Beschluss vom Verwaltungsgericht Freiburg - 4 K 1969/20

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziff. 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 17.04.2020 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 1.250,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die Antragstellerin wendet sich gegen ein ihr von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17.04.2020 angedrohtes Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- EUR wegen der Nichtbefolgung einer Auflage zur Errichtung eines Kinderspielplatzes auf dem Grundstück ... in ..., Flst.-Nr. ..., die in einer für das genannte Grundstück am 05.12.1997 erteilten Baugenehmigung enthalten ist. Diese lautet: „Auf dem Baugrundstück ist ein Kinderspielplatz anzulegen (§ 9 Abs. 2 LBO). Der Kinderspielplatz ist nach § 1 LBOAVO auszuführen.“
Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 12 Satz 1 LVwVG statthaft, da es sich bei der Zwangsgeldandrohung um eine Vollstreckungsmaßnahme handelt, die von Gesetzes wegen sofort vollziehbar ist.
Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig und begründet.
Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs oder das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts überwiegt. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind vor allem die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ein überwiegendes Aussetzungsinteresse des Antragstellers ist in der Regel anzunehmen, wenn die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur mögliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass der in der Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf gegen den angegriffenen Verwaltungsakt voraussichtlich erfolgreich sein wird. Hingegen überwiegt in der Regel das öffentliche Vollzugsinteresse, wenn der in Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Sind die Erfolgsaussichten offen, nimmt das Gericht eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (st. Rspr., vgl. zum Ganzen etwa VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 13.03.1997 - 13 S 1132/96 -, juris Rn. 3 und jüngst Bayer. VGH, Beschl. v. 13.08.2020 - 15 CS 20.1512 -, juris Rn. 31).
Vorliegend überwiegt das private Interesse der Antragstellerin daran, von der Vollstreckung des ihr angedrohten Zwangsgelds einstweilen verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der mit der Zwangsgeldandrohung bezweckten Durchsetzung der Verpflichtung zur Anlage eines Kinderspielplatzes. Denn die Kammer hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung:
Es liegen zwar – unstreitig – die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (vgl. § 2 Nr. 1, §§ 18, 20, 23 LVwVG) vor. Insbesondere ist die als Auflage nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 LVwVfG zu qualifizierende Nebenbestimmung in Ziff. 1.6.00 der Baugenehmigung von 1997 bestandskräftig geworden, so dass der Zwangsgeldandrohung eine vollstreckbare Handlungsverpflichtung zugrunde liegt. Die Antragstellerin handelt dieser Verpflichtung auch zuwider, da sie einen Kinderspielplatz auf dem betroffenen Grundstück bis heute nicht errichtet hat.
Allerdings spricht Einiges dafür, dass die Vollstreckung unzulässig (geworden) ist, weil sich seit dem Erlass der bestandskräftigen Auflage die Rechtslage hinsichtlich der Pflicht zur Herstellung von Kinderspielplätzen durch die am 01.08.2019 in Kraft getretene Neufassung des § 9 Abs. 2 LBO womöglich maßgeblich verändert hat. § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO n.F. sieht zwar weiterhin vor, dass bei der Errichtung von Wohngebäuden auf dem Baugrundstück oder in unmittelbarer Nähe auf einem anderen geeigneten Grundstück ein ausreichend großer Spielplatz für Kleinkinder anzulegen ist. Neu eingefügt wurde mit der LBO-Novelle 2019 aber die Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO n.F.: „Es genügt auch, eine öffentlich-rechtlich gesicherte, ausreichend große Grundstücksfläche von baulichen Anlagen, Bepflanzung und sonstiger Nutzung freizuhalten, die bei Bedarf mit festen oder mobilen Spielgeräten für Kleinkinder belegt werden kann.“
