Urteil vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 1a K 2967/19.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2019 (Az.: 7828122-232) wird aufgehoben.
Die Kosten des – gerichtsgebührenfreien – Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
1
Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen die mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Unzulässigkeit ihrer Asylanträge und die darauf beruhende angeordnete Abschiebung nach Italien.
3Die Kläger sind nigerianische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1. ist die Mutter des im Jahr 2018 in Italien geborenen Klägers zu 2. Die Kläger reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit dem Ehemann der Klägerin zu 1., der zugleich Vater des Klägers zu 2. ist und bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen 1a K 2947/19.A ein eigenständiges Klageverfahren gegen die auf denselben Gründen beruhende Ablehnung seines Asylantrages durch das Bundesamt betreibt, am 9. Mai 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten dort am 28. Mai 2019 jeweils einen Antrag auf Asyl. In Deutschland bekam die Klägerin zu 1. im Jahr 2020 zusammen mit ihrem Ehemann ein weiteres Kind.
4Eine am 10. Mai 2019 erfolgte EURODAC-Anfrage durch das Bundesamt ergab, dass die Klägerin zu 1. am 28. September 2017 einen Asylantrag in Livorno, Italien, gestellt hatte. Im Rahmen ihrer Anhörung am 28. Mai 2019 gab die Klägerin zu 1. an, zusammen mit ihrem Ehemann über Libyen zunächst nach Italien eingereist zu sein. Der Kläger zu 2. sei in Italien geboren. Die Familie sei in einem Camp untergebracht worden, das sie aber nach einer gewissen Zeit habe verlassen müssen. Danach habe sie auf der Straße gelebt und sich insgesamt zwei Jahre lang in Italien aufgehalten.
5Mit Formularantrag vom 29. Mai 2019 ersuchte das Bundesamt die italienischen Behörden um Wiederaufnahme der Kläger. Das Gesuch ging an demselben Tag bei den italienischen Behörden ein. Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 erklärten die italienischen Behörden ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme beider Kläger.
6Mit Bescheid vom 12. Juni 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen, (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte es aus, die Unzulässigkeit des Asylantrages beruhe auf der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens. Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens seien auch nicht feststellbar, weil den Klägern dort insbesondere keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Der Bescheid wurde den Klägern am 19. Juni 2019 zugestellt.
7Am 19. Juli 2019 – während des gerichtlichen Verfahrens – stellte das Bundesamt, nachdem die Kläger im zugehörigen Eilverfahren (1a L 1016/19.A) Kopien von auf ihre Namen ausgestellten italienischen Aufenthaltserlaubnissen vorgelegt hatten, ein Auskunftsersuchens an Italien. Die italienischen Behörden teilten mit Schreiben vom 4. Oktober 2019 mit, dass der Asylantrag der Klägerin zu 1. endgültig abgelehnt worden sei, sie nur eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis bis zum 4. Dezember 2020 erteilt bekommen habe und ihr Asylverfahren daher nicht mehr fortgesetzt werde.
8Die Kläger haben am 26. Juni 2019 Klage erhoben. Zur Begründung führen sie im Wesentlichen aus, ihnen drohe in Italien aufgrund der dort herrschenden Zustände für Dublin-Rückkehrer eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, zumal die italienischen Behörden keine individuelle Zusicherung für eine adäquate Unterbringung und Versorgung abgegeben hätten.
9Die Kläger beantragen,
10den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2019 (Az.: 7828122-232) aufzuheben.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung verweist sie auf den angegriffenen Bescheid.
14Mit Beschluss vom 15. Oktober 2019 hat das erkennende Gericht auf Antrag der Kläger vom 26. Juni 2019 die aufschiebende Wirkung ihrer Klage angeordnet (Az. 1a L 1016/19.A).
15Mit Beschluss vom 20. September 2021 hat die erkennende Kammer den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit Schriftsatz vom 11. März 2021 haben die Kläger auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 6. Mai 2021 erteilt.
16Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowohl des hiesigen Verfahrens als auch des zugehörigen Eilverfahrens (1a L 1016/19.A) als auch des Verfahren des Ehemannes bzw. Vaters der Kläger (1a K 2947/19.A) nebst zugehörigen Eilverfahrens (1a L 1002/19.A) sowie auf die jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Der vor dem Hintergrund des Beschlusses der Kammer vom 20. September 2021 gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zuständige Einzelrichter entscheidet über die Sache ohne mündliche Verhandlung, nachdem sich die Beteiligten hiermit wirksam einverstanden erklärt haben (vgl. § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –).
19Die zulässige – insbesondere gemäß § 74 Abs. 1 Hs. 2 in Verbindung mit § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgerecht erhobene – Klage hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 12. Juni 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil bereits die in Ziffer 1 des Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auf keiner gesetzlichen Grundlage beruht (dazu I.). Vor diesem Hintergrund sind auch die weiteren Ziffern des Bescheids aufzuheben (dazu II.).
20I.
21Die in Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 12. Juni 2019 enthaltene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig. Denn die Voraussetzungen der vom Bundesamt für die Ablehnung der Asylanträge der Kläger primär herangezogenen Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG liegen nicht vor (dazu 1.). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann auch nicht in eine solche auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG beruhende Unzulässigkeitsentscheidung umgedeutet werden (dazu 2.).
221.
23Der Asylantrag ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abzulehnen, da die Zuständigkeit Italiens für das Asylbegehren der Kläger nicht mehr besteht. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
24Vorliegend ist allerdings nicht Italien, sondern die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger zuständig. Italien war zwar ursprünglich zuständig (dazu a.). Die Zuständigkeit ist auch nicht wegen verspäteten Stellens des Wiederaufnahmegesuches (dazu b.) oder Ablaufes der Überstellungsfrist (dazu c.), gleichwohl aber wegen der den Klägern in Italien drohenden Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung auf die Beklagte übergegangen (dazu d.).
25a)
26Italien war ursprünglich für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger zuständig. Das ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO. Danach ist ein Mitgliedsstaat – hier Italien – verpflichtet, einen Ausländer wiederaufzunehmen, wenn dieser dort bereits einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Antrag abgelehnt worden ist. Bei der Vorschrift des Art. 18 Abs. 1 Dublin-III-VO handelt es sich, auch wenn der Wortlaut von den „Pflichten des zuständigen Mitgliedsstaates“ spricht, um eine genuine die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens begründende Vorschrift, die eine Prüfung der Art. 7 ff. Dublin-III-VO entbehrlich macht.
27Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 und C-583/17 -, juris, Rn. 67.
28Die italienischen Behörden haben auch mit Schreiben vom 11. Juni 2019 ihre Zuständigkeit für beide Kläger entsprechend erklärt und ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme formuliert. Auch wenn Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin-III-VO nicht einschlägig wäre, ergäbe sich die Zuständigkeit Italiens, wie die italienischen Behörden in ihrer Annahme des deutschen Wiederaufnahmegesuches auch zutreffend ausführen, zudem auf Grundlage des Art. 12 Abs. 1 Dublin-III-VO, weil die Kläger in Italien eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben.
