Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Hamburg (1. Kammer) - 1 A 2533/20

Tenor

Der Bescheid vom 14. Mai 2020 wird aufgehoben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der positiven Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans sowie gegen die entsprechende negative Feststellung.

2

Der Kläger meldete sich am 19. Oktober 2015 bei der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg. Mit Schreiben seines Amtsvormunds vom 21. September 2016 beantragte er bei der Beklagten Asyl (5453779-423) mit den Angaben: Geburtsdatum 8. November 2000, Geburtsort X.

3

Bei der Anhörung gemäß § 25 AsylG am 27. Juni 2017 gab der Kläger an: Er sei Tadschike und Schiit. Ein Bruder (A.) lebe in Hamburg, ein Bruder (B.) in Gießen. In den Iran sei er 2009/2010 gegangen und dort bis 2015/2016 geblieben. Zunächst sei er zurück nach Afghanistan gegangen, aber mit der „gesamten Familie“, gemeint Eltern und dem Bruder, der nun mit Frau in Gießen lebe, wieder ausgereist. Seine Eltern seien im Iran geblieben. Mit dem Bruder sei er in die Türkei gegangen. Zu Onkel und Tante väterlicherseits in Afghanistan habe er keinen Kontakt.

4

Die Beklagte lehnte mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Oktober 2017 (Nr. 1) zulasten des Klägers die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, (Nr. 2) die Anerkennung als Asylberechtigter, (Nr. 3) die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab, stellte aber zugunsten des Klägers (Nr. 4) ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Zur Begründung führte sie insoweit aus: Im Heimatland verfüge der Kläger über keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. über keinen Kontakt zu im Heimatland lebenden Verwandten. Die Eltern befänden sich nach Angaben des Klägers im Iran, seine beiden Brüder bei ihren Familien in Deutschland. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich als „minderjähriger Jugendlicher“ sein Existenzminimum eigenständig sichern könne. Er könne aufgrund der Ausreise des Familienverbandes und mangels Kontakts zu weiteren Verwandten auch nicht auf die Unterstützung seines Familienverbandes zurückgreifen.

5

Eine den abgelehnten Asylantrag weiterverfolgende Klage nahm der Kläger zurück (VG Hamburg, Beschl. v. 15.11.2017, 4 A 9114/17).

6

Zulasten des Bruders des Klägers A. hatte die Beklagte bereits mit Bescheid vom 29. September 2011 den Asylantrag (5453779-423) abgelehnt sowie festgestellt, dass kein Abschiebungsverbot vorliege und die Abschiebung angedroht. Gerichtlicher Rechtsschutz blieb ohne Erfolg (VG Kassel, Urt. v. 17.7.2013, 6 K 1300/11.KS.A; VGH Kassel, Beschl. v. 18.11.2014, 8 A 1956/13.Z.A). Am 11. Dezember 2014 wurde A. nach Hamburg umverteilt.

7

Zugunsten des Bruders des Klägers B., dessen Ehefrau und Kind stellte die Beklagte in Erfüllung einer gerichtlichen Verpflichtung (VG Gießen, Urt. v. 24.9.2019, 8 K 3962/17.GI.A) mit Bescheid vom 17. Dezember 2019 (6576702-423) ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans fest.

8

Hinsichtlich des Klägers leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren (7791967-423) ein. Der schriftlich angehörte Kläger teilte am 17. April 2020 mit, dass er den mittleren Schulabschluss erreicht habe und aktuell eine Ausbildung als Verkäufer im Bereich einer Bäckerei absolviere. In seiner Heimat habe er keine Familie und auch keine Bekannten. Seine zwei Brüder lebten mit ihren Familien in Hamburg.

9

Die Beklagte sprach mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 aus, (Nr. 1) das mit Bescheid vom 30. Oktober 2017 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu widerrufen und (Nr. 2) festzustellen, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Zur Begründung führte sie aus: Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Erstbescheids minderjährig (16 Jahre) und unbegleitet gewesen, es sei deshalb angenommen worden, dass ihm im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan zu diesem Zeitpunkt als vulnerable Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Mittlerweile sei er über 19 Jahre alt und gehöre damit nicht mehr zum Personenkreis der vulnerablen Personen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben. Der Bescheid wurde am 4. Juni 2020 zugestellt.

10

Der Kläger hat dagegen am 12. Juni 2020 Klage erhoben.

11

Der Kläger hat schriftsätzlich die Anträge formuliert,

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den mit Schreiben vom 29. Mai 2020 übersandten Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2020 (7791967-423) aufzuheben,

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hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des mit Schreibens vom 29. Mai 2020 übersandten Bescheides vom 14. Mai 2020 (7791967-423) zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

14

Die Beklagte hat schriftsätzlich den Antrag formuliert,

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die Klage abzuweisen.

16

Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 19. August 2020, zugestellt am 20. August 2020, binnen Frist von zwei Wochen zum Erlass eines Gerichtsbescheids angehört.

17

Die Asylakten des Erst- sowie des Widerrufsverfahrens des Klägers, die Asylakten seiner Brüder, die für den Kläger geführte Ausländerakte sowie die in den Entscheidungsgründen genannten Erkenntnismittel haben bei der Entscheidung vorgelegen. Darauf sowie auf die Gerichtsakte wird wegen der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

18

Das Gericht entscheidet gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

II.