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, wie diese Vorschrift zu verstehen ist: Der Antragsteller ist der Auffassung, dass nach neuer Rechtslage die Baurechtsbehörde die Anlage eines Kinderspielplatzes nicht mehr verlangen kann, sondern nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO alternativ auch die Freihaltung einer Grundstücksfläche genüge. Der novellierte § 9 Abs. 2 LBO gebe dem Bauherrn ein Wahlrecht zwischen Anlage eines Spielplatzes und Freihaltung einer Grundstücksfläche. Dies gelte auch dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein Bedarf an einem Kinderspielplatz bestehe, da ein (vorübergehend) fehlender Spielplatzbedarf kein Tatbestandsmerkmal der Freihaltepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO sei. Denn andernfalls müsste die Vorschrift lauten: „Wenn kein Bedarf an einem Spielplatz besteht, genügt es auch, eine ausreichend große Grundstücksfläche ... freizuhalten.“
Die Antragsgegnerin ist hingegen der Auffassung, dass bei einem tatsächlich bestehenden Spielplatzbedarf die Freihaltepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO gegenüber der Anlagepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO subsidiär sei. Denn andernfalls verbleibe für die Anlagepflicht praktisch kein eigener Anwendungsbereich mehr, da sich der Bauherr oder Gebäudeeigentümer dann stets auf eine bloße Freihaltung nach Satz 3 der Vorschrift beschränken könnte. Die Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO wäre damit faktisch sinnlos, was der Gesetzgeber nicht gewollt haben könne. In diese Richtung geht auch die Kommentierung von Sauter zur Landesbauordnung, die – ohne nähere Begründung – von folgendem Regel-Ausnahme-Verhältnis ausgeht: Im Grundsatz habe der Bauherr bis zur Bezugsfertigkeit der Wohnungen einen Kinderspielplatz anzulegen. Ob durch den Bezug der Wohnungen tatsächlich schon ein Spielplatzbedarf entstehe, sei dabei unerheblich, da die Spielplatzanlagepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO an die Nutzbarkeit von Wohnungen zum Wohnen mit Kindern anknüpfe und nicht an einen tatsächlichen Spielplatzbedarf. Diesem Umstand trage § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO dadurch Rechnung, dass er (nur) für den Fall, dass es vorübergehend an einem tatsächlichen Bedarf fehle, statt der Anlagepflicht eine bloße Freihaltepflicht vorsehe (vgl. Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Aufl., 55. EGL, Stand: September 2019, § 9 Rn. 35 und 50).
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Der Wortlaut von § 9 Abs. 2 LBO legt ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis bzw. eine Subsidiarität der Freihaltepflicht aber nicht nahe. Vielmehr spricht die Formulierung „Es genügt auch“ in Satz 3 der Vorschrift stark dafür, dass es sich bei der Freihaltepflicht um eine echte Alternative zur Anlagepflicht nach Satz 1 handelt. Dafür spricht auch die Gesetzesbegründung. Hierin heißt es: „Zur Erfüllung der Pflicht soll es genügen, eine ausreichend große Grundstücksfläche freizuhalten, die bei Bedarf mit Spielgeräten ausgestattet werden kann. Der Gebäudeeigentümer kann dann entscheiden, wann ein Bedarf vorliegt.“ (LT-Drs. 16/6293, S. 34). Dass ein (vorübergehend) fehlender Spielplatzbedarf eine Tatbestandsvoraussetzung der Freihaltepflicht nach Satz 3 wäre, geht damit aus der Gesetzesbegründung gerade nicht hervor. Hätte der Gesetzgeber die Freihaltepflicht auf die Fälle (zunächst) fehlenden Spielplatzbedarfs beschränken wollen, wäre zudem zu erwarten gewesen, dass er dies durch eine entsprechend klare Formulierung im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck bringt; hierauf weist die Antragstellerin zutreffend hin. Hinzu kommt, dass auch der mit der Gesetzesänderung verfolgte Zweck nicht für eine Nachrangigkeit der Freihaltepflicht gegenüber der Anlagepflicht spricht. Denn nach der Gesetzesbegründung soll durch die „Vereinfachung und Modifizierung der Kinderspielplatzpflicht“ in § 9 Abs. 2 LBO das Bauen von Wohnungen verbilligt werden, indem „künftig Spielgeräte nur noch bei Bedarf aufgestellt werden“ müssen (vgl. LT-Drs. 16/6293, S. 11 und S. 1).
