Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 18a L 672/22.A
Tenor
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage – 18a K 2168/22.A – gegen die in Ziffer 3., Sätze 1 bis 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Mai 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung mit vorrangigem Zielstaat Griechenland wird angeordnet.Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2Die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 114, § 115 der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Antragsteller hat die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht nachgewiesen, da er trotz Aufforderung durch das Gericht keine Erklärung zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen abgegeben hat.
3Der sinngemäße Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage – 18a K 2168/22.A – gegen die in Ziffer 3., Sätze 1 bis 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Mai 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung mit vorrangigem Zielstaat Griechenland anzuordnen,
5über den gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) die Berichterstatterin als Einzelrichterin entscheidet, hat Erfolg.
6Er ist zulässig (dazu 1.) und begründet (dazu 2.).
71.
8Der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gestellte Antrag ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die nach §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 Abs. 1 und 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erlassene Abschiebungsandrohung ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
9Der Antrag ist auch nicht im Hinblick darauf, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) in Ziffer 5. des angefochtenen Bescheides vom 10. Mai 2022 die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO ausgesetzt hat unstatthaft bzw. fehlt es dem Antragsteller nicht an dem notwendigen Rechtsschutzbedürfnis.
10Es bestehen erhebliche Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Aussetzungsentscheidung.
11Gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO haben die Behörden grundsätzlich die Befugnis, nach Ermessen die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Zwar ist nach dem Asylgesetz ist die behördliche Aussetzung der Vollziehung nicht ausgeschlossen.
12Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das Bundesamt zusammen mit einer ablehnenden Asylentscheidung bzw. einer Unzulässigkeitsentscheidung eine Abschiebungsandrohung erlassen, deren Vollziehung es gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO für die Dauer eines etwaigen Eilverfahrens bzw. bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens aussetzt. Für eine derartige im Ermessen der Behörde liegende Aussetzungsentscheidung genügt grundsätzlich ein sachlich tragfähiger, willkürfreier und nicht missbräuchlicher Anlass,
13vgl. zur Zulässigkeit der Aussetzung der Vollziehung in Verfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 – 1 C 15.18 –, juris, Rn. 49 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 – 1 C 19.19 –, juris, Rn. 54 f.
14Hierzu hat die Behörde die rechtliche Normenstruktur, innerhalb derer die Aussetzungsentscheidung ergeht, ebenso zu berücksichtigen wie die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls,
15vgl. VG Freiburg, Urteil vom 30. Januar 2019 – A 4 K 9894/17 –, juris, Rn. 29.
16Die Aussetzung der Vollziehung in Ziffer 5. des angefochtenen Bescheides genügt jedoch den vorstehenden Anforderungen nicht, weil sie – unabhängig vom Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen – offensichtlich ermessensfehlerhaft ist,
17vgl. zu einer mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbaren Konstellation VG Bremen, Beschluss vom 4. November 2021 – 2 V 1370/21 –, juris, Rn. 16 ff.
18Zur Begründung der Aussetzung der Vollziehung hat das Bundesamt Folgendes ausgeführt:
19„[…] Durch die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO wird die Wirksamkeit dieses Verwaltungsaktes vorläufig gehemmt. Sie lebt wieder auf, wenn die Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag unanfechtbar wird (ThürOVG, Beschluss v. 03.12.1998 — 3 EO 119/97) oder das Bundesamt die Aussetzung abändert oder aufhebt (OVG NRW, Beschluss v. 18.05.2004 — 15 B 748/04). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 15.01.2019 (1 C 15.18) festgestellt, dass das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzen kann. Solange die Wirksamkeit der Abschiebungsandrohung gehemmt ist, ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO weder statthaft, noch besteht dahingehend ein Rechtsschutzbedürfnis. […]“
20Hieraus wird bereits nicht hinreichend deutlich, dass sich das Bundesamt dessen bewusst war, dass ihm § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO für die zu treffende Einzelfallentscheidung Ermessen eröffnet. Unabhängig davon lassen die vorstehenden allgemeinen Ausführungen eine eingehende Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Sachverhalt vermissen. Aus welchen sachlich tragfähigen, willkürfreien und nicht missbräuchlichen Gründen das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung im vorliegenden Einzelfall ausgesetzt hat, legt es nicht dar. Insbesondere mangelt es an besonderen, die Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf die Regelung aus § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtfertigenden Ausführungen. Nach der vorgenannten Vorschrift werden die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und die Abschiebungsandrohung unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht.
