Beschluss vom Verwaltungsgericht Hamburg (17. Kammer) - 17 E 10199/17

Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, gegenüber der Antragstellerin keine Maßnahmen zur Beendigung oder Sanktionierung des Weiterbetriebes der in der […] belegenen Spielhalle zu ergreifen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 7.500,-- € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Mit Erfolg begehrt die Antragstellerin, die in der […] eine Spielhalle betreibt und im Hauptsacheverfahren die Erteilung der für den Betrieb gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Hamburgisches Spielhallengesetz (HmbSpielhG) erforderlichen, von der Antragsgegnerin abgelehnten Erlaubnis erstrebt, die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der Ermöglichung des Weiterbetriebs ihrer Spielhalle. Der auf § 123 Abs. 1 VwGO gestützte Antrag, gegen dessen Zulässigkeit keine Bedenken bestehen, ist begründet. Die Antragstellerin hat das Bestehen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes, wie von § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO gefordert, glaubhaft gemacht.

1.

2

Im vorliegenden Verfahren obliegt es dem Gericht, die einstweilige Anordnung, orientiert an dem von der Antragstellerin verfolgten Rechtsschutzziel, nach freiem Ermessen zu treffen. An die von der Antragstellerin ausdrücklich vorrangig gestellten Feststellungsanträge bzw. den Antrag auf Erteilung einer „einstweiligen Erlaubnis“ zum Spielhallenbetrieb ist das Gericht gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO nicht gebunden. Das sich aus dem Vorbringen der Antragstellerin ergebende und schon in den Feststellungsanträgen enthaltene Rechtsschutzziel ist eindeutig. Es geht dahin, auch nach dem 31.12.2017 – dem Tag, bis zu dem die Antragsgegnerin den Betrieb von Bestandsspielhallen über den im Gesetz genannten Stichtag vom 30.06.2017 (§ 9 Abs. 1 Satz 1 HmbSpielhG) hinaus geduldet hat – die Spielhalle weiterbetreiben zu können, ohne die Einleitung eines ordnungsbehördlichen Verfahrens mit dem Ziel der Schließung der Spielhalle und/oder eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens wegen Betreibens einer Spielhalle ohne die erforderliche Erlaubnis befürchten zu müssen. Der gegenwärtige Zustand – der durch einstweilige Anordnung zu sichernde status quo – besteht somit in der Möglichkeit, den Spielhallenbetrieb bis auf weiteres auch ohne die Erteilung der gemäß § 2 Abs. 1 HmbSpielhG grundsätzlich erforderlichen Erlaubnis weiterführen zu können. Dieses Rechtsschutzziel ist durch eine Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu erreichen. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Sicherungsanordnung liegen vor. Es besteht die Gefahr, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.

2.

3

Die Antragstellerin besitzt den für die Sicherungsanordnung erforderlichen Anordnungsanspruch. Ihr steht ein durch die Änderung des status quo gefährdetes Recht zu. Als Rechte im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO kommen sowohl materielle Rechte als auch Verfahrensrechte in Betracht (vgl. nur Eyermann/Happ, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 123 Rn 22 m.w.Nw.). Einschlägig ist hier nach Auffassung der Kammer das Recht der Antragstellerin, an einem chancengleich ausgestalteten und in jeder Hinsicht verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Verfahren zur Auswahl derjenigen Spielhalle, welche unter mehreren in räumlicher Nähe gelegenen Spielhallen eine Erlaubnis nach § 2 Abs. 1 HmbSpielhG erhält, teilnehmen zu können.

4

Die Notwendigkeit, ein solches Auswahlverfahren durchzuführen, ergibt sich unmittelbar aus dem Hamburgischen Spielhallengesetz. In Umsetzung der mit dem Glücksspielstaatsvertrag vereinbarten Ziele hat die Antragsgegnerin mit dem Hamburgischen Spielhallengesetz eine Regelung erlassen, die darauf abzielt, die Zahl der in ihrem Zuständigkeitsbereich betriebenen Spielhallen erheblich zu verringern. Dies wird bewirkt durch eine lokale Beschränkung auf nur eine Spielhalle je Spielhallenstandort (§ 2 Abs. 5 Nr. 6 HmbSpielhG) sowie eine Beschränkung in der Fläche durch Schaffung der im vorliegenden Fall einschlägigen Abstandsregelung von 500 m bzw. – in bestimmten Stadtteilen – 100 m zum jeweils nächsten Spielhallenstandort, § 2 Abs. 2 Sätze 2, 3 HmbSpielhG. Die Verfolgung dieses gesetzgeberischen Ansatzes erfordert zwangsläufig ein Auswahlverfahren. Bei der vorliegend zu beurteilenden flächenbezogenen Reduktion der Spielhallen hat die Antragsgegnerin zu entscheiden, welche Spielhalle sich bei Unterschreitung des genannten Mindestabstands gegen konkurrierende Betriebe durchsetzt. Das Gesetz regelt diese Konkurrenzsituation in § 9 Abs. 4 HmbSpielhG. Wird der genannte Mindestabstand zwischen bestehenden Unternehmen nicht eingehalten, hat danach die „länger bestehende Spielhalle“ Vorrang, ansonsten soll die Gewerbeanmeldung maßgeblich sein.