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Nach alledem spricht Einiges dafür, dass der Bauherr bzw. Gebäudeeigentümer nach neuer Rechtslage nur alternativ zur Spielplatzanlage oder zur Freihaltung einer geeigneten Grundstücksfläche verpflichtet werden kann und somit die Auflage Ziff. 1.6.00 in dieser Form heute nicht mehr erlassen werden dürfte. Die abschließende Klärung dieser Rechtsfrage muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
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Die Frage, ob sich die Rechtslage hinsichtlich der Anlagepflicht von Kinderspielplätzen durch die LBO-Novelle 2019 maßgeblich verändert hat, ist im vorliegenden Vollstreckungsverfahren aller Voraussicht nach auch entscheidungserheblich. Zwar hängt die Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung, um die es im hiesigen Verfahren allein geht, grundsätzlich nicht von der Rechtmäßigkeit der zumal bestandskräftigen Grundverfügung ab. Ist der zu vollstreckende Verwaltungsakt – wie hier – bestandskräftig geworden, kann ein Vollstreckungsschuldner die Vollstreckung in der Regel nur dann verhindern, wenn es ihm gelingt, den vollstreckbaren Verwaltungsakt im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens nach § 51 LVwVfG aus der Welt zu schaffen. Als Ausnahme von diesem Grundsatz können Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung, die auf einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage beruhen, welche dazu führt, dass sich der zu vollstreckende Verwaltungsakt nun als rechtswidrig erweist, nach verbreiteter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur aber auch im Anfechtungsprozess gegen eine Vollstreckungsmaßnahme (analog § 767 Abs. 2 ZPO) geltend gemacht werden (so zuletzt VG Berlin, Beschl. v. 04.07.2018 - 19 L 73.18 -, juris Ls. 3 und Rn. 8 unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 08.05.1958 - I C 181.57 -, juris Rn. 7 f.; Urt. v. 19.01.1977 - IV C 31.75 -, juris Ls.; vgl. zum Ganzen auch OVG Münster, Urt. v. 18.03.1965 - 65 VII A 753/64 -, juris Ls. 2: Unzulässigkeit einer Zwangsgeldandrohung wegen der Nichtschaffung von Einstellplätzen für Kraftfahrzeuge, wenn sich die Rechtslage zwischenzeitlich geändert hat und keine Rechtsgrundlage für eine solche Auflage mehr bietet; VGH Bad,-Württ., Urt. v. 20.02.1980 - III 13333/79 -, juris Rn. 14: Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung einer Abbruchanordnung, wenn sich nachträglich eine Möglichkeit zur Legalisierung der baulichen Anlage abzeichnet; Beschl. v. 12.03.1996 - 1 S 2856/95 -, juris Rn. 17; VG München, Urt. v. 05.06.2008 - M 11 K 08.665 -, juris Rn. 31; Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 13 Rn. 6 und § 15, Rn. 73; Troidl, in: Engelhardt/App/Schlatmann, 11. Aufl. 2017, § 15 VwVG, Rn. 9; offenlassend OVG Berlin-Brbg., Beschl. v. 16.05.2012 - OVG 2 S 4.12 -, juris Rn. 3; a.A. Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 167 Rn. 62, Fn. 155 und OVG NRW, Beschl. v. 20.01.2012 - 4 B 1425711 -, juris Rn. 2 ff. unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 16.12.2004 - 1 C 30.03 -, juris Ls. 2 und Rn. 15). Im Übrigen hat die Antragstellerin auch bereits am 11.05.2020 bei der Antragsgegnerin eine Abänderung der Spielplatzauflage in eine bloße Freihalteverpflichtung beantragt und damit in der Sache einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG gestellt, dem die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 28.08.2020 entgegengetreten ist.
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Nachdem die Erfolgsaussichten hiernach jedenfalls offen sind bzw. nach summarischer Prüfung sogar mehr für die Auffassung der Antragstellerin spricht, misst die Kammer dem Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der womöglich unzulässigen Zwangsvollstreckung ein größeres Gewicht bei, auch wenn der Sofortvollzug von Vollstreckungsmaßnahmen nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 12 LVwVG der gesetzliche Regelfall ist. Denn in Anbetracht der unklaren Rechtslage und des Umstands, dass die Antragsgegnerin die Spielplatzauflage seit mehr als 20 Jahren nicht durchgesetzt hat, ist ein überwiegendes öffentliches Interesse daran, dass die Auflage nun vor einer abschließenden Klärung im Hauptsacheverfahren vollstreckt wird, nicht erkennbar.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, Nr. 1.7.1 Satz 1 und 3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Hiernach ist in selbstständigen Vollstreckungsverfahren bei der Androhung von Zwangsmitteln die Hälfte des festgesetzten Zwangsgelds festzusetzen (5.000,- EUR: 2 = 2.500,- EUR) und der sich daraus ergebende Streitwert wegen der Vorläufigkeit des Rechtsschutzes nochmals zu halbieren (2.500,- EUR: 2 = 1.250,- EUR).

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