19

Die Klage wird gemäß § 88 VwGO nach dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel als einheitlicher Anfechtungsantrag ausgelegt, den Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 durch das Gericht in vollem Umfang aufzuheben. Dies entspricht dem vom Kläger formulierten Hauptantrag, demgegenüber aber kein Raum mehr für den Hilfsantrag verbleibt. Der Kläger verfolgt das Rechtsschutzziel, den durch den Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 erlangten Schutz ungeschmälert wiederzuerlangen. Dazu ist die vollumfängliche gerichtliche Aufhebung des Widerrufsbescheids sachdienlich. Im Einzelnen:

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Der angefochtene Verwaltungsakt ist i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zum einen durch Aufhebung der vorherigen (prinzipalen positiven) Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, zum anderen durch (prinzipale negative) Feststellung, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.

21

Angefochten ist der Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 (7791967-423). Im Tenor ist ausgesprochen, (Nr. 1) das im Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 (7791967-423) festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu widerrufen und (Nr. 2) festzustellen, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Der Tenor des Widerrufsbescheids ist, wie bereits der Tenor des in Bezug genommen Ausgangsbescheids, einer Auslegung zugänglich und bedürftig, um dem jeweils dahinterstehenden erkennbaren behördlichen Willen praktische Wirksamkeit zu verleihen. Bei Verwaltungsakten kommt es wie bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen auf den objektiven Erklärungswert an. Maßgeblich ist, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der für ihn erkennbaren Umstände verstehen musste. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und deren objektiver Gehalt unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts zu ermitteln (BVerwG, Urt. v. 20.6.2013, 8 C 46/12, BVerwGE 147, 81, Rn. 27).

22

In Nr. 4 des Ausgangsbescheids ist dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. In Nr. 1 des Widerrufsbescheids ist dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG widerrufen und in Nr. 2 dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 AufenthG verneint. Allerdings legten es die gewählten Formulierungen bei isolierter Betrachtung nahe, dass die Beklagte von zwei verschiedenen Rechtsinstituten des Schutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG einerseits und des Schutzes nach § 60 Abs. 7 AufenthG andererseits ausgegangen wäre. Indessen würde diese Auslegung nicht zu den Rechtsfolgen führen, die behördlich erkennbar gewollt sind.

23

Zwar ist ein Verwaltungsakt nach § 35 Satz 1 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Auch tritt die behördlich erstrebte unmittelbare Rechtswirkung gemäß § 43 Abs. 3 VwVfG grundsätzlich unabhängig davon ein, ob sie im Einzelfall rechtmäßig ist. Doch kommt dem Verwaltungsakt keine vom einschlägigen Gesetz losgelöste Bedeutung, sondern eine Individualisierungs- und Klarstellungsfunktion zu: Die Behörde entscheidet durch Verwaltungsakt, dass ein bestimmter von ihr ermittelter Sachverhalt tatsächlich geschehen ist und die Voraussetzungen eines bestimmten im Gesetz vorgesehenen, abstrakt formulierten Tatbestandes erfüllt sind, so dass hieran die hierfür vorgesehene Rechtsfolge geknüpft werden kann (Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 31). Der Verwaltungsakt ist als behördliche Willenserklärung mit Rücksicht darauf auszulegen, welche vertypten Rechtsfolgen das jeweilige Fachrecht vorsieht. Da die Behörde durch Verwaltungsakt nur in dem vom Fachrecht gesteckten Rahmen eine Rechtsfolge setzen darf und grundsätzlich nicht angenommen werden kann, dass sie diesen Rahmen verlassen will, muss im Zweifel angenommen werden, dass sie sich bei der Regelung im fachrechtlich gesteckten Rahmen hält. So ist etwa höchstrichterlich entschieden, dass im Prüfungsrecht ausschließlich anhand der jeweiligen Prüfungsordnung zu klären ist, ob einer Einzelnote Regelungsqualität i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG zukommt (BVerwG, Urt. v. 23.5.2012, 6 C 8/11, NJW 2012, 2901, Rn. 14). Ein als Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots formulierter Ausspruch des Bundesamts ist nach § 11 Abs. 2 AufenthG unionsrechtskonform als behördliche Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verstehen (BVerwG, Urt. v. 25.7.2017, 1 C 10/17, juris Rn. 23). Soweit möglich ist der Verwaltungsakt gesetzeskonform auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.2004, 1 C 30/03, BVerwGE 122, 293, Rn. 18; Urt. v. 18.12.2007, 6 C 47/06, NVwZ 2008, 571, Rn. 29). Die Begrenzung auf den Entscheidungsgegenstand entspricht – bei gesetzmäßigen Entscheidungen – dem Umfang, in dem das Gesetz der Verwaltung die Befugnis zu verbindlicher Regelung einräumt; wichtigstes Hilfsmittel zur Bestimmung des Entscheidungsgegenstandes außerhalb des Verwaltungsaktes sind die zugrundeliegenden Rechtsnormen (Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 43 Rn. 57a, 62).

24

Gemäß dem vorliegend einschlägigen Fachrecht bildet das nationale Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht zwei verschiedene Schutzformen, sondern einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen (BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 14). Eingeordnet ist dies in die Prüfreihenfolge im Asylrecht. Nach dieser sind zu prüfen die Asylberechtigung, die Flüchtlingseigenschaft, sodann der subsidiäre Schutz und schließlich das nationale Abschiebungsverbot (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 16).