29b)
30Die damit begründete Zuständigkeit Italiens ist weiter nicht nachträglich gemäß Art. 23 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO entfallen. Danach geht die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens auf den ersuchenden Mitgliedsstaat – die Beklagte – über, wenn das Wiederaufnahmegesuch an den ersuchten Staat – Italien – nicht innerhalb von zwei Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung erfolgt. Das Bundesamt richtete hier nach der am 10. Mai 2019 erfolgten EURODAC-Treffermeldung am 29. Mai 2019, also nach 19 Tagen und damit offensichtlich fristgerecht, ein Wiederaufnahmeersuchen für die Kläger an die italienischen Behörden, welches ausweislich der automatisch generierten Empfangsbestätigung am selben Tag dort einging und mit Schreiben der italienischen Behörden am 11. Juni 2019 positiv beantwortet wurde.
31c)
32Ein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte kann auch nicht auf Grundlage des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO angenommen werden. Danach geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat – die Beklagte – über, wenn der Asylantragsteller nicht innerhalb von sechs Monaten an den an sich zuständigen Mitgliedsstaat überstellt wird. Beginn des Laufes dieser Frist ist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO der Zeitpunkt der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch den zuständigen Staat. Wurde hingegen gegen die Überstellungsentscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt, dem aufschiebende Wirkung zukommt, beginnt die Frist erst mit der endgültigen Entscheidung über diesen Rechtsbehelf. Vor diesem Hintergrund hat die Überstellfrist vorliegend noch gar nicht zu laufen begonnen, weil die Kläger gegen die Überstellungsentscheidung vorliegende Klage erhoben haben, der aufgrund des Beschlusses des erkennenden Gerichts vom 15. Oktober 2019 auch aufschiebende Wirkung zukommt.
33Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2016 - 13 A 2302/15.A -, juris, Rn. 27 m.w.N.
34d)
35Die Zuständigkeit Italiens ist aber entfallen, weil sie auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – die Beklagte – die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat – hier Italien – zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechte-Charta (GR-Charta) oder Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit sich bringen. Kann die Überstellung an den zuständigen Mitgliedsstaat oder an den Mitgliedsstaat, in dem erstmalig ein Asylantrag gestellt worden ist, nicht erfolgen, ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO zuständig.
36Danach ist die Beklagte ist ein Zuständigkeitsübergang zu bejahen. Eine Gefahr im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ist zu bejahen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in diesem Zielstaat aufgrund systemischer Mängel, das heißt regelhaft, so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylsuchenden auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta oder Art. 3 EMRK droht (dazu aa.). Dies trifft auf den hiesigen Einzelfall zu (dazu bb.). Mangels einschlägiger anderweitiger Zuständigkeitskriterien ist die Zuständigkeit auf die Beklagte übergegangen (dazu cc.).
37Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.
38aa)
39Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 bzw. 3 der Dublin-III-Verordnung stellt danach klar, dass in einer Situation, in welcher ein Antragsteller aufgrund systemischer Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz selbst zuständig wird, wenn er nach Fortsetzung der Prüfung der Kriterien des Kapitels III der Verordnung feststellt, dass keine Überstellung an einen aufgrund dieser Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann.
40Zunächst spricht im vorliegenden Einzelfall Maßgebliches dafür, dass in Italien in den Fällen von vulnerablen Personen – hier in Bezug auf eine Familie mit Kleinkindern – (abstrakt gesehen) bereits systemische Schwachstellen i. S. d. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO bezogen auf die Gruppe der Vulnerablen bestehen und daher die Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben ist.
41Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 16. April 2020 - 15 K 790/18.A -, nicht veröffentlicht, und Beschluss vom 4. Juli 2018 - 22 L 5076/17.A -, juris, Rn. 13 ff.
42Darüber hinaus bezieht sich zwar Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO seinem Wortlaut nach nur auf die Situation, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in den nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat nicht nur im Fall systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sondern in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
43Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87; VG Aachen, Urteil vom 1. Dezember 2020 - 9 K 3816/18.A -, nicht veröffentlicht; VG Karlsruhe Gerichtsbescheid vom 11. März 2020 - A 9 K 3651/18 -, juris, Rn. 35; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2020 - 22 K 13275/17.A -, juris, Rn. 41.
44Denn für die Anwendung von Art. 4 GR-Charta, der Art. 3 EMRK entspricht, ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat ist in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei oder infolge seiner Überstellung einer solchen Gefahr ausgesetzt wird. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen nämlich auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GR-Charta führt. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt.
45Eine Überstellung ist daher immer auch dann unzulässig, wenn im Einzelfall eine Verletzung des Art. 4 GR-Charta droht. Mit anderen Worten kommt es für die Unzulässigkeit der Rücküberstellung nicht (mehr) darauf an, ob im an sich zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel vorliegen oder ob dem Asylsuchenden dort (nur) im Einzelfall eine Verletzung von Art. 4 GR-Charta droht. Hieraus kann nur folgen, dass sodann auch die hieran anknüpfende Rechtsfolge, nämlich die des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO, identisch sein muss.
46Dabei sind eine Gefahr im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK begründende Zustände in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union in der Regel nicht anzunehmen. Denn das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie diese mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihrem Art. 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten.
47Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.
48Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin-III-Verordnung, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen oder denen internationaler Schutz gewährt worden ist, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Charta, dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der EMRK steht.
49Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 83 ff., und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 80 ff.
50Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.
51Daher wäre die Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in dem Mitgliedstaat beachtet werden, der nach der Dublin III-VO als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist, mit der Pflicht zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung unvereinbar. Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Solche Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
52Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 83 ff., und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 90 ff.
53Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Das Fehlen familiärer Solidarität ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta nicht aus. Der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 Grundrechtecharta verstoßende Behandlung zu erfahren.
54Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 92 f. und 96 f., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
55Art. 4 GR-Charta verpflichtet die Mitgliedsstaaten auch nicht, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen das Recht auf eine Unterkunft und eine finanzielle Unterstützung zu gewährleisten, damit sie einen gewissen Lebensstandard haben.
56Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, EuGRZ 2011, 243 (245), Rn. 249 (zum gleichlautenden Art. 3 EMRK).
57Durch Missstände im sozialen Bereich wird die Eingriffsschwelle von Art. 4 GR-Charta nur unter strengen Voraussetzungen überschritten. Neben den rechtlichen Vorgaben ist dabei aber auch auf den (Arbeits-) Willen und reale Arbeitsmöglichkeiten abzustellen sowie die persönlichen Entscheidungen des Betroffenen zu berücksichtigen.
58Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 40, unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - (Jawo), juris, Rn. 92; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24. Mai 2018 - 4 LB 27/17 -, juris, Rn. 60 m.w.N.
59Weiter ist auch die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (z. B. Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) unterschieden werden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß anders bzw. höher.
60Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 41. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris, Rn. 67; VG Freiburg, Urteil vom 28. Dezember 2020 - A 4 K 10160/17 -, juris, Rn. 33.
61Dies gilt insbesondere im Fall der Betroffenheit von Kindern. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 GR-Charta bzw. in gleicher Weise durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern – unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden – noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Diese bestehen aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende.
62Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, juris, Rn. 119.
63Kinder sind grundsätzlich verletzlicher und ihre Bewältigungsmechanismen sind noch unentwickelter. Sie neigen zudem mehr dazu, feindselige Situationen als verstörend zu empfinden, Drohungen Glauben zu schenken und von ungewohnten Umständen emotional beeinträchtigt zu werden. Sie reagieren auch stärker auf Handlungen, die gegen nahe Verwandte gerichtet sind. Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind eine ungebührende Härte darstellen.
64Vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, vom 22. Dezember 2009, S. 10 und 25.
65Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen deshalb an ihr Alter angepasst sein um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls wird die Schwere erreicht, die erforderlich ist, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta zu fallen. Bei Minderjährigen wiegt ihre besonders verwundbare Lage schwerer als die Tatsache, dass sie Ausländer mit unrechtmäßigem Aufenthalt sind.
66Vgl. EGMR, Urteil vom 4.November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, juris, Rn. 99, 119.
67bb)
68Nach diesen Maßgaben ist im aktuellen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Entwicklungen seit Beginn der Corona-Pandemie und deren gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. Die Klägerin zu 1. ist die Mutter des Klägers zu 2. sowie die Ehefrau des Klägers im Verfahren 1a K 2947/19.A, mit dem sie in Deutschland ein weiteres Kind bekommen hat. Die Familie lebt in Deutschland zusammen. Aufgrund dessen sind die Klägerin zu 1., der Kläger zu 2., der Kläger im Verfahren 1a K 2947/19.A sowie das weitere minderjährige Kinde der Familie – davon ausgehend, dass der Rückkehrprognose auf der Basis von Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) eine Ausreise bzw. Überstellung aller Familienmitglieder nur gemeinsam zu Grunde zu legen ist,
69vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 16 ff. –
70insgesamt der Personengruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen, für die die vorstehend beschriebenen Maßstäbe mit Blick auf ihren erhöhten Schutzbedarf differenziert anzuwenden sind.
71Die Vermutung, dass Italien Dublin-Rückkehrern, die sich in der Situation der Kläger sowie ihre Familie befinden, den Schutz der in der GR-Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere aus Art. 4, bietet, ist auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Informationen durchgreifend erschüttert. Aufgrund aktueller Erkenntnisse ist zu befürchten, dass die Kläger und ihre Familie die in ihrer speziellen Situation dringend erforderliche Unterstützung in Italien nicht erhalten und dadurch in eine Situation der Verelendung unabhängig von ihrem eigenen Willen geraten werden.
72Das erkennende Gericht geht nämlich auf Grundlage der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,
73BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 -, juris, Rn. 16; EGMR, Urteil vom 4. November 2014, (Tarakhel/Schweiz) Nr. 29217/12, juris, Rn. 122,
74weiterhin davon aus, dass vulnerablen Personen bei Rücküberstellung nach Italien derzeit im Allgemeinen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, solange die italienischen Behörden keine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, dass die jeweils betroffenen Personen Zugang zu ihrer Schutzbedürftigkeit angemessenen Unterkunft und darüber hinaus auch für die Dauer der Vulnerabilität angemessene Unterstützung erhalten werden.
75Die Gefahr der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ergibt sich dabei auch unabhängig davon, ob und inwieweit die Betroffenen im Falle einer Rücküberstellung eine – von der seitens der italienischen Behörden vorab erfolgten Zustimmung zur Rücküberstellung abhängigen – gewisse Hilfestellung dahingehend erhalten, dass sie am Flughafen des Überstellungszielortes und bei der womöglich erforderlichen inneritalienischen Weiterreise unterstützt werden.
76Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 41 ff.
77Denn selbst bei Annahme einer solchen „Starthilfe“ erweist sich das italienische Unterbringungssystem (weiterhin) in Bezug auf vulnerable Personen als in menschenrechtlicher Hinsicht beachtlich defizitär (dazu [1]). Adäquate Möglichkeiten, trotz fehlender angemessener Unterkunft auf sich allein gestellt für sich sorgen zu können, gibt es für vulnerable Personen dabei nicht (dazu [2]).
78(1)
79Hinsichtlich der Unterbringungssituation vulnerabler Personen, insbesondere von Familien mit kleinen Kindern, lässt sich nach der Auskunftslage im Wesentlichen Folgendes feststellen:
80Seit Inkrafttreten des sogenannten Salvini-Dekrets (Gesetzesdekrets des Ministerrates Nr. 113/2018 vom 4. Oktober 2018, bestätigt durch den italienischen Senat im November 2018 und als Gesetz fortgeltend aufgrund Beschlusses der Abgeordnetenhauskammer vom 29. November 2018) hatten Asylsuchende, die unter der Dublin-III-Verordnung nach Italien überstellt wurden, kein Anrecht mehr auf Unterkunft in den SIPROIMI, den Zweitaufnahmeeinrichtungen. Solange sie im Asylverfahren waren und solange ihr Recht auf Unterkunft nicht entzogen wurde, konnten Dublin-Rückkehrende wie alle anderen Asylsuchenden in Italien nur in Erstaufnahmezentren und temporären Einrichtungen (CAS) untergebracht werden. Das Inkrafttreten des Salvini-Dekrets hatte zudem zu zahlreichen Änderungen der Bedingungen für die Auftragsvergabe zum Betreiben der CAS-Unterkünfte durch das Innenministerium (sog. Capitolato) geführt. Insoweit ist besonders zu beachten, dass seit dem Inkrafttreten des genannten Dekrets auch Familien mit Kindern, die sich noch im Asylverfahren befanden, nicht mehr in SIPROIMI-Projekten untergebracht werden konnten, weil jene nunmehr nur noch für unbegleitete Minderjährige und anerkannte Flüchtlinge zur Verfügung standen.
81Vgl. Swiss Refugee Council / Danish Refugee Council, Mutual trust is still not enough, 12. Dezember 2018; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern, in Italien, Januar 2020, S. 37 ff.
82Dabei ist davon auszugehen, dass die übrigen Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber, nämlich Erstaufnahmeeinrichtungen (Hotspots, CPSA und Erstaufnahmeeinrichtungen in der Verantwortung lokaler Behörden) sowie CAS-Unterkünfte aufgrund ihrer Größe und Struktur sowie der Tatsache, dass sie eine eher grundlegende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Basisinformation, Rechtsberatung und medizinischer Notversorgung bieten, grundsätzlich keinen geschützten Rahmen für kleine Kinder bieten, die aufgrund ihres Alters und der besonderen Umstände des Einzelfalls besonderes schutzbedürftig sind.
83Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2019 (Stand: Juni 2020), S. 104 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Italien, 9. Oktober 2019, S. 12 ff.; Swiss Refugee Council / Danish Refugee Council, Mutual trust is still not enough, The situation of persons with special reception needs transferred to Italy under the Dublin III Regulation, Ziffer 3.3, S. 12 und 14 ff., SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 40 f.
84Diese Zentren waren bereits in der Vergangenheit oft nicht im Stande, Personen mit besonderen Bedürfnissen adäquat unterzubringen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Tarakhel-Urteil,
85Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 (131),
86festgestellt hatte. Seit den Änderungen aufgrund des Salvini-Dekretes hatten sich Qualität und Leistungen in den Erstaufnahmezentren nochmals deutlich verschlechtert. Hauptgrund dafür waren die Vorgaben bei der öffentlichen Auftragsvergabe (Capitolato) für Erstaufnahmezentren. Im neuen Capitolato wurde der staatliche Zuschuss von 35 Euro pro asylsuchender Person und Tag auf 20 Euro gekürzt. Deshalb mussten Bewerbende für den Leistungsvertrag ihre Leistungen massiv zurückschrauben und die Hälfte ihrer Angestellten entlassen. Diese Entwicklung hatte einen negativen Einfluss auf alle Personen, die in CAS untergebracht waren, doch am stärksten davon betroffen waren verletzliche Personen, die auf besondere Betreuung angewiesen sind. Eine weitere Konsequenz war die aufgrund der beschränkten Ressourcen und Angestellten schiere Unmöglichkeit der Identifizierung von Vulnerabilitäten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Unterbringung in den Erstaufnahmezentren mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die nötige Unterstützung erhielten.
87SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 40 f., 102 f.
88In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, dass als eine Konsequenz des Capitolato vor allem kleinere Zentren geschlossen wurden, die nicht mehr finanziert werden konnten. Stattdessen wurden große Kollektivzentren eröffnet, die eher mit den sehr geringen finanziellen staatlichen Beiträgen betrieben werden konnten. Im Salvini-Dekret wurde darüber hinaus kein Rechtsrahmen für die Aufnahmezentren genannt, in welchen auch vulnerable Personen unterzubringen sind. So blieb eine große Lücke im Hinblick auf die Aufnahmemodalitäten und Garantien für die dort untergebrachten Personen.
89SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 42.
90Seit Beginn des Jahres 2019 hatte sich beispielsweise die Caritas, die sich nach ihrem Selbstverständnis weigerte, lediglich „Hotelier“ für Flüchtlinge zu sein, aufgrund der Mittelkürzung durch das Capitolato in mehreren Regionen Italiens aus dem Betrieb von CAS-Unterkünften zurückgezogen bzw. wollte sich an den kommenden Ausschreibungen für den Betrieb von CAS nicht mehr beteiligen. Auch schlossen bereits die ersten CAS aus wirtschaftlichen Gründen.
91Vgl. zum Ganzen borderline-europe, Stellungnahme zur derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung, 3. Mai 2019, S. 7; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 43.
92Erschwerend kommt generell hinzu, dass Asylbewerber ihr Recht auf Unterbringung verlieren konnten, wenn sie bereits einmal untergebracht waren. Wenn eine Person das Zentrum ohne vorherige Mitteilung verließ und mehr als 72 Stunden abwesend war, wurde angenommen, dass sie auf ihr Recht auf Unterbringung verzichtete. Folglich verlor die Person ihr Recht auf Unterkunft. Die Zentren waren verpflichtet, die Präfektur umgehend zu informieren, falls jemand abwesend ist. Das Recht auf Unterkunft konnten Asylsuchende nur zurückerhalten, wenn sie nachweisen konnten, dass sie das Zentrum wegen eines Unfalls, höherer Gewalt oder aus einem anderen triftigen persönlichen Grund verlassen hatten.
93SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S. 44 f.
94Die Möglichkeit einer Registrierung von Asylsuchenden im Melderegister, die Grundvoraussetzung für den Zugang zu einer Gemeindeunterkunft und gewissen Sozialleistungen sind, war im Zuge der sogenannten Salvini-Gesetzgebung überdies abgeschafft worden.
95Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrern in Italien, Januar 2020, S 79 ff.
96An diesen Missständen hat sich nach aktueller Erkenntnislage nichts Entscheidungserhebliches geändert. Das erkennende Gericht sieht sich daher auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen nicht veranlasst, für vulnerable Personen die beachtliche Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, zu verneinen, sofern Italien keine konkrete und individualisierte Zusicherung abgegeben hat, dass die Betroffenen eine gesicherte Unterkunft und hinreichende Unterstützung erhalten werden.
97Vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -, juris, Rn. 15, 16; VG Hannover, Beschluss vom 10. November 2021 - 12 B 5205/21 -, juris; VG Bremen, Beschluss vom 8. Dezember 2021 - 6 V 1964/21 -, juris; VG Freiburg, Beschluss vom 10. November 2021 - A 9 K 2793/21 -, juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2021 - 12 K 4019/20.A -, juris; VG Kassel, Urteil vom 24. August 2021 - 3 K 1923/19.KS.A -, juris; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 9. August 2021 - 9 K 1340/18.F.A -, juris; VG Oldenburg, Urteile vom 2. Juli 2021 - 6 A 2745/19 -, juris, und vom 30. Juni 2021 - 6 A 1759/21 -, juris; VG Berlin, Urteil vom 19. Mai 2021 - 28 K 281.17 A, juris; vgl. auch für bereits anerkannte Schutzberechtigte Hessischer VGH, Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A -, juris, Rn. 14 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 9. April 2021 - 7 A 11654/20.OVG -, juris; VG Bremen, Beschluss vom 10. November 2021 - 6 V 796/20.A -, juris; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 17. August 2021 - 12 K 4589/21.A -, nicht veröffentlicht; VG Köln, Urteil vom 10. Juni 2021 - 8 K 4803/18.A -, juris. Anders hingegen etwa VG München, Beschlüsse vom 17. Juni 2021 - M 3 S 21.50230 -, juris, Rn. 30 ff., und vom 7. Juni 2021 - M 19 S7 21.50344 -, juris, Rn. 19 ff.; VG Gera, Urteil vom 11. August 2021 - 4 K 161/20 Ge, juris.
98Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist für das Gericht insbesondere nicht hinreichend belastbar erkennbar, dass sich aus den Maßnahmen des italienischen Gesetzgebers der jüngeren Zeit, insbesondere aus dem seit dem 20. Dezember 2020 geltenden Gesetz Nr. 173/2020, für die hier gegebene Verfahrenskonstellation substantiell auswirkende Änderungen ergeben haben. Mit dem auf dem Dekret Nr. 130/2020 („Lamorgese-Dekret“) beruhenden Gesetz Nr. 173/2020 sollten insbesondere die vormals mit dem Dekret Nr. 113/2018 („Salvini-Dekret“) eingeführten asylrechtlichen Verschärfungen weitestgehend zurückgenommen werden. In Bezug auf die Unterbringung von Asylbewerbern gilt seitdem jedenfalls auf dem Papier, dass besonders im Falle vorliegender Vulnerabilität bevorzugter Zugang zu dem Aufnahmeeinrichtungssystem nicht nur erster, sondern – im Rahmen der Kapazität – auch zweiter Stufe, die nunmehr nicht SIPROIMI, sondern SAI (Sistema Accoglienza Integrazione) heißen, gewährt wird, auch wenn möglicherweise die Voraussetzungen für ein Entzug des Unterbringungsrechts vorliegen. Im Falle des Zuganges erhalten sie dann auch weitere Integrationsangebote wie etwa Sprachkurse.
99Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 5 f.; Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (209 f.); OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 60 ff.
100Weiter wurden die im Zuge des Salvini-Dekrets erfolgte Kürzung der finanziellen und personellen Mittel für die CAS-Einrichtungen rückgängig gemacht.
101Vgl. Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (210 f.).
102Schließlich ist nunmehr auch eine Registrierung von Asylsuchenden wieder möglich, die Grundvoraussetzung für den Zugang zu einer Gemeindeunterkunft ist sowie zu Sozialleistungen ist.
103Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 13, 14; Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (208).
104Dies vermag aber jedenfalls zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an dem Umstand des defizitären Unterbringungssystems für vulnerable Personen nichts zu ändern.
105Denn zunächst handelt es sich lediglich um eine Reform auf dem Papier, der unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel noch keine faktische Veränderung gefolgt ist. Spürbare Verbesserungen sind insoweit nicht auszumachen, zumal auch noch keine entsprechend angepassten Richtlinien erlassen worden sind.
106Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 5, 8, 12; Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (209 f.); vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2020 - 11 A 571/20.A -, juris, Rn. 23, sowie Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 43 bzw. 60; VG Köln, Urteil vom 10. Juni 2021 - 8 K 4803/18.A -, juris, Rn. 66 ff.
107Insbesondere ist trotz der Reform die Registrierung von Asylsuchenden weiterhin – nicht zuletzt auch wegen der sogenannten Corona-Pandemie – schwierig, zumal die Nachwirkungen der vorangegangenen Salvini-Gesetzgebung weiterhin spürbar sind. Das Nachholen der Registrierungen dauert daher lange und lässt aktuell Verbesserungen in diesem Bereich nicht erkennen.
108Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 14 f.
109Überdies ist zu berücksichtigen, dass zwar nunmehr per se eine Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen zweiter Stufe möglich ist, die Zuweisung einer Unterbringung aber auch weiterhin unter dem Vorbehalt vorhandener Kapazitäten erfolgt, also ohnehin nicht garantiert, sondern stets von der konkreten Auslastung im Einzelfall abhängig ist. In dem Gesetz Nr. 173/2020 ist insoweit auch keine Kapazitätserhöhung bei den Aufnahmeeinrichtungen erster wie zweiter Stufe vorgesehen. Von daher bleibt es weiter dabei, dass die vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen den tatsächlichen Bedarf nicht hinreichend abzudecken vermögen.
110Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 8; Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (209 f.).
111Das ergibt sich bereits dadurch, dass die Anzahl an Asylsuchenden besonders im Jahr 2021 sprunghaft angestiegen ist. Während etwa im ersten Halbjahr 2021 23.948 Asylsuchende in Italien angekommen sind, waren es in demselben Zeitraum 2020 nur 8.948. Dies bedeutet einen Anstieg von knapp 170 %.
112Vgl. Bundesamt, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets, 15. April 2021, S. 5.
113Berücksichtigt man nun, dass Italien im Jahr 2020 insgesamt, d.h. unter Berücksichtigung jeglicher Unterkunftskapazitäten, 87.001 Unterkunftsplätze zur Verfügung stellte, allein im Jahr 2020 aber bereits 34.134 Asylsuchende, also knapp 40 % der Gesamtkapazität, in Italien angelangt sind,
114vgl. Bundesamt, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets, 15. April 2021, S. 5,
115ergibt sich gerade unter Einbeziehung der aufgrund der regelmäßig mehrjährigen Dauer des Asylverfahrens nicht unerheblichen durchschnittlichen Unterbringungszeit eines Asylbewerbers schnell, dass in Italien nicht so viele Plätze verfügbar sind, als dass er für den Ausschluss einer beachtlichen Gefahr einer Obdachlosigkeit hinreichend wäre.
116Dies gilt auch trotz der – ohnehin bislang nur auf dem Papier feststellbaren – Öffnung des Aufnahmeeinrichtungssystems zweiter Stufe (SAI) für Asylsuchende. Denn auch hier erscheinen die vorhandenen Kapazitäten keinesfalls als hinreichend. Derzeit verfügen die SAI über 32.456 Plätze,
117vgl. https://www.retesai.it/i-numeri-dello-sprar/,
118während es im Januar 2021 30.049 Plätze waren.
119Vgl. Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (210).
120Die Kapazitätserweiterungen von gut 2.000 Plätzen erscheinen aber gerade angesichts der zugleich stattfindenden Ausweitungen des Kreises der Unterkunftsanspruchsberechtigten daher im günstigsten Fall als nicht hinreichend, wenn nicht gar als Rückschritt.
121Vgl. auch VG Köln, Urteil vom 10. Juni 2021 - 8 K 4803/18.A -, juris, Rn. 70.
122Dies ergibt sich letztlich auch aus dem Bericht des Bundesamtes vom 15. April 2021. Danach sei das (Zweitaufnahme-)Unterbringungssystem im Jahr 2020 nicht überlastet gewesen, weil (nur) 27.372 Zugangsberechtigte (die tatsächlich im Bericht stehende Angabe von „37.372“ scheint insoweit ein Schreibfehler zu sein, weil im Bericht anschließend stets von 27.372 Zugangsberechtigten die Rede ist und ansonsten die vom Bundesamt vorgenommene Schlussfolgerung der Nichtauslastung der Unterbringungseinrichtungen nicht tragfähig wäre) auf 31.324 Plätze zu verteilen gewesen sind.
123Vgl. Bundesamt, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets, 15. April 2021, S. 6.
124Bedenkt man aber, dass die Anzahl an Plätzen im Jahr 2021 nicht signifikant größer geworden ist, zugleich aber der Kreis an Zugangsberechtigten erheblich breiter gezeichnet worden ist, erscheint ein „Puffer“ von gut 4.000 Plätzen im Jahr 2020 (31.324 Plätze - 27.372 Zugangsberechtigte) jedenfalls nicht so groß, als dass er für den Ausschluss einer beachtlichen Gefahr einer Obdachlosigkeit hinreichend wäre.
