Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 6 L 921/15
Tenor
Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers abgelehnt.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Gründe
2Bei dem Antragsteller sind die aus der nachfolgenden tabellarischen Auflistung ersichtlichen punkterelevanten Ereignisse vorgefallen. Hinsichtlich der einzelnen Zuwiderhandlungen und anderen Ereignisse wird auf die Verwaltungsakte verwiesen.
3Nach dem Straßenverkehrsgesetz in der bis zum 30. April 2014 gültigen Fassung ergab sich der folgende – vom Gericht errechnete – Punktestand:
4Lfd. Nr. |
Datum |
Ereignis |
Rechts-/ Bestands-kraft |
Tilgung |
Punkte einzeln |
Löschung von Punkten (§ 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG |
Punkte insg. |
|
20.03.2012 |
Mobiltelefon |
05.05.2012 |
1 |
1 |
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|
07.03.2012 |
Rotlichtverstoß |
07.06.2012 |
4 |
5 |
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|
02.06.2012 |
Geschwindigkeit |
10.08.2012 |
3 |
8 |
||
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31.08.2012 |
Verwarnung vom 29.08.2012 |
|||||
|
22.12.2012 |
Geschwindigkeit |
15.03.2013 |
1 |
9 |
||
|
21.04.2013 |
Geschwindigkeit |
04.09.2013 |
1 |
10 |
||
|
24.09.2013 |
Mobiltelefon |
08.11.2013 |
1 |
11 |
Laut StVG in der ab dem 1. Mai 2014 gültigen Fassung ergibt sich folgender Punktestand:
6Lfd. Nr. |
Datum |
Ereignis |
Rechts-/ Bestandskraft/Eintragung |
Tilgung |
Punkte einzeln |
Löschung von Punkten (§ 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG) |
Punkte insg. |
|
01.05.2014 |
NEUES PUNKTESYSTEM (Überführung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG; maßgeblicher Eintragungsstand 1. Mai 2014) |
5 |
||||
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07.03.2014 (19:13 Uhr) |
Geschwindigkeit |
10.06.2014 (Eintragung) |
1 |
6 |
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|
01.07.2014 |
Verwarnung vom 27.06.2014 |
|||||
|
03.04.2014 |
Abstand |
26.08.2014 (Eintragung) |
1 |
7 |
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07.03.2014 (11:18 Uhr) |
Abstand |
11.11.2014 (Eintragung) |
1 |
8 |
Nach Anhörung entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Ordnungsverfügung vom 11. Februar 2015 die Fahrerlaubnis und forderte den Antragsteller unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500,00 Euro zur unverzüglichen Abgabe des Führerscheins, spätestens bis zum 27. Februar 2015, auf. Zugleich setzte sie Verwaltungskosten in Höhe von 118,63 Euro einschließlich Auslagen fest.
8Der Antragsteller hat am 16. März 2015 Klage erhoben (6 K 2084/15), über die bislang nicht entschieden ist, und um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Diesen begründet er im Wesentlichen damit, dass die Geschwindigkeitsverstöße vom 7. März 2014 und 3. April 2014 vor der Punkteumstellung begangen worden seien und nach dem Tattagprinzip bei der Umrechnung zum 1. Mai 2014 hätten berücksichtigt werden müssen. Danach hätte eine Umrechnung von 14 Punkten nach altem Recht auf sechs Punkte nach dem neuen Punktesystem erfolgen müssen.Die Übergangsregelung nach § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG, wonach auf Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden und erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und die auf Grund des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. s StVG erlassenen Rechtsverordnungen in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung anzuwenden sind, sei offensichtlich verfassungswidrig. Es handele sich um einen Fall der unzulässigen, echten Rückwirkung. Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen Art. 3 GG, da es vom Zufall abhängig sei, wie eine vor dem Stichtag 1. Mai 2014 begangene Verkehrsordnungswidrigkeit punktemäßig bewertet werde.
9Der Antragsteller beantragt,
10die aufschiebende Wirkung seiner Klage (6 K 2084/15) gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 11. Februar 2015 anzuordnen.
11Die Antragsgegnerin beantragt,
12den Antrag abzulehnen.
13II.
14Das Gericht lehnt den auf § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gestützten Antrag des Antragstellers ab, die aufschiebende Wirkung seiner fristgemäß erhobenen Klage anzuordnen. Denn die Klage wird voraussichtlich erfolglos bleiben, weil der angegriffene, nach § 4 Abs. 9 StVG in der seit dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (StVG n.F.) sofort vollziehbare Bescheid nach überschlägiger Prüfung offensichtlich rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt.
15Ermächtigungsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte ergeben. Dies ist bei dem Antragsteller der Fall.
16Der Punktestand des Antragstellers vor dem 1. Mai 2014, der sich aus den bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG a.F. ergab, belief sich, wie sich aus vorstehender tabellarischer Auflistung ergibt, auf 11 Punkte. Dementsprechend wurde der Antragsteller gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG ab dem 1. Mai 2014 mit 5 Punkten in das Fahreignungs-Bewertungssystem eingeordnet.
17Die 11 Punkte, die sich aus den vor dem 1. Mai 2014 eingetragenen Verkehrsverstößen (lfd. Nr. 1.-3., 5-7.) ergaben, waren zum Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung auch nicht tilgungsreif. Die Tilgung und Löschung richtet sich bei den bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen nach § 29 StVG in der bis zu diesem Tag gültigen Fassung. Zwar betrug die Tilgungsfrist bei Entscheidungen wegen Ordnungswidrigkeiten nach altem Recht zwei Jahre (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F.). Diese unterlagen jedoch allesamt der Ablaufhemmung gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a.F., da jeweils vor Ablauf der Tilgungsfrist eine neue Tat begangen worden ist.
18Entgegen der Auffassung des Antragstellers sind die vor dem 1. Mai 2014 begangenen, aber erst nach dem 1. Mai 2014 ins Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstöße (lfd. Nr. 9, 11 und 12) nicht nachträglich in die Punkteumrechnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n.F. einzubeziehen.
19Zwar hat der Gesetzgeber das in der Rechtsprechung zu § 4 StVG a.F. entwickelte Tattagprinzip im Rahmen der letzten Änderung des Straßenverkehrsgesetzes beibehalten und nunmehr ausdrücklich geregelt (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Sätze 5 bis 7 StVG n.F.).
20Vgl. BT-Drs. 17/12636 S. 39: „Mit der Anknüpfung an das Tattagsprinzip für die Entstehung der Punkte übernimmt das Gesetz den vom Bundesverwaltungsgericht gewählten Anknüpfungspunkt (Urteil vom 25. September 2008, Az. 3 C 3/07)“; vgl. auch S. 41: „Für das Ergreifen von Maßnahmen hat die Behörde retrospektiv auf den Tag der letzten Zuwiderhandlung abzustellen, die mit ihrer Punktebewertung das Erreichen einer Stufe und damit eine Maßnahme auslöst. ... Maßnahmen werden bezogen auf den Tattag ergriffen und nicht bezogen auf den aktuellen Punktestand am Tag des Ergreifens der Maßnahme durch die Behörde“. – Vgl. zur Fortgeltung des Tattagprinzips auch OVG NRW, Beschlüsse vom 12. November 2014 – 16 B 1126/14 –, juris, und vom 15. April 2015 – 16 B 81/15 –, juris Rn. 5; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. November 2014 – 6 L 2677/14 –, juris.
21Für die hier in Rede stehende Frage, auf welcher Tatsachengrundlage bzw. unter Zugrundelegung welcher zeitlichen Abfolge die Umrechnung „alter“ in „neue“ Punkte zu erfolgen hat, ist in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n.F. aber eine Sonderregelung getroffen worden. Nach Satz 1 dieser Bestimmung sind Personen, zu denen bis zum Ablauf des 30. April 2014 eine oder mehrere Entscheidungen im – vormals so bezeichneten – Verkehrszentralregister gespeichert worden sind, nach der Tabelle zu § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n.F. in das (neue) Fahreignungs-Bewertungssystem einzuordnen. § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG n.F. bestimmt, dass die aufgrund dieser Einordnung am 1. Mai 2014 erreichte Stufe für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zugrundegelegt wird. Aus diesen Bestimmungen folgt mit hinlänglicher Klarheit, dass – von hier nicht einschlägigen Ausnahmen (§ 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG n.F.) abgesehen – für die Umrechnung des vormaligen Punktestandes in Punkte nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem ausschließlich auf die bei Ablauf des 30. April 2014 im (alten) Verkehrszentralregister eingetragenen Punkte abzustellen ist.
22Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2015 – 16 B 81/15 –, juris Rn. 5.