25

Vor diesem Hintergrund kann und muss der Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 gesetzeskonform ausgelegt werden: Unter Nr. 1 bis 3 hat das Bundesamt die dem Asylantrag i.S.d. § 13 AsylG entsprechenden vorrangigen Schutzstatus abgelehnt. Unter Nr. 4 hat das Bundesamt ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans als Herkunftsland des Klägers festgestellt, unabhängig davon, ob dieses aus § 60 Abs. 5 AufenthG oder aus § 60 Abs. 7 AufenthG folgen mag.

26

Anknüpfend daran ist der Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 auszulegen. Es handelt sich dabei, wenn nicht um eine gesetzeskonforme Auslegung (der Widerrufsbescheid erweist sich als rechtswidrig, s.u. III.), so doch um eine Auslegung im Rahmen der vom Gesetz vertypten Rechtsfolgen. Die behördliche Erklärung unter Nr. 1 und Nr. 2 des Widerrufsbescheids lässt den dahinterstehenden behördlichen Willen zu zwei Rechtsfolgen erkennen.

27

Zum einen soll die im Ausgangsbescheid zu Gunsten des Klägers getroffene positive Feststellung beseitigt werden. Die dem Ausgangsbescheid unter Nr. 4 im Wege der Auslegung zu entnehmende Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans soll durch Widerruf als actus contrarius nach § 43 Abs. 2 VwVfG ihre Wirksamkeit als Verwaltungsakt verlieren.

28

Zum anderen soll nunmehr zu Lasten des Klägers eine negative Feststellung getroffen werden, dass kein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans vorliegt, unabhängig davon, ob dieses auf § 60 Abs. 5 AufenthG oder auf § 60 Abs. 7 AufenthG gründen mag. Diese negative Feststellung ist nicht angesichts des zugleich ausgesprochenen Widerrufs der im Ausgangsbescheid getroffenen positiven Feststellung entbehrlich. Dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt, ist als inzidente Feststellung lediglich ein nicht bestandskraftfähiges Begründungselement des Widerrufs. Bestandskraftfähig ist nur eine am Regelungsgehalt teilhabende prinzipale Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt. Ein Widerruf der positiven Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt, ohne eine negative Feststellung, dass kein Abschiebungsverbot vorliegt, ließe keine Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zurück. Dies widerspräche aber dem erkennbaren Regelungswillen, die Frage eines nationalen Abschiebungsverbots für die Ausländerbehörde verbindlich zu beantworten. Die Ausländerbehörde ist nach § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung (Alt. 1) des Bundesamts oder (Alt. 2) des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gebunden. Diese Bindungswirkung bezieht sich nur auf den Tenor der Entscheidung, nicht auf Feststellungen in den Gründen oder ein obiter dictum (Faßbender, in BeckOK MigR, 5. Ed. 1.10.2019, AsylG, § 42 Rn. 6 m.w.N.). Sie knüpft an den bestands- oder rechtskraftfähigen Regelungsgehalt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung, nicht an bloße Begründungselemente an. Dies folgt aus dem Gesetzeszweck des § 42 Satz 1 AsylG. Die Ausländerbehörde ist weder am behördlichen noch am gerichtlichen Asylverfahren beteiligt. Ohne die durch § 42 Satz 1 AsylG bewirkte Erstreckung auf die Ausländerbehörden wären sie nach § 121 VwGO mangels Verfahrensbeteiligung nicht einmal an rechtskräftige gerichtliche Entscheidung gebunden (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG, § 42 Rn. 3). Verbindlich sind nicht nur positive Feststellungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und der Gerichte, sondern auch ablehnende Entscheidungen (Bergmann, a.a.O., § 42 Rn. 6).

III.

29

Die so ausgelegte zulässige Klage ist nach §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2020 ist in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die erforderlichen Befugnisse, die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots aufzuheben (hierzu unter 1.) und festzustellen, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt (hierzu unter 2.), fehlen der Beklagten im Einzelfall deshalb, weil zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt zugunsten des Klägers die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans vorliegen (hierzu unter 3.).

30

1. Die Befugnis der Beklagten, eine zuvor zugunsten des Ausländers getroffene Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu seinen Lasten aufzuheben, bestimmt sich nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG.

31

Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG ist nach § 73c Abs. 1 AsylG zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist, und nach § 73c Abs. 2 AsylG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die besonderen Vorschriften in § 73c Abs. 1 und 2 AsylG verdrängen die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften über Rücknahme und Widerruf in §§ 48 f. VwVfG (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 3 f.; Fleuß, in BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, AsylG, § 73c Rn. 4, 10; vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.2011, 10 C 24/10, NVwZ 2012, 451, Rn. 12 f.).

32

Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist in ihrem Regelungsgehalt, d.h. inwieweit sie als Verwaltungsakt auf Rechtswirkung nach außen gerichtet sind, nicht danach unterscheidbar, ob eine Rücknahme oder ob ein Widerruf ergeht. Rücknahme und Widerruf sind auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet (zu Rücknahme und Widerruf von Flüchtlingsschutz/Asylanerkennung: OVG Münster, Beschl. v. 4.4.2013, 13 A 806/13.A, juris Rn. 17; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 16 „prinzipiell“, auf die selbe Rechtsfolge gerichtet). Dem entspricht es, dass ein fälschlich als Rücknahme begründeter Bescheid rechtens ist, wenn die Widerrufsvoraussetzungen vorliegen (zu Rücknahme und Widerruf des Flüchtlingsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 29.4.2013, 10 B 40/12, juris Rn. 4; Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28). Die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots bleibt als Verwaltungsakt gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG nur wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Darauf, ob die Aufhebung durch Rücknahme, Widerruf oder anderweitig vorgenommen wird, kommt es nicht an.

