Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 22 L 3599/16.A
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 12401/16.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. August 2016 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 26. Oktober 2016 sinngemäß gestellte Antrag,
3hat Erfolg.
5Der Antrag ist nach § 80 Absatz 5 VwGO, § 34a Abs. 2 S. 1 Asylgesetz (AsylG)
6in der Fassung der Bekanntmachung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 2 des Fünfzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I S.2460),
7zulässig. Insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides gewahrt. Der gemäß § 31 Abs. 1 S. 5 AsylG den Antragstellern selbst zuzustellende Bescheid ist diesen am 19. Oktober 2016 durch Zustellung im Wege der Übergabe des Bescheides an die Antragstellerin zu 1. durch Mitarbeiter der Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Düsseldorf gegen Empfangsbekenntnis wirksam bekannt gegeben worden, § 41 Abs. 5 VwVfG, § 5 Abs. 1 VwZG.
8Eine wirksame Bekanntgabe erfolgte nicht bereits durch den am 31. August 2016 gescheiterten Versuch, den Bescheid den Antragstellern mittels Postzustellungsurkunde unter der Anschrift C. Straße 25 in E. zuzustellen, wo die Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde nicht zu ermitteln waren. Diesen gescheiterten Zustellversuch müssen die Antragsteller auch nicht gemäß § 10 Abs. 1 und 2 AsylG als wirksame Zustellung gegen sich gelten lassen. Die Zustellung an eine Anschrift, die dem Bundesamt durch eine öffentliche Stelle – wie hier am 22. Juni 2016 durch die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt E. ‑ mitgeteilt worden ist, muss ein Ausländer unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 S. 2 AsylG gegen sich gelten lassen. Daran fehlt es hier jedoch. Anders als im Fall der durch den Asylbewerber selbst angegebenen Adresse muss die von einer anderen öffentlichen Stelle der bekanntgebenden Behörde mitgeteilte Anschrift zumindest im Zeitpunkt der Bekanntgabe bzw. Zustellung zutreffend sein. Der Asylbewerber muss dort also gegenwärtig tatsächlich wohnen oder jedenfalls zu wohnen verpflichtet sein. Er soll nicht das Risiko der Unrichtigkeit einer nicht von ihm stammenden Mitteilung über seine Wohnung tragen.
9Vgl. Preisner, in: Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 01.09.2014, AsylVfG, § 10 Rdn. 29 unter Hinweis auf BT-Drs. 12/4450, 16; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl., AsylVfG § 10 Rdn. 18; aA Marx AsylVfG, 8. Aufl., 2014, § 10 Rdn. 52, allerdings mit der Einschränkung, dass dies erst nach Ablauf einer angemessenen Frist von etwa einem Monat für die Mitteilung der neuen Adresse durch den Asylbewerber gilt; diese Frist war hier bei Fristbeginn mit der Ummeldung am 21. November 2014 zum Zeitpunkt des Zustellversuchs am 19. Dezember 2014 noch nicht verstrichen.
10Daran fehlt es hier. Die Antragsteller waren zum Zeitpunkt des gescheiterten Zustellversuchs am 31. August 2016 tatsächlich schon nicht mehr unter dieser Anschrift wohnhaft, sondern bereits mit Zuweisungsbescheid vom 16. August 2016 einem Übergangswohnheim unter der Anschrift B. X. E. zugewiesen worden.
11Der Antrag ist auch begründet. Nach 167; 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten der Antragsteller aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides erweist sich als rechtswidrig.
12Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedoch derzeit nicht erfüllt.
13Zwar bestehen derzeit keine greifbaren Zweifel daran, dass die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller begründet wurde.
14Ferner kann nicht festgestellt werden, dass die Zuständigkeit gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen wäre. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Italien mit Schreiben vom 9. Mai 2016 lag zum Zeitpunkt der Anhängigmachung des fristgerechten Eilantrages bei Gericht am 26. Oktober 2016 weniger als sechs Monate zurück und wurde daher durch diesen Eilantrag unterbrochen,
15vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 ‑ 1 C 15.15 ‑, Rdn. 11, Beschluss vom 22. August 2016 ‑ 1 B 95.16 u.a. ‑, Rdn. 8, beide juris.
16Die Überstellungsfrist wird neu in Lauf gesetzt mit einer ablehnenden Entscheidung über einen fristgerecht gestellten Antrag des vorläufigen Rechtsschutzes oder ‑ im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wie hier ‑ mit rechtskräftigem Abschluss des Klageverfahrens oder anderweitigem Wegfall der aufschiebenden Wirkung der Klage,
17vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 ‑ 1 C 15.15 ‑, Rdn. 11, Beschluss vom 22. August 2016 ‑ 1 B 95.16 u.a. ‑, Rdn. 8, beide juris.