5

Das von der Antragsgegnerin auf den genannten rechtlichen Grundlagen durchgeführte Verteilungsverfahren, das hier zu Lasten der Antragstellerin und zu Gunsten der im Verfahren der Hauptsache beigeladenen Spielhallenbetreiberin ausgegangen ist, ist offenkundig rechtswidrig. Es hält zur Überzeugung der Kammer die insoweit verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen nicht ein.

a.

6

Allerdings ist die der Verringerung der Anzahl der Spielhallen in der Fläche dienende Abstandsregelung in § 2 Abs. 2 HmbSpielhG entgegen der von der Antragstellerin vertretenen Auffassung sowohl mit Verfassungs- als auch mit Unionsrecht vereinbar. Das hat das Bundesverfassungsgericht für insoweit der Sache nach identische Gesetze anderer Bundesländer festgestellt (BVerfG, Beschl. v. 7.3.2017 – 1 BvR 1314/12 – juris Rn 119 ff. zur Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht, Rn 124 zur Vereinbarkeit mit Unionsrecht; auch das Bundesverwaltungsgericht hat hinsichtlich der Unionsrechtskonformität keine Bedenken geäußert, vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 16.12.2016 – 8 C 6/15 – juris Rn 83 ff.; s. zur Verfassungskonformität auch OVG Hamburg, Beschl. v. 21.1.2016 – 4 Bs 90/15 – juris Rn 16 ff.). Eine Wiederholung der tragenden Erwägungen der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, welche den Beteiligten bekannt ist, ist im Rahmen der hier zu treffenden Entscheidung ebenso unangebracht wie eine nähere Auseinandersetzung mit dem sich zu jener Entscheidung kritisch äußernden Schrifttum (vgl. Krüper, Marktbereinigung unter Wesentlichkeitsvorbehalt, GewArch 2017, S. 257 ff.; ders., Anmerkung, GewArch 2017, S. 349; Sauer, Rechtsstaatliche Regulierungsanforderungen an die Neuordnung eines Gewerbes, ZfWG, Sonderbeilage 2/2017, S. 18 ff.; Schneider, Die Zerschlagung eines (ehemals) freien Gewerbes - Kritische Bemerkungen zum Spielhallen-Beschluss des BVerfG, NVwZ 2017, 1073 ff.).

b.

7

Durchgreifende Bedenken hat die Kammer jedoch hinsichtlich des in § 9 Abs. 4 HmbSpielhG geregelten Auswahlkriteriums des Vorranges der länger bestehenden Spielhalle (Anciennitätsprinzip). Diese Regelung ist zur Überzeugung der Kammer verfassungswidrig. Art. 100 Abs. 1 GG, wonach in solchen Fällen das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen ist, ist nicht einschlägig. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist der nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive Rechtsschutz ohne Vorlage an das Bundesverfassungsgericht dann zu gewähren, wenn hierdurch die Hauptsache nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung v. 4.3.2014 – 2 BvL 2/13 – juris Rn 17 m.w.Nw.). So verhält es sich hier. Die getroffene Sicherungsanordnung besagt nichts über einen etwaigen Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Spielhallenerlaubnis und berührt die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Kompetenz zur verbindlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht, sondern beschränkt sich auf einstweiligen Rechtsschutz.

