studierenden 8 Studierende sind, die ihren Studienplatz in einem gerichtlichen Verfahren nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2021/2022 erfolgreich erstritten haben, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Nach den Angaben der Antragsgegnerin sind diese Studierenden, zu deren Zulassung die Antragsgegnerin aufgrund der ergangenen gerichtlichen Entscheidungen verpflichtet war, im 2. Fachsemester eingeschrieben und nehmen damit die für dieses Fachsemester ermittelte Kapazität in Anspruch.
27Vgl. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 3. April 2019 - 6 B 10218/19 -, juris, Rn. 14 f., m. w. N.
28Eine vorläufige Zulassung des Antragstellers außerhalb der Kapazität kommt deshalb im Ergebnis ebenso wenig in Betracht wie eine (hilfsweise beantragte) auf den vorklinischen Abschnitt beschränkte Zulassung oder eine Verlosung offener Studienplätze. Eine Zulassung im - ebenfalls hilfsweise begehrten - 1. Fachsemester scheidet bereits deshalb aus, weil dieses an der RWTH Aachen aufgrund des Studienjahres in einem Sommersemester nicht angeboten wird.
29II. Der auf eine vorläufige Zulassung innerhalb der festgesetzten Kapazität gerichtete Antrag bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
30Nach § 34 Abs. 2 VergabeVO NRW wird die Zahl der an einer Hochschule in ein höheres Fachsemester aufzunehmenden Bewerberinnen und Bewerber (Zulassungszahl) auf den Unterschied zwischen der festgesetzten Zahl von Studienplätzen (Auffüllgrenze) und der Zahl der Studierenden, die sich innerhalb einer von der Hochschule zu bestimmenden Frist zur Fortsetzung ihres Studiums in dem entsprechenden höheren Fachsemester zurückgemeldet haben (Rückmeldungen), festgesetzt. Danach (noch) verfügbare Studienplätze werden von der Hochschule (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 VergabeVO NRW) in einer in § 35 VergabeVO NRW im Einzelnen festgelegten Rangfolge vergeben.
31Ein Vergabeverfahren durch die Hochschule findet mithin nur statt, wenn unter Berücksichtigung der Rückmeldungen noch Studienplätze verfügbar sind. Hier sind die 286 zu vergebenden Studienplätze durch die bereits erfolgten Rückmeldungen belegt. Dass die in den vorherigen gerichtlichen Verfahren nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2021/2022 erfolgreichen 8 Antragstellerinnen und Antragsteller zwischenzeitlich rückwirkend für das 1. Fachsemester eingeschrieben wurden und sich sogleich zum 2. Fachsemester „zurückgemeldet“ haben, ohne bislang Ausbildungsleistungen des 1. Fachsemesters in Anspruch genommen zu haben, ist den Besonderheiten einer nachträglichen außerkapazitären Zulassung aufgrund gerichtlicher Entscheidungen geschuldet und im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.
32Vgl. erneut OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 3. April 2019 - 6 B 10218/19 -, juris, Rn. 14 f., m. w. N.
33Ein innerkapazitäres Vergabeverfahren findet daher nicht statt; ein Anspruch auf vorläufige Zulassung innerhalb der Kapazität scheidet aus.
34Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
35Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und berücksichtigt, dass die begehrte Entscheidung die Hauptsache vorwegnimmt.
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Referenzen
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- § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 Abs. 4 Satz 4 LVV 1x (nicht zugeordnet)
- 13 B 348/22 1x (nicht zugeordnet)
- 10 L 600/21 4x (nicht zugeordnet)
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- 13 B 339/22 3x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 123 1x
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- 6 B 10218/19 2x (nicht zugeordnet)
- § 35 VergabeVO 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 920 Arrestgesuch 1x
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