23Dies zugrunde gelegt war zu dem Punktestand zum 1. Mai 2014 nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem zunächst ein Punkt für die Ordnungswidrigkeit des Antragstellers vom 7. März 2014 um 19:13 Uhr (lfd. Nr. 9) hinzuzufügen. Die hinzuzurechnende Punktzahl für diesen Verkehrsverstoß richtet sich gem. § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG – die Ausnahme des § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 2 StVG war hier nicht einschlägig – nach neuem Recht, da obwohl die Tat zwar vor dem 1. Mai 2014 begangen, aber erst nach dem 1. Mai 2014 (nämlich am 10. Juni 2014) ins Fahreignungsregister eingetragen wurde. Für Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden und erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, ist nach § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG speziell angeordnet, dass hierauf das StVG und die aufgrund des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe s StVG erlassene Rechtsverordnung in der ab 1. Mai 2014 geltenden Fassung anzuwenden sind. In der Begründung der Bundesregierung zur entsprechenden Gesetzesvorlage heißt es: „Die Vorschrift ist aus Praktikabilitätsgründen für die Handhabung der Umstellung im KBA erforderlich“ (BT-Drs. 17/12636 S. 50). Da damit ein sachlicher, systemimmanenter Grund für die verschiedenartige Behandlung der Taten vorliegt, die vor und nach dem Stichtag des 30. April 2014 begangen worden sind, stellt sich die Frage nach einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) nicht. Stichtagsregelungen sind unvermeidlich mit gewissen Ungleichheiten verbunden, die grundsätzlich hingenommen werden müssen, wenn sie – wie hier – sachlich begründet sind.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Mai 2006 – 5 C 10/05 –, BVerwGE 126, 33 (= juris Rn. 66); BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987 – 1 BvR 564/84 u.a. –, BVerfGE 75, 78 (= juris Rn. 77).
25Auch greift der Vortrag des Antragstellers nicht durch, dass es sich hier um eine echte gesetzliche Rückwirkung handele, die gegen das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Rückwirkungsverbot verstoße.
26Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Der Bürger muss die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe grundsätzlich voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Es bedarf deshalb einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolgen eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert.
27Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 168 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.
28Jedoch geht der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht so weit, den Bürger vor jeglicher Enttäuschung seiner Erwartung in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu sichern. Die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich nicht geschützt.
29Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 168 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.
30Grundsätzlich erlaubt die Verfassung nur ein belastendes Gesetz, dessen Rechtsfolgen frühestens mit Verkündung der Norm eintreten. Die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitraum eintreten (Rückbewirkung von Rechtsfolgen, „echte“ Rückwirkung), ist grundsätzlich unzulässig.
31Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 169 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.; Beschlüsse vom 14. Mai 1986 – 2 BvL 2/83 –, juris (= BVerfGE 72, 200-278), und vom 3. Dezember 1997 – 2 BvR 882/97 –, juris Rn. 39 ff.
32Demgegenüber betrifft die tatbestandliche Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, ihr Tatbestand erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind.
33Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 – 2 BvL 2/83 –, juris Rn. 128 ff. (= BVerfGE 72, 200-278).
34Tatbestände, die den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig machen, berühren vorrangig die Grundrechte und unterliegen weniger strengen Beschränkungen als die Rückbewirkung von Rechtsfolgen.
35Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 170 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.
36Bei Gesetzen mit tatbestandlicher Rückanknüpfung wird den allgemeinen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit kein genereller Vorrang vor dem jeweils verfolgten gesetzgeberischen Anliegen eingeräumt. Denn die Gewährung vollständigen Schutzes zu Gunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen.
37Vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2002 – 2 BvR 305/93, 2 BvR 348/93 –, juris Rn. 73 (= BVerfGE 105, 17-48).
38Es muss dem Gesetzgeber daher möglich sein, Normen, die auch in erheblichem Umfang an in der Vergangenheit liegende Tatbestände anknüpfen, zu erlassen und durch Änderung der künftigen Rechtsfolgen dieser Tatbestände auf veränderte Gegebenheiten zu reagieren.
39Vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. September 1987 – 2 BvR 933/82 –, juris Rn. 172 (= BVerfGE 76, 256-362); Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 171 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.
40Die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis ergeben sich dabei aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl.
41Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 –, juris Rn. 172 (= BVerfGE 109, 133-190) m.w.N.