8

Die vom beschließenden Gericht gleichwohl aus eigener Bewertung gebildete und die getroffene Sicherungsanordnung rechtfertigende Überzeugung der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 9 Abs. 4 HmbSpielhG beruht darauf, dass diese Regelung die Antragstellerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG, die ihr nach Art. 19 Abs. 3 GG zustehen, verletzt. Für das zum Nachteil der Antragstellerin ausgegangene Auswahlverfahren war die Bestimmung des § 9 Abs. 4 HmbSpielhG ausschlaggebend, weil die im Klagverfahren beigeladene Spielhallenbetreiberin sich gegenüber der Antragsgegnerin mit Erfolg darauf berufen hat, ihre Spielhalle an einem „älteren“ Standort zu betreiben. Daher ist das Auswahlverfahren rechtswidrig. Aus den betroffenen Grundrechten der Antragstellerin in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, welches den Grundsatz der Folgenbeseitigung enthält, ergibt sich der zu sichernde Anspruch der Antragstellerin auf eine (neue) Entscheidung in einem nach rechtmäßigen Kriterien durchgeführten Auswahlverfahren (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.10.1988 – 7 C 65/87 – juris Rn. 10).

9

Das in § 9 Abs. 4 HmbSpielhG geregelte Auswahlkriterium genügt nicht den sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Bezug auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte freie Berufsausübung ergebenden Anforderungen.

10

Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Damit ist ihm allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich vielmehr je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen unterliegt der Gesetzgeber dabei regelmäßig einer strengen Bindung, weil insoweit die fundamentale Gerechtigkeitsanforderung der Gleichheit aller vor dem Gesetz angesprochen ist. Daher ist das Gleichheitsgrundrecht verletzt, wenn der Gesetzgeber bei Regelungen, die Personengruppen betreffen, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können. Dabei sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten, namentlich auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte freie Berufsausbildung auswirken kann (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 10.12.2014 – 17 K 2429/13 – juris Rn 124 f. m.w.Nw.).

11

Die genannten Grundsätze sind im vorliegenden Fall in ihrer strikten Ausprägung einschlägig. Die Anwendung des in Rede stehenden Anciennitätsprinzips führt dazu, dass eine Gruppe von Normadressaten, die Betreiber von „älteren“ Bestandsspielhallen, gegenüber einer anderen Gruppe von Normadressaten, den Betreibern von „jüngeren“ Bestandsspielhallen, evident ungleich behandelt wird. Dem einen Normadressaten wird die beantragte Spielhallenerlaubnis – innerhalb der sich aus der Abstandsregelung ergebenden Konkurrenzsituation – erteilt, dem anderen Normadressaten wird sie hingegen verwehrt. Der sachliche Grund für das vom Gesetz gewählte Auswahlkriterium ist die zeitliche Dauer der Ausübung des Glückspiels am jeweiligen Standort. In Bezug auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit erfordert der allgemeine Gleichheitssatz jedoch aufgrund des erheblichen Gewichts, das der Entzug der Gewerbeerlaubnis wegen des drohenden völligen oder teilweisen Verlusts der beruflichen Betätigungsmöglichkeit (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.3.2017 – 1 BvR 1314/12 – juris Rn 183) und auch wegen der im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin nur sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Alternativstandorte (zur vergleichbaren Problematik in Berlin: Jarass, NVwZ 2017, 273, 274) hat, die Bewältigung vielgestaltiger Auswahlkonstellationen anhand sachgerechter Kriterien (BVerfG, a.a.O. Rn 185). Das Abstellen allein auf das in § 9 Abs. 4 HmbSpielhG gewählte Auswahlkriterium des Alters des Spielhallenbetriebs rechtfertigt die ungleiche Behandlung der Normadressaten nicht.

aa.

12

Es fehlt diesem Kriterium bereits an einer gleichsam inneren Rechtfertigung. Die Regelung des Hamburgischen Spielhallengesetzes beruht – ebenso wie die Vereinbarungen der Länder durch den Glücksspielstaatsvertrag – auf der Erkenntnis der Sozialschädlichkeit des Spielhallenbetriebes. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts führt dies sogar zu einer prinzipiellen Verringerung des in Art. 12 GG enthaltenen Grundsatzes des Vertrauensschutzes (BVerfG, a.a.O. Rn 190). Vor diesem Hintergrund ist es wenig überzeugend, wenn der Gesetzgeber gerade den Spielhallenbetreiber durch Einräumung eines Vorranges in der Auswahl prämiert, der sein Gewerbe an einem Standort ausübt, wo das sozialschädliche Verhalten vergleichsweise am längsten praktiziert worden ist.

bb.