125Ferner bleibt die Beurteilung des Entzuges des Unterbringungsrechts und damit des Zugangs zum staatlichen Aufnahmeeinrichtungssystem eine dem „Servizio Centrale“ obliegende Einzelfallentscheidung. Ob und inwieweit sich dieser an der neuen Gesetzeslage orientiert, ist dabei nicht bekannt. Insbesondere finden sich auch in dem Bericht des Bundesamtes vom 15. April 2021 keinerlei Hinweise darauf, ob sich im Zuge des Gesetzes Nr. 173/2020 tatsächliche Änderungen bei der Entscheidung über den Entzugs des Unterbringungsanspruches ergeben haben.
126Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2020 - 11 A 571/20.A -, juris, Rn. 23, sowie Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 194 bzw. Rn. 145.
127Unabhängig davon sind auch keine signifikanten Qualitätsverbesserungen der der Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen bislang nicht angemessenen Unterkünfte feststellbar.
128Soweit die zuletzt ergangenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zur Unzulässigkeit einer Rücküberstellung nichtvulnerabler Personen womöglich dahingehend zu verstehen sein könnten, dass im Falle vorhandener Vulnerabilität ein anderes Ergebnis anzunehmen wäre,
129vgl. OVG NRW, Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - sowie 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 93 bzw. 100.
130hat dies keine Auswirkungen auf die vorliegende Entscheidung. Denn die beiden obergerichtlichen Entscheidungen betreffen nichtvulnerable Personen und enthalten zu der Situation vulnerabler Personen gerade keine belastbaren Aussagen. Sie führen insoweit lediglich aus, dass die jeweils betroffenen Kläger bereits nicht vulnerabel sind. Es bedurfte daher offensichtlich keiner die Entscheidung tragenden Erörterung der Bedeutung vorhandener Vulnerabilität.
131Auch soweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 23. März 2021 davon ausgegangen ist, dass aufgrund der neuen Lage eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kleinkindern nach Italien rücküberstellt werden dürfe,
132vgl. EGMR, Urteil vom 23. März 2021 - 46595/19 („MT“) -, abrufbar in englischer Sprache unter https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-209487%22]},
133handelt es sich, wie bei Entscheidungen des Gerichtshofs zwar ohnehin, in diesem Fall aber im Besonderen, um eine Einzelfallentscheidung, weil der Gerichtshof maßgeblich darauf abgestellt hat, dass aufgrund einer entsprechenden Information an den italienischen Staat eine hinreichende individuelle Versorgung der Familie nach Ankunft gewährleistet ist. Die Änderung der allgemeinen Rechtslage ist gerade nicht der maßgebliche Aspekt für die Entscheidung. Es ist insoweit keineswegs ersichtlich, dass der Gerichtshof von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen und – anders als das erkennende Gericht – eine Rücküberstellung vulnerabler Personen unabhängig von einer im Einzelfall festzustellenden individualisierten Versorgungsgewährleistung für zulässig erklären wollte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Entscheidung bereits nicht aus dem Englischen weiterübersetzt worden ist, eine Änderung der Rechtsprechung daher äußerst fernliegend ist.
134Vgl. die gleichlautende Wertung des VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -, juris, Rn. 16.
135Entsprechendes gilt für die jüngere Entscheidung des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts,
136Urteil vom 18. Oktober 2021, abrufbar unter https://www.bvger.ch/dam/bvger/de/dokumente/2021/10/F-6330_2020_WEB.pdf.download.pdf/F-6330_2020_WEB.pdf,
137bei der ebenfalls ein entscheidender Punkt die in dem zugrunde liegenden Einzelfall vorhandene Zusicherung der italienischen Behörden im Hinblick auf eine garantierte individuelle Versorgung der betroffenen Familie mit Kleinkindern war (vgl. Rn. 11.1: Eine „Überstellung ist (…) nur zulässig, wenn von den italienischen Behörden eine ausreichende Garantie für eine kindgerechte und die Einheit der Familie wahrende Unterbringung vorliegt“).
138Der Annahme weiterhin unzureichender Aufnahmebedingungen bezüglich dem hier vorliegenden Fall einer Familien mit kleinen Kindern steht vorliegend auch nicht der Bericht der Beklagten „zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien“ vom 2. April 2020 entgegen, den sie aus Anlass einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,
139vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris,
140von dem Verbindungsbeamten des Bundesamtes beim italienischen Innenministerium und von dem Austauschbeamten des Bundesministeriums des Innern, für Heimat und Bau beim italienischen Innenministerium hat fertigen lassen. Dieser Bericht stellt als Ergebnis der Recherchen zur Aufnahmesituation von Familien mit kleinen Kindern fest, dass es bei der Aufnahmesituation dieser Personengruppe durchaus regionale Unterschiede gebe, die auch mit der Größe der Aufnahmeeinrichtung zusammenhingen. Insgesamt sei jedoch die Sorge einer nicht unmittelbaren und unangemessenen Unterkunft unbegründet. Durch den Rückgang der Anlandungszahlen und die rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen zur Beschleunigung des Asylverfahrens sei eine Aufnahmesituation eingetreten, die durch ein zunehmend strukturiertes System charakterisiert sei. Hierzu habe auch die Tatsache beigetragen, dass eine immer klarere Trennlinie zwischen Asylbewerbern und Statusinhabern gezogen worden sei. Dass damit Einschränkungen bei der Inklusion von Asylbewerbern in die italienische Gesellschaft einhergingen, sei eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung.
141Vgl. BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020.