33

Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots erfordert, dass in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt die Feststellung nicht zutrifft, weil die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 AufenthG nicht gegeben sind. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, dürfen weder die Anspruchsvoraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG noch diejenigen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sein. Es handelt sich um eine notwendige Bedingung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung. Die Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen muss stets gegenwärtig sein. Liegen im maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, kann die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots weder als Rücknahme noch als Widerruf gerechtfertigt sein.

34

Zur Rücknahme der Feststellung nach § 73c Abs. 1 AsylG führt es dabei, wenn die Abweichung zwischen Bescheidlage und Gesetzeslage sowohl in dem für die Beurteilung der Feststellung maßgeblichen Zeitpunkt vorlag als auch in dem für die Beurteilung der Aufhebung maßgeblichen Zeitpunkt vorliegt. Die nach § 73c Abs. 1 AsylG verpflichtend zur Rücknahme führende Fehlerhaftigkeit meint eine andauernde oder zumindest zu den beiden benannten Zeitpunkten bestehende Abweichung zwischen Bescheidlage und Gesetzeslage. Nur ungenau wird die Fehlerhaftigkeit i.S.d. § 73c Abs. 1 AsylG als ursprüngliche Fehlerhaftigkeit beschrieben (etwa Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2014, AsylG, § 73c Rn 7; vgl. Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 3; Hocks/Leuschner, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 73 Rn. 34), anknüpfend daran, dass im Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG grundsätzlich die Rechtswidrigkeit die ursprüngliche Rechtswidrigkeit meint (dazu Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG, § 48 Rn. 49). Denn auch die ursprünglich fehlerhafte, d.h. anfänglich von der Gesetzeslage abweichende, Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht zurückzunehmen, vielmehr die ergangene Rücknahme ihrerseits aufzuheben, wenn nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 AufenthG eingetreten sind.

35

Zum Widerruf der Feststellung führt gemäß § 73c Abs. 2 AsylG bereits, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht mehr vorliegen. Der Widerruf ist ohne jede Beschränkung zulässig und geboten, wenn die Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten Abschiebungsverbote nicht mehr vorliegen (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 4). Aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergibt sich, dass nicht nur solche Tatsachen einen Widerrufsbescheid als rechtmäßig tragen können, die schon bei dessen Erlass vorgelegen haben, sondern gerade auch weitere Tatsachen zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 15). Bei der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Feststellung einerseits und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sachlage andererseits muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Gefährdungsprognose ergeben (vgl. für den Widerruf des Flüchtlingsschutzes: Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28).

36

Die gegenwärtige Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen ist grundsätzlich auch eine hinreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Aufhebung der Feststellung. Sie führt grundsätzlich bereits zwingend zur Aufhebung der Feststellung. Zutreffend wird es als „Testfrage“ beschrieben, ob heute im Sinne einer Spiegelbildlichkeit ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen wäre (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 2). Liegen in dem für die Beurteilung der Aufhebung maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots weder nach § 60 Abs. 5 AufenthG noch nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, ist die behördliche Aufhebung der vormaligen behördlichen Feststellung grundsätzlich geboten. Insoweit kann ungeprüft bleiben, ob die Aufhebung als Rücknahme (Abweichung der Bescheidlage von der Gesetzeslage auch im Zeitpunkt der Feststellung) oder als Widerruf (Abweichung erst danach) gerechtfertigt ist.