18Ob die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages gleichwohl nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 der Durchführungsverordnung zur Dublin III-VO,
19Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 222 vom 5.9.2003, S. 3,
20auf die Antragsgegnerin übergegangen ist, weil diese Italien (wie es nach Aktenlage erscheint) nicht vor Ablauf der Überstellungsfrist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Überstellungsersuchens von der Verlängerung der Überstellungsfrist unterrichtet hat, kann hier offen bleiben und wird erforderlichenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären sein.
21Ferner kann offen bleiben, ob die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages der Antragsteller gemäߠArt. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die für die schwangere Antragstellerin zu 1. und die erst elf Monate alte Antragstellerin zu 2. eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) mit sich brächten, wenn sie nach Italien überstellt würden,
22vgl. zu systemischen Schwachstellen der italienischen Aufnahmebedingungen in Bezug auf Familien mit kleinen Kindern: EuGH, Urteil vom 4. November 2014, Az. 29217/12 (Tarakhel . /. Schweiz),
23ks">und kein anderer Staat als zuständiger Staat für die Prüfung des Asylantrages bestimmt werden kann. Auch dies wird erforderlichenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären sein.
Denn die Abschiebungsanordnung stellt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls deshalb als rechtswidrig dar, weil nach gegenwärtigem Erkenntnisstand entgegen den Vorgaben des §60;34a Abs. 1 S. 1 AsylG derzeit nicht feststeht, dass die Antragsteller nach Italien abgeschoben werden können.
25Dem Bundesamt obliegt vor Erlass der Abschiebungsanordnung die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse sowie inlandsbezogener Vollzugshindernisse und Duldungsgründe. Für eine diesbezüglich originäre Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde ist daneben kein Raum, auch wenn solche der Abschiebung entgegenstehende Gründe erst nach Erlass der Abschiebungsanordnung auftreten.
26Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014, ‑ 2 BvR 1795/14 ‑, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rdn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, juris Rdn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rdn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rdn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, juris Rdn. 4 ff.
27Ein Duldungsgrund (§ 60a Absatz 2 Satz 1 AufenthG) liegt vor, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Vorliegend stehen der Abschiebung rechtliche Gründe entgegen.
28In Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seinem Urteil vom 4. November 2014 die Rückführung einer Familie mit Kindern nach Italien davon abhängig gemacht hat, dass der abschiebende Staat zunächst die individuelle Garantie seitens der italienischen Behörden erhalten hat, dass die Familie in einer Art und Weise in Obhut genommen wird, die dem Alter der Kinder angepasst ist, und dass die Familie zusammengehalten wird,
29vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Az. 29217/12 (Tarakhel . /. Schweiz),
30spricht nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand alles dafür, dass eine Abschiebung der Antragsteller nach Italien nach diesen Maßstäben zu unterbleiben hat, solange nicht im konkreten Fall die Übergabe der Antragsteller in eine diesen Anforderungen entsprechende Obhut gesichert erscheint. Entsprechende Vorkehrungen wurden bislang ‑ soweit ersichtlich - nicht getroffen und scheinen auch nicht beabsichtigt zu sein. Vielmehr geht das Bundesamt selbst davon aus, dass eine Abschiebung vorerst gar nicht erfolgen soll. Anders ist die zu den Verwaltungsvorgängen genommene Email eines Sachbearbeiters des für Dublin-Verfahren zuständigen Referates DU5 des Bundesamtes vom 26. Oktober 2016 an die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Düsseldorf mit dem Hinweis, dass nach „aktueller Weisungslage und Rechtsprechung (…) Überstellungen nach Italien, die Familien mit minderjährigen Kindern betreffen, ausgesetzt“ werden, nicht zu verstehen. Wie sich diese Weisungslage mit den rechtlichen Anforderungen an den Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG in Einklang bringen lässt, erschließt sich nicht.
31Bei dieser Sachlage bedarf es keiner Feststellungen dazu, ob im Falle der Antragstellerin zu 1. zudem gegenwärtig ein zielstaatsbezogenes rechtliches Abschiebungshindernis nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Überstellung oder nachfolgend im zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit wesentlich verschlechtern würden. Soweit sich unterhalb dieser Schwelle eine Gesundheitsverschlechterung einstellen sollte, hat sie der Ausländer grundsätzlich hinzunehmen. Eine Gefahr für Leib und Leben der Antragstellerin zu 1. oder ihres ungeborenen Kindes könnte sich daraus ergeben, dass bei ihr ausweislich der ärztlichen Eintragungen in ihrem in Ablichtung vorgelegten Mutterpass eine Risikoschwangerschaft vorliegt und der Entbindungstermin Mitte Februar 2017 bevorsteht.
32Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO, § 83b AsylG.
33Eine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe war in Anbetracht der Kostenentscheidung entbehrlich.
34Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.
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