13

Die Kammer sieht zudem keinen sachlichen Anknüpfungspunkt für die Zuerkennung besonderen Bestands- oder Vertrauensschutzes. Wenn es, wie das Bundesverfassungsgericht erkannt hat, bei Spielhallenbetreibern ohnehin an Anhaltspunkten für die Zubilligung eines schutzwürdigen Vertrauens in den Weiterbetrieb ihrer Unternehmen fehlt (BVerfG, a.a.O. Rn 189 ff), ist nicht nachvollziehbar zu begründen, wieso dies ausgerechnet unter Anciennitätsgesichtspunkten anders sein sollte.

14

Das sich aus der Gesetzesbegründung zu § 9 Abs. 4 HmbSpielhG ergebende Motiv für das Abstellen auf den ältesten Standort, nämlich der Schutz familiengeführter einzelkaufmännischer Spielhallenbetriebe (vgl. Bü-Drucks. 21/3228, S. 13), ist keine überzeugende Begründung für die Zuerkennung besonderen Vertrauensschutzes zugunsten solcher Betriebe. Es handelt sich diesbezüglich der Sache nach um eine bloße Fiktion. Nach der Übersicht, welche das beschließende Gericht aus den bei ihm anhängigen einschlägigen Verfahren gewonnen hat, stellen solche Unternehmen jedenfalls keine relevante Gruppe von Normadressaten, sondern eher eine Ausnahmeerscheinung dar. Selbst wenn man annehmen wollte, dass etliche der als juristische Person auftretenden Spielhallenbetreiber historisch auf solche Familienunternehmen zurückführbar wären, wäre sachlich nicht begründbar, weshalb sie derart privilegiert werden dürften. Erst recht ist nicht sachlich begründbar, weshalb diese Privilegierung in einer wenn nicht überwiegenden, so doch zumindest relevant großen Zahl von Fällen solchen Betreibern zu Gute kommen sollte, die definitiv auf keine derartige Unternehmensgeschichte verweisen können.

cc.

15

Dass es dem Anciennitätsprinzip ohnehin an jeder Verbindung zu den gesetzgeberischen Zielen fehlt, welche dem Hamburgischen Spielhallengesetz wie dem Glücksspielstaatsvertrag zugrunde liegen, ist evident und wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Der Sache nach handelt es sich somit um ein formell zu definierendes Kriterium, welches, nicht anders als das Losverfahren, maßgeblich vom Zufall bestimmt wird. Dem Zufall des Losergebnisses entspricht hier der Zufall der örtlichen Lage der um die Erteilung einer Spielhallenerlaubnis konkurrierenden Unternehmen. Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist dies für die Spielhallenbetreiber noch mit einem zusätzlichen Defizit verbunden, weil sie, anders als beim Losverfahren, keineswegs chancengleich an dem von der Zufallsentscheidung determinierten Verfahren partizipieren. Vielmehr hat der Betreiber, der – innerhalb der Abstandsregelung – mit einer „älteren“ Spielhalle konkurriert, aufgrund des zufälligen Lagenachteils von vornherein keine Chance auf erfolgreiche Teilnahme am Auswahlverfahren.

dd.

16

Weiterhin kollidiert das Anciennitätsprinzip als alleiniges Auswahlkriterium mit dem aus den grundrechtlich geschützten Positionen der Spielhallenbetreiber erwachsenden Anspruch auf die bestmögliche Ausschöpfung der bei Beachtung der Mindestabstände verbleibenden Standortkapazität. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Optimierungsanspruch ausdrücklich hervorgehoben (BVerfG, a.a.O. Rn 185). Das in Rede stehende Auswahlkriterium wird dem nicht gerecht. Im Gegenteil erweist sich unter Umständen dieses Kriterium als ein die Abstandsregelung zusätzlich „dynamisierendes“ und damit die Zahl der Spielhallen zusätzlich reduzierendes Element: Bei bestimmten räumlichen Gegebenheiten kann eine „Altspielhalle“ nach verschiedenen Seiten mehr an „jüngeren“ Standorten betriebene Spielhallen verdrängen, als dies nach einem von der Abstandsregelung unter anderen (sachlich gerechtfertigten) Kriterien determinierten Auswahlverfahren der Fall wäre. Einer bestmöglichen Ausschöpfung der Auswahlressourcen steht es als absolut wirkendes Kriterium prinzipiell entgegen (vgl. hierzu auch Krainbring, ZWG 2016, 200, 203).

ee.