42Nach diesem Maßstab enthält die Vorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG keine Rückbewirkung von Rechtsfolgen, sondern eine tatbestandliche Rückanknüpfung. Mit der Regelung wird nicht in bereits abgeschlossene Sachverhalte eingegriffen. Vielmehr steht die Kraftfahreignung des Betroffenen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung in Rede, zu deren Beurteilung lediglich an in der Vergangenheit „ins Werk gesetzte“ Sachverhalte – nämlich in der Vergangenheit begangene Verkehrsordnungswidrigkeiten – angeknüpft wird und diese nach neuem Recht auf ihre Fahreignungsrelevanz hin bewertet werden.
43Das Vertrauen des Antragstellers, dass die von ihm aufgrund eigenen Fehlverhaltens vor dem 1. Mai 2014 zu verantwortenden Verkehrsordnungswidrigkeiten bei der Beurteilung seiner Kraftfahreignung entsprechend der Vorgaben der Straßenverkehrsordnung alter Fassung berücksichtigt und nicht nach neuem Recht in die Bewertung einfließen würden, erscheint bei der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung nicht derart schwerwiegend, als dass es in Abwägung mit den Interessen der Allgemeinheit an der mit der Neuregelung verfolgten Verbesserung der Verkehrssicherheit zur Erzielung einer effektiveren Gefahrenabwehr und dem Bedürfnis einer praktikablen Handhabung der Umstellung auf das Fahreignungs-Register
44vgl. BT-Drs. 17/12636, S. 1, 50,
45eines besonderen Schutzes im Rahmen der Neuregelung des Fahreignungs-Bewertungssystems bedürfte. Hinzukommt, dass das Vertrauen in die uneingeschränkte Anwendung des alten Fahreignungs-Bewertungssystems auf vor dem 30. April 2014 begangene Verkehrsordnungswidrigkeiten bereits vom Tag des Gesetzesbeschlusses des Bundestages über die Neuregelung des Fahreignungs-Bewertungssystems entfallen ist. Schützenswert ist das Vertrauen nach der verfassungsrechtlichen Rückwirkungsdogmatik nämlich grundsätzlich nur bis zu dem endgültigen Gesetzesbeschluss.
46Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Mai 1986 – 2 BvL 2/83 –, juris Rn. 136 (= BVerfGE 72, 200-278), und vom 10. März 1971 – 2 BvL 3/68 –, juris (= BVerfGE 30, 272-291). Vgl. zur Frage der Rückwirkung der Neuregelung des § 29 StVG durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz: OVG NRW, Beschluss vom 27. Dezember 2005 – 16 B 1430/05 –, amtl. Abdr. S. 3.
47Die hier maßgebliche Gesetzesänderung des Fahreignungs-Bewertungssystems (§ 4 StVG) und die diesbezügliche Übergangsregelung (§ 65 Abs. 3 StVG) wurden durch das fünfte Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze am 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313) beschlossen, also vor der Begehung der hier in Rede stehenden Verkehrsverstöße. Der Antragsteller konnte danach nicht darauf vertrauen, dass die von ihm danach, aber noch vor dem 1. Mai 2014 begangenen Verkehrsordnungwidrigkeiten in jedem Fall nach altem Recht in die Fahreignungsbeurteilung einfließen würden. Die Annahme des Antragstellers, weitere Verkehrsverstöße begehen zu können, ohne die Fahrerlaubnis zu verlieren, begründet schließlich bereits keinen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand.
48Daraus ergab sich zum 10. Juni 2014 ein Punktestand im Fahreignungsregister von 6 Punkten. Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller unter dem 27. Juni 2014 – zugestellt am 1. Juli 2014 – gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F. verwarnt. Zugleich hat sie den Antragsteller auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar nach § 4a StVG n.F, welches zu keinem Punktereduzierung führen würde, hingewiesen und darüber unterrichtet, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird (vgl. § 3 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG n.F.).
49Eine Ermahnung nach § 4 Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. hätte der Verwarnung nicht vorhergehen müssen. Zwar darf nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 (Ermahnung) und Nr. 3 (Entziehung) StVG n.F. erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG n.F. ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, sieht § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG n.F. vor, dass zunächst diese zu ergreifen und eine entsprechende Punktereduzierung vorzunehmen ist. Hiervon abweichend regelt § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG n.F. den besonderen Fall der Überführung des alten Punktesystems in das Fahreignungs-Bewertungssystem zum 1. Mai 2014 aber dahingehend, dass die Einordnung nach Satz 1 allein nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem führt. Hierzu wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, nur eine Zuwiderhandlung und das hierauf folgende erstmalige Erreichen einer Maßnahmenstufe – nach altem wie nach neuem Recht – führe zu einer Maßnahme.
