Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Hamburg (1. Kammer) - 1 A 3310/16
Tenor
Der Bescheid vom 13. Juli 2016 wird aufgehoben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheides vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand
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Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, wenden sich gegen einen Dublin-Bescheid.
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Die Kläger reisten am 17. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und suchten am 29. Oktober 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung der Freien und Hansestadt Hamburg in der Harburger Poststraße um Asyl nach. Die Freie und Hansestadt Hamburg zeigte der Beklagten das Asylgesuch der Kläger mit E-Mail vom 29. Oktober 2015 an. Die Beklagte beraumte mit Schreiben ebenfalls vom 29. Oktober 2015, das am selben Tag bei der Freien und Hansestadt Hamburg einging, einen Termin zur erkennungsdienstlichen Behandlung und Aktenlage für den 11. März 2016 an. Die Freie und Hansestadt Hamburg stellte den Kläger daraufhin am 29. Oktober 2015 eine bis zum 11. März 2016 gültige Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende aus.
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In der Folgezeit reisten die Kläger nach Schweden. Dort stellten sie am 5. November 2015 Asylanträge. Anschließend kehrten sie in die Bundesrepublik Deutschland zurück.
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Am 11. März 2016 stellten die Kläger Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte richtete am 14. März 2016 ein Übernahmeersuchen an das Königreich Schweden, dem dieses mit Schreiben vom 17. März 2016 zustimmte.
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Mit Bescheid vom 13. Juli 2016 lehnte die Beklagte die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Nr. 1). Die Beklagte ordnete die Abschiebung der Kläger nach Schweden an (Nr. 2) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot im Sinne von § 11 Abs. 1 AufenthG auf drei Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 3). Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid vom 13. Juli 2016 Bezug genommen.
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Am 20. Juli 2016 haben die Kläger Klage erhoben und um Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht.
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Das Gericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 13. Juli 2016 mit Beschluss vom 26. August 2016 angeordnet (VG Hamburg, Beschl. v. 26.8.2016, 1 AE 3311/16).
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 13. Juli 2016 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist die Beklagte auf ihren Bescheid vom 13. Juli 2016.
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Das Gericht hat den Beteiligten mitgeteilt, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid erwäge, und ihnen Gelegenheit gegeben, ihren Vortrag in sachlicher und rechtlicher Hinsicht zu ergänzen.
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Die Asylakten und die Ausländerakten haben bei der Entscheidung vorgelegen.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Gericht entscheidet nach § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer (§ 87a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO).
II.
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Die Klage hat Erfolg, sie ist zulässig (hierzu unter 1.) und begründet (hierzu unter 2.).
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1. Die Klage ist zulässig, insbesondere gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO als Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 13. Juli 2016 statthaft.
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Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart, wenn Asylbewerber die Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung ihrer Asylanträge nach den unionsrechtlichen Regelungen der Dublin-Verordnungen begehren (BVerwG, Urt. v. 27.4.2016, 1 C 24/15, juris, Rn. 9; Urt. v. 27.10.2015, 1 C 32/14, juris, Ls. 1 und Rn. 13).
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2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 13. Juli 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Die Asylanträge der Kläger sind nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Staates für die Durchführung ihrer Asylverfahren unzulässig (Nr. 1 des Bescheides vom 13. Juli 2016). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Königreich Schweden nach den Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) nicht für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger zuständig (s. im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes VG Hamburg, Beschl. v. 26.8.2016, 1 AE 3311/16, n. v. sowie in einem vergleichbaren Fall VG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2016, 14 AE 2937/16, n. v.).
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aa) Aus den nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin III-VO vorrangig heranzuziehenden Vorgaben in ihrem Kapitel III ergibt sich die Zuständigkeit Schwedens nicht.
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Insbesondere ist die Zuständigkeit Schwedens nicht nach Art. 12 der Dublin III-VO begründet, weil die Kläger weder im Besitz gültiger Aufenthaltstitel noch im Besitz gültiger Visa für Schweden waren. Auch nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der Dublin III-VO liegt eine Zuständigkeit Schwedens nicht vor, da die Kläger die schwedische Grenze nicht aus einem Drittstaat kommend überschritten haben.
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bb) Die Zuständigkeit Schwedens ergibt sich auch nicht aus der Auffangregelung in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 der Dublin III-VO.