17

Schließlich wird dieses Auswahlkriterium auch der sich aus Verfassungsrecht ergebenden Forderung nach einer an sachlichen Gesichtspunkten ausgerichteten hinlänglichen Differenzierung der Auswahlentscheidungen nicht gerecht. Die infolge der Abstandsregelung zu treffende Auswahlentscheidung berührt, wie dargelegt, nicht nur die sich aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG ergebenden Rechte sämtlicher Betreiber, sondern konfrontiert die Antragsgegnerin mit einer vergleichsweise großen Zahl in der Auswahl konkurrierender Bewerber. Diese werden vielfach sehr unterschiedliche ökonomische Kennziffern (wie Erträge, Zahl der Standorte, mietvertragliche Ausgestaltung, Amortisation/Abschreibung des Inventars, Zahl der Beschäftigten etc.) aufweisen. Zudem werden sich Unterschiede in der Erfüllung der normativen Vorgaben an die Bekämpfung/Vermeidung der Spielsucht feststellen lassen. Zusammengenommen sieht sich die Antragsgegnerin bei der zu treffenden Auswahlentscheidung einem in normativer wie empirisch-ökonomischer Hinsicht hochkomplexen Datenbestand gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht begründet sogar mit den Schwierigkeiten und der Komplexität der „Bewältigung der vielgestaltigen Auswahlkonstellation anhand sachgerechter Kriterien“ erhebliche Abstriche an die fundamentale verfassungsrechtliche Forderung des Gesetzesvorbehalts (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn 184 f.). Gemessen daran ist es gewissermaßen unterkomplex und wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine hinlänglich sachlich begründete Auswahlentscheidung nicht ansatzweise gerecht, lediglich auf ein Kriterium abzustellen, das sachlich zudem als äußerst fragwürdig erscheint.

18

Dass das Bundesverfassungsgericht es in diesem Zusammenhang für nicht erforderlich ansieht, die bei der Verringerung der Anzahl der Spielhallen anzuwendenden Auswahlkriterien im Gesetz zu regeln, führt zu keiner anderen verfassungsrechtlichen Bewertung. Denn das Bundesverfassungsgericht begründet dies, wie erwähnt, mit der großen Komplexität und Vielgestaltigkeit der zu treffenden Auswahlentscheidungen, die sachgerechter der Verwaltung überlassen werden könne (BVerfG, a.a.O. Rn 185). Das Hamburgische Spielhallengesetz jedoch gibt die Auswahl eben nicht in diesem Sinne für die Behörden frei, sondern trifft sie, die Behörden bindend, selbst und zwar mit einem einzigen Kriterium.

ff.

19

Das Vorbringen der Antragsgegnerin rechtfertigt keine andere Bewertung. Sie stellt nicht in Abrede, dass das in Frage stehenden Anciennitätsprinzip keinen Bezug zu den in § 1 GlSpielStV genannten Kriterien aufweist und sieht seinen Vorzug gerade darin, dass es sich um ein formelles Kriterium handele, welches eine willkürfreie und aus sich heraus plausible sowie transparente Auswahl ermögliche. Inhaltlich sei es im Hinblick auf das für Auswahlverfahren anerkannte Prioritätsprinzip und unter Bestandsschutzgesichtspunkten gerechtfertigt. Die an den Spielhallenbetrieb zu stellenden materiellen Anforderungen seien ohnehin von allen Betreibern zu erfüllen. Weitere Kriterien seien in der Übergangsregelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 HmbSpielhG und der Härtefallregelung in § 9 Abs. 1 Sätze 4, 5 HmbSpielhG geregelt. Die Einführung materiell determinierter Kriterien in die Auswahlverfahren hätte keine praktikable Abgrenzung erlaubt, die von den Betreibern als gerecht empfunden worden wäre.

20

Das Gericht sieht seine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken hierdurch nicht entkräftet.

21

Widersprüchlich ist die rechtliche Argumentation der Antragsgegnerin zunächst insofern, als sie das Anciennitätsprinzip einerseits als rein formales Kriterium kennzeichnet, es andererseits gleichwohl mit verfassungsrechtlich geprägten Inhalten (Bestands- und Vertrauensschutz) auflädt. In diesem Widerspruch spiegelt sich die durch jenes Kriterium nur scheinbar und vordergründig vermittelte inhaltliche Plausibilität, die schon deshalb eine Ungleichbehandlung keinesfalls zu rechtfertigen vermag.