142Dieser Bericht erscheint nicht ohne weiteres als geeignet, die Gesichtspunkte zu widerlegen, welche die Gerichte bislang bewogen haben, für vulnerable Personen nach Italien eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden für notwendig zu halten. Denn unabhängig davon, dass der Bericht ohnehin nur die Situation von Dublin-Rückkehrern und damit nicht den hier vorliegenden Fall von als Schutzberechtigte anerkannten Personen betrifft, erscheint der Bericht auch unter Berücksichtigung der damaligen Lage insgesamt nicht plausibel. Seine Schlussfolgerung, es sei die Sorge unbegründet, dass Familien mit minderjährigen Kindern nach ihrer Dublin-Rückkehr nicht unmittelbar angemessen untergebracht würden, unter anderem weil strukturierte Abläufe und Strukturen zwischen relevanten Akteuren nach der Ankunft bis zu einer Unterbringung bestünden, wird im Bericht selbst relativiert durch die Feststellung, dass (immer noch) regionale Unterschiede und „Reduzierungen“ durch das „Salvini-Dekret“ vorhanden seien. Auch wird in dem Bericht über eine Vielzahl von formellen Beanstandungen anlässlich von Inspektionen der Aufnahmestrukturen berichtet, welche im Übrigen häufiger in den südlichen Regionen wie Sizilien und Sardinien aufgetreten seien. Auch die Formulierung, der Umstand, dass Familien mit minderjährigen Kindern während des Asylverfahrens nicht mehr Aufnahme in den so genannten SIPROIMI-Einrichtungen und zusätzliche Integrationsmaßnahmen erhalten könnten, bedeute noch nicht, dass ihre Aufnahme nicht den Standards der EU-Aufnahmerichtlinie entspräche, legt nahe, dass jedenfalls nicht gewährleistet ist, dass vulnerable Personen entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit untergebracht werden. Aus dem Bericht wird zudem deutlich, dass die darin gewonnenen Eindrücke über die Aufnahme- und Unterbringungssituation zurückkehrender Familien lediglich einen Ausschnitt im Aufnahme- und Unterbringungssystems Italiens abbilden und nicht verallgemeinerungsfähig sind. Insbesondere stellen die drei besuchten und ausgewählten Unterkünfte in dem Bericht des Bundesamtes lediglich einen Bruchteil der Unterkünfte in Italien dar. Dass landesweit der Standard wie in den drei dargestellten Unterkünften herrscht, wird von der Beklagten gerade nicht dargetan, insbesondere verweist der Bericht selbst auf regionale Unterschiede. Auch ist nicht sichergestellt, dass die Kläger und ihre Familie in einer dieser Unterkünfte untergebracht würden. Abgesehen davon wird in dem Bericht des Bundesamtes ein Gespräch mit dem Direktor des Italienischen Flüchtlingsrates (CIR) dokumentiert, wonach die vorbildliche Unterbringung in den SIPROIMI-Zentren bedauerlicherweise nicht mehr möglich sei und die CAS/CARA-Einrichtungen nur noch die Grundbedürfnisse abdecken würden, was aus den bereits dargestellten Gründen für vulnerable Personen angesichts ihrer Schutzbedürftigkeit gerade nicht ausreichend ist. Dass die besonderen Grundbedürfnisse des vulnerablen Personenkreises gewährleistet werden, wird gerade nicht dargetan. Im Übrigen wird ausgeführt, dass in den großen Zentren aufgrund der begrenzten zeitlichen und personellen Kapazitäten die psychologische Betreuung schwieriger sei und regionale Unterschiede hinsichtlich Unterkunft und medizinischer Betreuung bestünden, auch wenn diese nicht mehr so groß seien. Daher kann allein aufgrund der Ausführungen in diesem Bericht unter Berücksichtigung der weiteren Erkenntnismittel nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Familien mit kleinen Kindern bei einer Rückkehr im Rahmen des Dublin-Verfahrens in jedem Fall angemessen untergebracht werden.
143Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15. September 2020 - 3 L 143/20 -, juris, Rn. 15 ff.; bezogen auf die Rücküberstellung junger, alleinstehender Männer OVG NRW, Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 196 bzw. 147;
144(2)
145Im Übrigen erweist sich eine Rücküberstellung vulnerabler Personen ohne individuelle Zusicherung hinreichender Versorgung nicht etwa deshalb als unionsrechtskonform, weil es den Betroffenen trotz der Frage der Unterbringung möglich wäre, für sich sorgen zu können. Denn insoweit erweist sich die Situation des Arbeitsmarktes sowie der staatlichen oder nichtstaatlichen Unterstützungshandlungen als prekär. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen unter Auswertung der aktuellen Erkenntnisse ausgeführt, dass selbst ein junger, gesunder und alleinstehender Dublin-Rückkehrer in Italien nicht für sich sorgen könne.
146Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 1689/20.A -, juris, Rn. 110 ff.
147Hinsichtlich dieses Aspekts gilt erst recht nichts Anderes für vulnerable Personen. Die Situation des Arbeitsmarktes hat sich nämlich im Jahr 2020 infolge der sogenannten Corona-Pandemie massiv verschlechtert und im Jahr 2021 jedenfalls (noch) nicht entscheidungserheblich gebessert. Die Arbeitslosenquote lag 2020 bei knapp 10 % (die Jugendarbeitslosigkeit bei knapp 33 %). Die italienische Wirtschaft ist im Jahre 2020 um 8,8 Prozent geschrumpft. Es handelt sich hierbei um den stärksten Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg.
148Vgl. SFH, Auskunft an das OVG NRW, 17. Mai 2021, S. 4 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 13 f.; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 114 ff. m.w.N.
149Gerade das Dienstleistungsgewerbe, vornehmlich der Tourismussektor, ist im Jahr 2020 um 69 % zurückgegangen.
150SFH, Auskunft an das OVG NRW, 17. Mai 2021, S. 5.
151Zwar hat sich Italiens Wirtschaft im Laufe des Jahres 2021 wieder etwas erholt. So konnte das Bruttoinlandsprodukt insbesondere durch Fördergelder der Europäischen Union und dadurch mögliche Investitionen ein Wachstum von knapp 5 % aufweisen. Vornehmlich die Produktion der verarbeitenden Industrie stieg im Zeitraum von Januar bis September 2021 gegenüber dem Vorjahr um 16,5 %. Auch für das Jahr 2022 liegen die Prognosen im positiven Bereich.
152Vgl. „Mit positivem Vorzeichen ins Jahr 2022“, abrufbar unter https://www.gtai.de/gtai-de/trade/italien/wirtschaftsumfeld1/mit-positiven-vorzeichen-ins-jahr-2022-244482.
153Dies hat aber jedenfalls aktuell noch keine beachtlichen tatsächlichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt ausweislich des italienischen Statistikamtes weiterhin zwischen 9 und 10 % (die Jugendarbeitslosigkeit bei 28 %)und ist damit die dritthöchste in der Europäischen Union.
154Vgl. https://www.istat.it/it/files//2022/01/Employment-and-unemployment_202111.pdf.
155Auch im Übrigen gibt es keine aktuellen Erkenntnismittel, nach denen die wirtschaftliche Lage eine solche Wandlung erfahren hat, als dass es nunmehr gerade für Asylsuchende mit ihren persönlichen Handicaps – vornehmlich das mangelnde Beherrschen der italienischen Sprache sowie das Fehlen spezifischer beruflicher Qualifikationen – eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines auskommend vergüteten Arbeitsplatzes gäbe.
156Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 137.
157Auch sind weder Anzahl oder Leistungsumfang der Notunterkünfte bzw. der Hilfsorganisationen verbessert worden, noch hat sich der Zugang zum allgemeinen Mietmarkt, zu Sozialwohnungen oder zu anderen staatlichen Unterstützungshandlungen entscheidungserheblich ausreichend gebessert. Im Gegenteil sind etwa die Notschlafstellen sogar im Zuge der Pandemie halbiert worden – unabhängig davon, dass sie in der Regel nur Schlafplätze, aber keine der Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen angemessene Unterkunft bieten.
158Vgl. dazu insgesamt OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2021 - 11 A 571/20.A -, juris, Rn. 30 ff., sowie Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 68 ff., 137 ff. bzw. 102 ff., 138 ff.; Romer, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Asylmagazin 2021, 207 (212); SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – aktuelle Entwicklungen, Juni 2021, S. 11 ff.