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Lässt sich anhand der Kriterien der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, ist danach der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Dies ist hier nicht das Königreich Schweden, weil es sich bei dem am 5. November 2015 dort gestellten Asylantrag nicht um den ersten von den Klägern gestellten Antrag auf internationalen Schutz handelt.
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Zwar haben die Kläger in der Bundesrepublik Deutschland zuvor – am 26. Oktober 2015 – gegenüber der Ausländerbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg lediglich um Asyl nachgesucht und erst – nachdem sie am 5. November 2015 in Schweden einen Asylantrag gestellt hatten – am 11. März 2016 förmlich einen Asylantrag im Sinne von § 14 AsylG gestellt. Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO jedoch bereits als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Dies ist hier hinsichtlich des in der Bundesrepublik Deutschland angebrachten Asylgesuchs bereits am 29. Oktober 2015 geschehen.
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Aus den Ausländerakten der Kläger geht hervor, dass die Freie und Hansestadt Hamburg ihr Asylgesuch mit E-Mail vom 29. Oktober 2015 gegenüber der Beklagten angezeigt hat (Bl. 3 der Ausländerakte 15102800853). Auch wenn sich diese Anzeige nicht in den vorgelegten Asylakten findet, ist davon auszugehen, dass sie der Beklagten zugegangen ist, da sie mit Schreiben vom 29. Oktober 2015, das am selben Tag bei der Freien und Hansestadt Hamburg eingegangenen ist, im Asylverfahren der Kläger einen Termin zur erkennungsdienstlichen Behandlung und Aktenanlage für den 11. März 2016 anberaumt hat. Ebenfalls am 29. Oktober 2015 stellte die Freie und Hansestadt Hamburg den Klägern eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende aus.
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Bei der durch die Ausländerbehörde erfolgten Anzeige des Asylgesuchs gegenüber der Beklagten handelt es sich um ein behördliches Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO. Dies verdeutlicht die vergleichbare Regelung zur fingierten förmlichen Antragstellung in der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.6.2013, 60 ff; im Folgenden: Verfahrensrichtlinie). Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt nach der Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO im Wesentlichen entsprechenden Regelung in Art. 6 Abs. 4 der Verfahrensrichtlinie als förmlich gestellt, sobald der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist. Bei einem behördlichen Protokoll im Sinne dieser Vorschriften handelt es sich um ein Dokument, aus dem sich die Stellung eines Asylgesuchs ergibt und das nicht von der für die Bearbeitung des Asylantrages zuständigen, sondern von einer anderen Behörde stammt, bei der Asylgesuche typischerweise angebracht werden. Als solche nennt die Verfahrensrichtlinie die Polizei, Grenzschutz- und Einwanderungsbehörden sowie das Personal von Gewahrsamseinrichtungen (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 der Verfahrensrichtlinie). Hierzu gehören in der Bundesrepublik Deutschland auch die Ausländerbehörden, die die Beklagte nach § 20 Abs. 2 Satz 2 AsylG über die Stellung eines Asylgesuchs zu unterrichten haben.
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cc) Die Kläger können sich auch auf die fehlerfreie Anwendung der Dublin III-VO berufen.
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Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union können Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über ihre Überstellung die fehlerhafte Anwendung der in der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriterien geltend machen. Der Unionsgesetzgeber hat sich nicht darauf beschränkt, in der Dublin III-VO organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern sich dafür entschieden, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet hat, die Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben, und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zu gewährleisten. Letzteres ergibt sich aus Art. 27 Abs. 1 der Dublin III-VO, wonach Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht haben. Hierzu gehört nach dem 19. Erwägungsgrund der Dublin III-VO insbesondere die Kontrolle der fehlerfreien Anwendung der Dublin III-VO (EuGH, Urt. v. 7.6.2016, C-63/15, juris, Tenor sowie Rn. 51 und 44).
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b) Die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebung der Kläger nach Schweden (Nr. 2 des Bescheides vom 13. Juli 2016) nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen mangels Zuständigkeit des Königreichs Schweden für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger nicht vor.
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c) Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Sinne von § 11 Abs. 1 AufenthG auf drei Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 3 des Bescheides vom 13. Juli 2016) kann keinen Bestand haben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die Grundlage für die zu befristenden Wirkungen der Abschiebung entfällt.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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