22

In tatsächlicher Hinsicht wird zu bezweifeln sein, ob mit dem Anciennitätsprinzip wirklich ein transparentes und gleichsam aus sich heraus plausibles Kriterium gefunden worden ist. Abgesehen von den in vielen bei der Kammer anhängigen Verfahren zutage tretenden Schwierigkeit, den ältesten Standort überhaupt stichhaltig zu ermitteln, verliert dieses Kriterium in dem Maße an Plausibilität und nähert sich der Willkür an, in dem sich das Alter der konkurrierenden Spielhallenstandorte gleicht. So ist es sachlich nicht begründbar, weshalb etwa ein Betreiber an einem Standort, an welchen im Februar 1955 ein Spielhallenbetrieb dokumentiert ist, gegenüber einem Betreiber, an dessen Standort dies erst im Jahr 1956 der Fall gewesen ist (so die Fallkonstellation im bei der Kammer anhängigen Verfahren 17 K 9364/17), privilegiert werden sollte. Neben den hiermit verbundenen augenfälligen Defiziten an Plausibilität und Transparenz der Auswahl wird der mit dem Anciennitätsprinzip fraglos verbundene Vorzug einer vergleichsweise verfahrensökonomischen Bewältigung der Auswahlentscheidung mit nicht hinnehmbaren Abstrichen an eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die mit der Auswahl einhergehende Ungleichbehandlung „erkauft“. In Anwendung des Kriteriums aus § 9 Abs. 4 HmbSpielhG reduziert die Antragsgegnerin die in der Natur der Sache liegende hohe Komplexität der von ihr zu treffenden Auswahlentscheidungen auf eine in hohem Maße kontingente, sachlich letztlich nicht begründbare und daher lediglich scheinbare Evidenz.

23

Die allein mit dem Anciennitätsprinzip begründete Ungleichbehandlung bei der Auswahl unter in der Fläche konkurrierenden Unternehmen wird von den Spielhallenbetreibern im Übrigen, anders als es die Antragsgegnerin mit ihrer Argumentation nahelegt, keineswegs als von sozusagen immanenter Gerechtigkeit getragen empfunden. Die hohe Zahl der bei der Kammer anhängigen Rechtsschutzgesuche belegt dies eindrücklich. Dass die Akzeptanz der Auswahlentscheidung bei sachlich-inhaltlich determinierten Kriterien vermutlich kaum größer gewesen wäre, kann naheliegender Weise nicht als Argument dazu dienen, sich der ihrem Wesen nach äußerst komplexen Auswahlentscheidung dadurch zu entziehen, dass man sie an nur einem, der Sache nach offensichtlich ungeeigneten Kriterium ausrichtet.

24

Dass eine (praktikable) Auswahlentscheidung neben dem Alter der Spielhalle auch weitere sachgerechte Kriterien erfassen und abbilden kann, zeigt nicht zuletzt die hessische Praxis, in der für bestimmte, unterschiedlich stark gewichtete Kriterien Punkte vergeben werden, anhand derer eine Auswahl vorgenommen wird (vgl. VG Darmstadt, Beschl. v. 17.7.2017 – 3 L 3491/17.DA – juris Rn 17).

3.

25

Die Antragstellerin kann sich auch auf einen Anordnungsgrund stützen. § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt insoweit die Gefahr voraus, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des jeweiligen Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Das ist hier der Fall. Die sachliche Veränderung des bestehenden Zustands liegt darin, dass die Antragsgegnerin angekündigt hat, den Betrieb von Bestandsspielhallen nicht über den 31.12.2017 hinaus zu dulden. Der zu sichernde Anspruch der Antragstellerin auf Teilnahme an einem chancengleichen und den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Auswahlverfahren würde ohne gerichtliche Sicherungsanordnung wenn nicht vereitelt, so doch zumindest wesentlich erschwert. Es liegt auf der Hand, dass die Durchsetzung dieses Rechts im Verfahren der Hauptsache erhebliche Zeit erfordern würde, während bei fortlaufenden Kosten zum Erhalt des Standorts keine Erträge zu erwirtschaften wären. Die Rechtswahrung im Verfahren der Hauptsache wäre somit nur unter Inkaufnahme gravierender wirtschaftlicher Nachteile möglich. Dies ist zumindest als wesentliche Erschwerung der Rechtsverwirklichung zu bewerten.

26

Insgesamt muss die Antragstellerin einen derart defizitär begründeten Eingriff in ihre grundrechtlich geschützten Positionen unter der Geltung des Gebots effektiver Rechtsschutzgewährung abwehren können.

II.

27

Als unterlegener Teil hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG. Der im Hauptsacheverfahren mangels anderweitiger Erkenntnisse mit 15.000,-- € anzusetzende Streitwert (Ziffer 54.1 Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit) ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren.

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