50Vgl. BR-Drucks. 799/12, S. 99; BT-Drucks. 17/12636, S. 50; OVG NRW, Beschluss vom 7. Mai 2015 – 16 B 205/15 –, juris Rn. 3; Bay.VGH, Beschluss vom 7. Januar 2015 - 11 CS 14.2653 -, juris, Rn. 9, m.w.N.
51Vorliegend wurde der Antragsteller mit Überführung in das neue Punktesystem zum 1. Mai 2014 mit einem Stand von fünf Punkten in Stufe 1: Ermahnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, 65 Abs. 3 Satz 1 StVG n.F. eingeordnet. Mit Eintragung des Geschwindigkeitsverstoßes vom 7. März 2014 (19:13 Uhr) am 10. Juni 2014 hat er erstmalig die Maßnahmenstufe 2: Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F. erreicht. Dass er in der Vergangenheit erstmalig eine Maßnahmenstufe erreicht hätte, ohne dass die nach altem (bis 30. April 2014 geltendem) Recht vorgesehene Maßnahme ergriffen worden wäre, ist dem Verwaltungsvorgang nicht zu entnehmen. Vielmehr hat die Antragsgegnerin den Antragsteller bei Erreichen von 8 Punkten nach alter Rechtslage entsprechend § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 gültigen Fassung mit Schreiben vom 29. August 2012 verwarnt.
52Der Punktestand von sechs hat sich aufgrund der weiteren Verkehrsverstöße vom 3. April 2014 (lfd. Nr. 11) und vom 7. März 2014 um 11:18 Uhr (lfd. Nr. 12) auf insgesamt 8 Punkte erhöht. Die hinzuzurechnende Punktzahl für die jeweiligen Verkehrsverstöße richtet sich wiederum gem. § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG nach neuem Recht, weil die Taten zwar vor dem 1. Mai 2014 begangen, aber erst nach dem 1. Mai 2014 (nämlich am 26. August und 11. November 2014) ins Fahreignungsregister eingetragen wurden. Die Ausnahme des § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 2 StVG war auch hier nicht einschlägig.
53Mit Erreichen der acht Punkte im Fahreignungsregister hatte die Antragsgegnerin dem Antragsteller nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. die Fahrerlaubnis zu entziehen, ohne dass ihr ein Ermessensspielraum eingeräumt war.
54Die Pflicht, den Führerschein abzuliefern, ergibt sich als Folge der Fahrerlaubnisentziehung aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV. Danach besteht gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV analog auch im Fall einer angefochtenen Entziehungsverfügung die Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern, wenn der Sofortvollzug der Fahrerlaubnisentziehung entgegen dem Wortlaut des § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV nicht von der Behörde angeordnet wurde, sondern sich wie hier gemäß § 4 Abs. 9 StVG n.F. bereits aus dem Gesetz ergibt. Denn es ist kein Grund denkbar, der es rechtfertigen könnte, einem Betroffenen trotz entzogener Fahrerlaubnis den Führerschein zu belassen.
55Die nach § 112 JustizG NRW sofort vollziehbare Androhung des Zwangsgeldes ist nach §§ 55 ff. des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes NRW (VwVG NRW) offensichtlich rechtmäßig, insbesondere hinsichtlich der Frist zur Abgabe des Führerscheins und der Höhe des Zwangsgeldes nicht zu beanstanden.
56Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Das Interesse an der Fahrerlaubnis wird im Hauptsacheverfahren mit dem Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG angesetzt, wenn der Antragsteller – wie hier – nicht in qualifizierter Weise (etwa als Berufskraftfahrer) auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist. In Verfahren betreffend die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes ermäßigt sich der danach zu berücksichtigende Betrag von 5.000,- Euro um die Hälfte. Mit Blick auf § 80 Abs. 6 VwGO geht das Gericht in Ansehung von § 6a Abs. 3 Satz 1 StVG in Verbindung mit § 22 Abs. 1 Verwaltungskostengesetz in der bis zum 14. August 2013 geltenden Fassung davon aus, dass die Kostenfestsetzung nicht Gegenstand des Eilverfahrens ist und daher den Streitwert nicht erhöht.
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