37

Eine Ausnahme, in dem die gegenwärtige Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen keine hinreichende Bedingung der behördlichen Aufhebung ist, liegt nur dann vor, wenn die Rechtskraft eines zur Feststellung verpflichtenden Urteils zu beachten ist. Rechtskräftige Urteile binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, gemäß § 121 Nr. 1 Var. 1 VwGO die Beteiligten. Streitgenstand der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist der prozessuale Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes. Darüber ist im Fall der Stattgabe mit Verpflichtungsurteil nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO positiv entschieden. Die Rechtskraft eines zur Feststellung verpflichtenden Urteils kann zwar nicht einem Widerruf der Feststellung entgegenstehen. Denn den Widerruf eröffnen gerade neue und deshalb zeitlich nicht von der Rechtskraft erfassbare Tatsachen. Der Widerruf der positiven Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots setzt nach § 73c Abs. 1 AsylG voraus, dass die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen (vgl. ebenso für den Widerruf von Asylanerkennung/Flüchtlingsschutz: § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Ob die Voraussetzungen „nicht mehr vorliegen“ ist durch einen Vergleich der Umstände zu dem für die Widerrufsentscheidung selbst nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt und dem für die Schutzgewährung maßgeblichen Zeitpunkt zu bestimmen. In letzterer Hinsicht maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs einer positiven Feststellung, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen ist, ist dabei nicht der Zeitpunkt des Ergehens des Bescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils (vgl. für den Widerruf von Asylanerkennung/Flüchtlingsschutz: BVerwG, Urt. v. 8.5.2003, 1 C 15/02, BVerwGE 118, 174 Rn. 8). Doch steht die Rechtskraft eines zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots verpflichtenden Urteils der Annahme, eine Feststellung sei ursprünglich fehlerhaft, und damit einer Rücknahme zumindest grundsätzlich entgegen (BVerwG, Urt. v. 18.9.2001, 1 C 7/01, BVerwGE 115, 118, Rn. 9; für die Rücknahme der Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 11 ff.; Bergmann, a.a.O., § 73 Rn. 5). Die Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils endet dabei – wie sich schon aus allgemeinen Regeln und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ergibt – nicht mit einer Erfüllung des Verpflichtungsurteils (a.A. Hailbronner, a.a.O., § 73 Rn 11). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist aber jedenfalls nach dem Rechtsgedanken des § 826 BGB eine Rücknahme möglich, wenn das Urteil sachlich unrichtig ist, die von dem Urteil Gebrauch machenden Personen dies wissen und besondere Umstände hinzutreten, die die Ausnutzung des Urteils als sittenwidrig erscheinen lassen (vgl. für die Rücknahme der Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 19.11.2013, 10 C 27/12, BVerwGE 148, 254, Rn. 21). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann auch zulasten des Betroffenen nach den Maßstäben des § 51 VwVfG im Fall einer Täuschungshandlung die Rechtskraft durchbrochen werden (BVerwG, Beschl. v. 29.4.2013, 10 B 40/12, juris Rn. 4, bezugnehmend auf BVerwG, Urt. v. 22.10.2009, 1 C 26/08, BVerwGE 135, 137, Rn. 19, betreffend allerdings ein zugunsten des Betroffenen nach Ermessen eröffnetes Wiederaufgreifen i.w.S. nach gerichtlich bestätigter Ausweisung).

38

Die Wirkung von Rücknahme und Widerruf im Asylrecht differieren auch nicht in zeitlicher Hinsicht (dies offenlassend für Rücknahme und Widerruf einer Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 16). Sie weisen den gleichen zeitlichen Regelungsgehalt auf. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist der Begriff der Rücknahme nicht notwendig mit einer Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit (z.B. ex tunc ab Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes) verbunden, ebenso wenig wie der Begriff des Widerrufs mit einer Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft (z.B. ex nunc ab Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes). So ist im Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 VwVfG eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft eröffnet und im Anwendungsbereich des § 49 Abs. 3 VwVfG ein Widerruf mit Wirkung für die Vergangenheit. Nach den Besonderheiten des Asylverfahrens ist sowohl bei der Rücknahme als auch beim Widerruf nur die Wirkung ab dem für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt zu betrachten. Im Asylverfahren gilt die Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (st. Rspr., BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, juris Rn. 14, unter Fortführung von Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14/10, BVerwGE 140, 319, Rn. 10). Der Blick nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft folgt vor diesem Hintergrund aus der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts in § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach Halbs. 1 dieser Vorschrift stellt das Gericht in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist nach Halbs. 2 der Vorschrift der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. Maßgeblich ist der in der jeweiligen Entscheidungssituation denkbar letzte Zeitpunkt.

39

2. Die Befugnis der Beklagten, im Zuge der Rücknahme oder des Widerrufs einer vorherigen positiven Feststellung zugleich die negative Feststellung zu treffen, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, gründet auf § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG.

40

Für Rücknahme oder Widerruf der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 73c Abs. 1 oder 2 AsylG verweist § 73c Abs. 3 AsylG auf eine entsprechende Geltung des § 73 Abs. 2c bis 6 AsylG. Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylG ist bei Widerruf oder Rücknahme der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für den subsidiären Schutz oder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Dies wird im Entwurf des Gesetzes (BT-Drs. 17/13063, S. 23) wie folgt begründet:

41

„Im Falle eines Widerrufs oder einer Rücknahme der Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist über das Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes zu entscheiden. Liegen diese nicht vor, ist das Bestehen nationaler Abschiebungsverbote zu prüfen. Damit soll der Betroffene Klarheit über seinen Rechtsstatus bzw. über bestehende Abschiebungsverbote erhalten.“

42

Dem liegt die Prüfreihenfolge im Asylrecht (vgl. dazu BT-Drs. 17/13063, S. 16) zugrunde, dass vorrangig über die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise über die Zuerkennung subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise über die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu entscheiden ist. Im Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylG kommt unmittelbar zum Ausdruck, dass bei behördlicher Aufhebung (Widerruf oder Rücknahme) der vorrangigen Schutzgewährung (Asylberechtigung und Flüchtlingsschutz) über nachrangige Schutzgewährungen (subsidiärer Schutz und nationales Abschiebungsverbot) zu entscheiden ist. Die Vorschrift korrespondiert mit § 31 Abs. 3 AsylG; da dem Adressaten einer Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung seinerzeit ein Status gewährt worden war, hatte man entsprechend § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG von einer Entscheidung über den subsidiären Schutz und die nationalen Abschiebungsverbote abgesehen; das ist nun nachzuholen (Hocks/Leuschner, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016 Rn. 45, AsylVfG § 73 Rn. 45). Insofern stellt § 73 Abs. 3 AsylG klar, dass über die alternativen Schutzformen zu entscheiden ist (insoweit Hailbronner, a.a.O., § 73 Rn. 116). Es handelt sich um eine logische Folge der mehrstufigen Prüfung (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2014, AsylVfG, § 73c Rn. 20). Die vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung verfolgte Klarheit über den Rechtsstatus nach § 13 Abs. 1 AsylG dürfte es nicht erfordern, dass mit der Aufhebung der bisher positiven Entscheidung über die vorrangige Schutzgewährung eine negative Entscheidung auf gleicher Ebene über die vorrangige Schutzgewährung verknüpft wird. Denn über den Asylantrag ist dann entschieden, ohne eine positive Entscheidung zu treffen, ein Status (Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz) nicht gewährt und kann insoweit allenfalls noch in einem Folgeverfahren erwirkt werden.