21Hiermit setzt sich das Bundesamt nicht im angegriffenen Bescheid ansatzweise auseinander. Zwar nimmt es pauschal auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Januar 2019 – 1 C 15.18 –Bezug. Dabei lässt es aber unberücksichtigt, dass das vorgenannte Urteil einen Sachverhalt gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG – und nicht wie vorliegend einen Erstantrag – betrifft. Dass und warum dem Antragsteller der in der vorliegenden Situation für den Fall des Obsiegens im – ebenfalls nach der gesetzlichen Grundentscheidung statthaften – Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gesetzlich eröffnete Zugriff auf die weitergehende Rechtsfolge des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG verwehrt werden soll, wird nicht erklärt. Weitere, die Willkürfreiheit der Aussetzungsentscheidung zu begründende Ausführungen sind dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen.
222.
23Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist auch begründet.
24Bei der Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die insoweit gemäß § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entscheidung der Antragsgegnerin anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse der Betroffenen an einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuwägen, wobei allerdings gemäß §§ 36 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AsylG eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bescheides in Betracht kommt. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Entscheidung des Bundesamtes einer rechtlichen Überprüfung wahrscheinlich nicht standhält.
25Dies vorausgesetzt, fällt die Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs und dem Öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung zu Gunsten des Antragstellers aus.
26Die in Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes vom 10. Mai 2022 enthaltene, auf § 34, § 35 und § 36 Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung mit dem vorrangigen Zielstaat Griechenland und einer Ausreisefrist von einer Woche ist nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich rechtswidrig. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war, wobei die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG eine Woche beträgt.
27Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
28Zwar wurde dem Antragsteller ausweislich des am 29. September 2020 erzielten Treffers in der EURODAC-Datenbank mit der Kennnummer „XXX“ am 12. Februar 2020 in Griechenland internationaler Schutz gewährt. Gleichwohl kann die Unzulässigkeitsentscheidung im Falle des Antragstellers nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist – dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren,
29vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C‑540 und 541/17 (Hamed und Omar) –, juris; ferner bereits EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C‑163/17 (Jawo) –, juris, Rn. 81 bis 97, und vom 19. März 2019 – C‑297/17 u.a. (Ibrahim) –, juris, Rn. 83 bis 94.
30Für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU nimmt der EuGH einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh an, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre,
31vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 (Jawo) –, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 – C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) –, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können.
32Die vorstehenden Grundsätze vorausgesetzt, ist unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,
33Urteile vom 5. April 2022 – 11 A 314/22.A –, Rn. 34 bis 107 und vom 21. Januar 2021 – 11 A 1564/20.A –, Rn. 24 bis 101, jeweils abrufbar bei juris,
34auch im Falle des Antragstellers – einem jungen und offenbar gesundem Mann – davon auszugehen, dass ihm für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Es steht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten, dass er aufgrund ihm in Griechenland drohender Obdachlosigkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte.
35Die beschließende Kammer schließt sich den diesbezüglichen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in den vorgenannten Entscheidungen in Bezug auf den Antragsteller des vorliegenden Verfahrens an und macht sie sich vollumfänglich zu eigen. Dass sich die Umstände in Griechenland zwischenzeitlich derart verändert hätten, dass eine Verletzung der Rechte des Antragstellers aus Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten wäre, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
36Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
37Rechtsmittelbelehrung:
38Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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