159Nach alledem bedarf es vor einer Abschiebungsanordnung von Familien mit minderjährigen Kindern, wie bei den Klägern und ihrer Familie, einer individuellen Garantieerklärung, dass Schutzsuchende bei ihrer Ankunft in Italien (auch aktuell) in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen und dass die Familieneinheit gewahrt wird.
160Das Vorliegen einer solchen individuellen Garantieerklärung der italienischen Behörden ist für die Kläger und ihrer Familie nicht vorgetragen und ergibt sich auch nicht aus dem beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes. Insbesondere haben die italienischen Behörden in ihrer Annahme des Wiederaufnahmegesuchs vom 11. Juni 2019 nichts Entsprechendes erklärt, sondern nur mitgeteilt, dass die Kläger und ihre Familie in Bologna empfangen würden, und um Mitteilung etwaiger Krankheiten gebeten. Von einer individuellen Garantieerklärung hinsichtlich einer adäquaten Unterbringung und Versorgung der gesamten Familie kann daher nicht die Rede sein.
161Angesichts der nicht entscheidungserheblichen Wandlung der tatsächlichen Verhältnisse kann auch die seitens der italienischen Behörden mit ihren Rundschreiben – zuletzt mit dem „circular letter“ vom 8. Februar 2021 – abgegebene Versicherung, wonach für eine zureichende Unterkunft für Familien mit Kleinkindern gesorgt werde, weiterhin nicht als tragfähig und genügend angesehen werden. Sie vermögen nämlich aufgrund ihrer Pauschalität und Allgemeinheit keine zuverlässige Basis zu begründen, auf der die im Einzelfall bestehende Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könnte. Im Übrigen folgt aus den Rundbriefen weiterhin nicht, dass Familien mit minderjährigen Kindern – entgegen den Darstellungen in den des erkennenden Gerichts vorliegenden Erkenntnismitteln – zur Verhinderung einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta auch über einen Zeitraum von sechs bzw. 18 Monaten hinaus untergebracht würden.
162Vgl. VG Bremen, Beschluss vom 8. Dezember 2021 - 6 V 1964/21 -, juris, Rn. 30; VG Oldenburg, Urteil vom 30. Juni 2021 - 6 A 1759/21 -, juris, Rn. 42; Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. Oktober 2021 - F-6330/2020 -, abrufbar unter https://www.bvger.ch/dam/bvger/de/dokumente/2021/10/F-6330_2020_WEB.pdf.download.pdf/F-6330_2020_WEB.pdf, Rn. 11.1; vgl. auch früher bereits VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26. Februar 2020 - 1a K 887/18.A -, juris, Rn. 167; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris, Rn. 26 f.
163cc)
164Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass die Beklagte nunmehr für die Prüfung des Asylverfahrens der Kläger zuständig ist. Aufgrund der beschriebenen, den Klägern und ihrer Familie drohenden Gefahr kann die Überstellung nach Italien als eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat nicht erfolgen. Dies hat gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 3 Dublin-III-VO den Übergang der Zuständigkeit auf den die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedsstaat, mithin die Beklagte, zur Folge, weil zum einen die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates nicht ersichtlich ist und zum anderen Italien zugleich der Mitgliedsstaat ist, in dem die Kläger erstmalig einen Asylantrag gestellt haben.
1652.
166Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine solche auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG beruhende Unzulässigkeitsentscheidung umgedeutet werden. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag (auch) unzulässig, wenn ein weiteres Asylverfahren bei einem Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG nicht durchzuführen ist, weil dessen Voraussetzungen nicht vorliegen.
167Zwar mag der jeweilige Asylantrag der Kläger als Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG angesehen werden. Ein solcher liegt nämlich nach § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn ein Asylantrag gestellt wird, nachdem ein in einem anderen Mitgliedsstaat geführtes Asylverfahren erfolglos abgeschlossen worden ist. Dass dem hier so ist, erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Auskunft der italienischen Behörden vom 4. Oktober 2019 naheliegend. Womöglich liegen dabei auch die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71a Abs. 1 AsylG nicht vor, weswegen der Asylantrag der Kläger als unzulässig zu bewerten sein könnte.
168Eine entsprechende Umdeutung ist in einem solchen Fall aber deshalb nicht zulässig, weil der Streitgegenstand bei einer wegen anderweitiger Prüfungszuständigkeit anzunehmenden Unzulässigkeit ein anderer ist als bei einer auf Grundlage der Regelungen zum Zweitantrag zu bejahenden Unzulässigkeit. Nach § 47 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt aber nur dann in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind.
169Hier sind die beiden möglichen Verwaltungsakte, die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags einerseits und die inhaltliche Ablehnung eines Zweitantrags nach § 71a AsylVfG, schon nicht auf das gleiche Ziel gerichtet. Erstere Entscheidung beinhaltet allein die Feststellung, dass nicht die Beklagte, sondern ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Der Inhalt des Asylbegehrens selbst spielt dabei keine Rolle. Letztere Variante bezieht sich die hingegen auf die materielle (Nicht-)Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Auch würde die Umdeutung der im Bescheid explizit genannten Absicht, den Asylantrag in der Bundesrepublik nicht materiell zu prüfen, widersprechen. Insoweit bilden beide Entscheidungen auch zwei verschiedene (prozessuale) Streitgegenstände: Denn eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützte (Unzulässigkeits-)Entscheidung hat zur Folge, dass der (Zweit-)Antrag des Klägers auch von keinem anderen Staat geprüft wird und er grundsätzlich in jeden zu seiner Aufnahme bereiten Staat einschließlich seines Herkunftslands abgeschoben werden könnte, während die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit.a AsylG – wie hier geschehen – „nur“ eine Abschiebung in den für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Staat zur Folge hat, in dem die Prüfung des Asylbegehrens jedenfalls nicht per se ausgeschlossen ist.
170Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 -, juris, Rn. 21; BayVGH, Beschluss vom 23. Januar 2015 - 13a ZB 14.50071 -, juris, Rn. 9; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 24. Oktober 2014 - RN 8 K 14.30034 -, juris, Rn. 22 ff.
171II.
172Angesichts der Aufhebung der Ziffer 1 fehlt es auch für die weiteren Ziffern im streitgegenständlichen Bescheid an den Voraussetzungen ihrer jeweiligen Rechtsgrundlagen, weil jedenfalls in dieser Konstellation bei den erlassenen Ziffern stets die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vonnöten ist, an der es aufgrund der bereits gemachten Ausführungen gerade mangelt. Das gilt sowohl für das in Ziffer 2 enthaltene Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG), als auch die in Ziffer 3 angeordnete Abschiebung (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG), als auch für die in Ziffer 4 vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG).
173III.
174Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 709 Satz 2 und 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
175Rechtsmittelbelehrung:
176Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1771. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
1782. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
1793. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
180Die Zulassung der Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich zu beantragen. In dem Antrag, der das angefochtene Urteil bezeichnen muss, sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
181Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
182Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
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