43

Demgegenüber erschließt sich der Sinn der der durch § 73c Abs. 3 AsylG angeordneten entsprechende Geltung des § 73 Abs. 3 AsylG nicht in gleicher Weise (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 73c Rn. 20). Denn im Verhältnis zum nationalen Abschiebungsverbot, auf das sich die Aufhebungsentscheidung nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG beschränkt, existiert kein nachrangiger Schutz. Doch gebietet es die nach der Gesetzesbegründung zu fordernde Klarheit über Abschiebungsverbote, dass bei Rücknahme oder Widerruf der ohnehin nachrangigen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf gleicher nachrangiger Ebene eine negative Feststellung über das nationale Abschiebungsverbot zu treffen ist.

44

Zum einen läuft nur durch diese Auslegung der in § 73c Abs. 3 AsylG enthaltene Verweis auf eine entsprechende Geltung des § 73 Abs. 3 AsylG nicht grundsätzlich leer. Diese Inbezugnahme wäre entbehrlich, ging es nur um die wegen der Unteilbarkeit des nationalen Abschiebungsverbots ohnehin erforderliche Prüfung, ob im Fall eines auf § 60 Abs. 7 AufenthG gestützten Ausgangsbescheids die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind oder umgekehrt (diesen Sinn der Inbezugnahme annehmend aber Funke-Kaiser, a.a.O., § 73c Rn. 24; VG Berlin, Urt. v. 6.4.2018, 6 K 733.17 A, juris Rn. 16). Auch soweit angenommen wird, dass gemäß § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG zu prüfen ist, ob „andere (neue)“ Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG als die ursprünglich festgestellten vorliegen (so Keßler, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 73c Rn. 5), bleibt zu beachten, dass es sich beim nationalen Abschiebungsverbot um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt. Von einem „anderen“ Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 6 oder 7 AufenthG kann deshalb nur dann die Rede sein, wenn sich das Verbot auf die Abschiebung in einen anderen Zielstaat als den zu nächst betrachteten bezieht.

45

Zum anderen ist die als Annex zur Statusentscheidung über den Asylantrag i.S.d. § 13 AsylG dem Bundesamt obliegende Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot selbst keine Statusentscheidung. Es handelt sich beim nationalen Abschiebungsverbot nicht um einen formalisierten Schutzstatus, sondern bloß um einen feststellenden Verwaltungsakt (Funke-Kaiser, a.a.O., § 73c Rn. 2). Höbe das Bundesamt die (positive) Feststellung des Ausgangsbescheids auf, ohne zugleich eine (negative) Feststellung zu treffen, bliebe keine Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zurück, an die die Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 Alt. 1 AsylG gebunden wäre (s.o. II.). Dies ist vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt.

46

Ausgehend davon ist das Bundesamt zur (negativen) Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt, auf Grundlage des § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG nur dann befugt, wenn die (positive) Feststellung zu Recht nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG aufgehoben wird. Die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der positiven Feststellung ist eine notwendige Bedingung der Rechtmäßigkeit der negativen Feststellung. Grundsätzlich obliegt die inzidente Feststellung, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, in Vollzug des Aufenthaltsgesetzes nach § 75 AufenthG der Ausländerbehörde. Das Bundesamt ist zur prinzipalen Feststellung, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, nur in den vom Gesetz bezeichneten Fällen befugt. Das Bundesamt entscheidet über ein nationales Abschiebungsverbot nur aufgrund § 31 Abs. 3 AsylG im Zuge der ihm obliegenden Statusentscheidung über einen Asylantrag oder aufgrund § 51 VwVfG oder § 73c AsylG im Zuge der Korrektur einer von ihm selbst zuvor getroffenen Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot.

47

Grundsätzlich handelt es sich bei der Rechtmäßigkeit der Aufhebung der positiven Feststellung auch um eine hinreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit der negativen Feststellung. Etwas Anderes kann nur gelten, wenn nunmehr ein anderer Zielstaat der Abschiebung in Betracht kommt, so dass auf diesen bezogen zusätzliche Klarheit zu schaffen ist. Aber auch insoweit besteht die vom Gesetzgeber begrenzte Befugnis des Bundesamts zur Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot nur dann, wenn die Aufhebung des bisherigen Abschiebungsverbots rechtmäßig ist und damit Anlass für eine Befassung des Bundesamtes besteht.

48

3. Nach diesem Maßstab ist der angefochtene Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 rechtswidrig. Die Beklagte ist bereits nicht zur Aufhebung der im Ausgangsbescheid getroffenen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots befugt und deshalb auch nicht im Zuge dessen zu der negativen Feststellung, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt. Denn zumindest in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots vor. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, genügt es, wenn der Tatbestand einer Anspruchsgrundlage erfüllt ist. Hier ist der Tatbestand des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt. Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung (hierzu unter a)) leitet sich ausgehend von den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan (hierzu unter b)) und den dazu von der Kammer entwickelten Grundsätzen (hierzu unter c)) für den Kläger her (hierzu unter d)).

49

a) Ein Ausländer darf gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Zu prüfen sind insoweit lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 35). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 36). Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

50

Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben (EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Nr. 1/1989/161/217, NJW 1990, 2183 Rn. 90 f. – Soering/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 – Saadi/Italien). Erforderlich ist nach Art. 3 EMRK eine konkrete Gefahr („real risk“) der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung (EGMR, Urt. v. 17.7.2008, Nr. 25904/07, juris Rn. 40 – NA/Vereinigtes Königreich). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 32 m.w.N.), d.h. der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014, 10 B 6/14, NVwZ 2014, 1039, juris Rn. 9).

51

Auch wenn schlechte humanitäre Bedingungen nicht auf das Handeln eines verantwortlichen Akteurs zurückgeführt werden, können sie dennoch als Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Erforderlich ist zwar keine Extremgefahr i.S.d. Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018, 1 B 25/18, NVwZ 2019, 61, juris Rn. 13). Doch müssen die gegen die Abschiebung sprechenden Gründe „zwingend“ sein (EGMR, Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07 und Nr. 11449/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 280; BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 45/18, InfAuslR 2019, 455, juris Rn. 12; Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 24 f.; VGH München, Urt. v. 6.7.2020, 13a B 18.32817, Rn. 42; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 51; VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 169).

52

Dabei können Ausländer aus der Konvention kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334 Rn. 42 – N/Vereinigtes Königreich; vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 23). Maßgeblich ist die Fähigkeit des Betroffenen, im Zielgebiet elementare Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu decken, die Verletzlichkeit durch Misshandlungen und die Aussicht auf Verbesserung innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens (EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413, Rn. 254 – M.S.S./Belgien und Griechenland; Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07 und Nr. 11449/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 283 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich; daran anknüpfend VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 168; Urt. v. 24.7.2013, A 11 S 697/13, juris Rn. 80). Darauf abzustellen ist, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (zur Parallelvorschrift Art. 4 GRCh: EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; Urt. v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 ff.). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt danach ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (VGH München, Beschl. v. 30.9.2015, 13a ZB 15.30063, juris Rn. 5), das nur unter strengen Voraussetzungen erreicht wird (OVG Münster, Beschl. v. 13.5.2015, 14 B 525/15.A, juris Rn. 15). Kann der Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren, rechtfertigt Art. 3 EMRK keinen Abschiebungsschutz (BVerwG, Beschl. v. 25.10.2012, 10 B 16/12, InfAuslR 2013, 45, juris Rn. 10). Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen u.s.w. (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 172).

53

Hinsichtlich der Gefahrprognose ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (EGMR, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 265, 301, 309; BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 26). Dieser Ort ist im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan Kabul (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 192 f.).

54

Die vorausgesetzten individuellen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 171 unter Bezugnahme auf EGMR, Urt. v. 13.12.2016, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 187, 189 – Paposhvili/Belgien), so dass eine ganze Bevölkerungsgruppe betroffen ist (VGH München, Urt. v. 23.3.2017, 13a B 17.30030, AuAS 2017, 175, juris Rn. 15). Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG hinsichtlich allgemeiner Gefahren steht nicht entgegen. Gemäß dieser Vorschrift sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei Anordnungen der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG über die Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen. Diese Sperrwirkung wird in verfassungskonformer Anwendung nur durchbrochen im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12 Rn. 38). Weder nach Wortlaut noch Sinn und Zweck findet der im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG zu prüfende Satz 6 indessen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK Anwendung. Verstieße eine Abschiebung völkerrechtlich gegen Art. 3 EMRK, führt dies nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu einem Abschiebungsverbot, selbst wenn damit einer allgemeinen Gefahr begegnet wird. Es bedarf keiner Durchbrechung einer grundsätzlichen Sperrwirkung nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG. Dieses Verständnis liegt auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018, a.a.O.) zugrunde, die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG keine Extremgefahr verlangt, wie sie zur Durchbrechung der Sperrwirkung für allgemeine Gefahren im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG erforderlich wäre.

55

Bei familiärer Lebensgemeinschaft ist für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 45/18, InfAuslR 2019, 45, juris Rn. 15, 16, 19). Jedoch ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist.

56

b) Nach Angaben des Auswärtigen Amtes ist Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Das rapide Bevölkerungswachstum mache es dem afghanischen Staat nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, bereitzustellen. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bleibe zudem geprägt von der schwierigen Sicherheitslage sowie schwacher Investitionstätigkeit. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei eine zentrale Herausforderung für Afghanistan und der Anteil formaler Beschäftigungsverhältnisse extrem gering. Vor diesem Hintergrund sei die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was in besonderem Maße für Rückkehrer gelte. Darüber hinaus träten Dürre, Überschwemmungen oder extreme Kälteeinbrüche regelmäßig auf. Dürren der vergangenen Jahre hätten dazu beigetragen, dass ca. zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren als akut unterernährt gälten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung finde kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems. Zwar sei die medizinische Grundversorgung nach der Verfassung für alle Staatsangehörigen kostenlos. Die Verfügbarkeit und die Qualität der Grundbehandlung sei jedoch mangels gut ausgebildeter Ärzte und Assistenzpersonal, mangels Verfügbarkeit von Medikamenten, aufgrund schlechten Managements sowie schlechter Infrastruktur begrenzt und deshalb ebenfalls korruptionsanfällig. Viele Afghanen suchten daher, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variierten stark und müssten von den Patienten komplett selbst getragen werden. Daher sei die Qualität der Gesundheitsversorgung stark einkommensabhängig. Insbesondere Rückkehrern werde die Reintegration stark erschwert, wenn sie lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen hätten, da es in diesem Fall wahrscheinlich sei, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich erschwert sei. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhänge (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 26, nachfolgend: „Lagebericht 2020“).

57

Im Hinblick auf den Zugang zu Unterkunft, grundlegender Infrastruktur und grundlegender Versorgung, hebt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen die Bedeutung sozialer Netzwerke hervor, die bereit und trotz der prekären humanitären Lage zur Unterstützung fähig sind (UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.8.2018, S. 124 f.). Nach einem Bericht des European Asylum Support Office (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan Networks, Februar 2018) sei der afghanische Staat schwach sowie Netzwerke und nicht der Staat seien entscheidend für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und die Pflege vulnerabler Personen. Die Treue zu Familie, Clan und örtlichen Anführern sei stärker als die Bindung an den Staat oder die Behörden. Die erweiterte Familie sei die Grundsäule der afghanischen Gesellschaft. Die wechselseitige Verpflichtung zu Hilfe und Unterstützung innerhalb der erweiterten Familie sei stark (S. 13). Nach der patrilinearen Gesellschaftsstruktur Afghanistans gehörten Kinder zur Familie ihres Vaters. Die Familie der Mutter könne aber zum individuellen Netzwerk gehören (S. 14). Das ethnische Zugehörigkeitsgefühl sei stark (S. 16). Allein aufgrund der gleichen ethnischen Zugehörigkeit könne jedoch keine Unterstützung erwartet werden (S. 16 f.). Ein Zugang zum Arbeitsmarkt sei ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Wiedereingliederung. Dieser sei herausfordernd und die Arbeitslosenquote sei hoch. Auch für die Hochgebildeten und gut Qualifizierten sei es schwer, ohne Netzwerk oder Empfehlung einen Arbeitgeber zu finden. Vetternwirtschaft sei weit verbreitet und die meisten höheren Positionen in Verwaltung und Gesellschaft würden auf Grundlage von Beziehungen oder Bekanntschaft vergeben. Aus Sicht eines Arbeitgebers sei es praktisch, jemanden aus dem eigenen Netzwerk anzustellen, weil er genau wisse, was er bekomme. Der Schlüssel, um eine Beschäftigung zu erlangen, liege in den persönlichen Beziehungen und Netzwerken, denen Arbeitgeber mehr Wert beimessen als formalen Qualifikationen (S. 27 f.).

58

Infolge der weltweiten Corona-Pandemie hat sich diese prekäre humanitäre Lage in Afghanistan weiter verschärft.

59

Die COVID-19-Pandemie führt insbesondere zu einer weiteren Anspannung des auch vorher schon hart umkämpften Arbeitsmarktes in Afghanistan. Während sich der landwirtschaftliche Sektor aufgrund guter Witterungsbedingungen positiv entwickelt habe, seien der Industrie- und der Dienstleistungssektor aufgrund des Lockdowns und der Grenzschließungen stark eingebrochen (World Bank Group, Surviving the Storm, Juli 2020, S. II, 3, nachfolgend: „World Bank Group 2020“). Aufgrund des Lockdowns der Innenstädte könnten hunderttausende Pendler, Händler und Tagelöhner kein Einkommen mehr generieren (Konrad Adenauer Stiftung, Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage?, Stand: Juli 2020, S. 5, nachfolgend: „KAS 2020“). Zwei Drittel der Einkommen in den afghanischen Städten würde von Berufsgruppen, wie Einzelhändlern, Tagelöhnern, Bauarbeitern, Landwirtschaftshelfern oder Personaldienstleistern, erzielt, die besonders sensibel auf den pandemiebedingten Lockdown sowie dessen Auswirkungen reagierten. Ärmere Haushalte seien gezwungen, die Quantität und die Qualität ihrer Nahrung zu verringern, da es ihnen aufgrund ihres geringen Ausgangsniveaus nicht mehr möglich sei, ihren Verbrauch weiter zu reduzieren oder mangels Kreditwürdigkeit einen Kredit aufzunehmen. Dies könne insbesondere bei Kindern zu negativen Langzeitwirkungen führen (World Bank Group 2020, S. 20, 23). Humanitäre Hilfsorganisationen seien insbesondere besorgt über die Auswirkungen des Lockdowns auf vulnerable Personen, wie behinderte Menschen und Familien, die abhängig vom Tagelohn seien (vgl. OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi Sectoral Response, 22.7.2020, S. 1). Die insgesamt drastischen Einkommensverluste sowie ein wahrgenommener Anstieg der Kriminalität führten dazu, dass sich viele Branchen ohne Zugang zu ausländischer Unterstützung nur langsam von der wirtschaftlichen Krise würden erholen können (KAS 2020, S. 7).

60

Über die unmittelbaren Auswirkungen des Lockdowns hinaus werde der afghanische Arbeitsmarkt durch die anhaltende Rückkehr afghanischer Gastarbeiter und Flüchtlinge insbesondere aus dem Iran, aber auch aus Pakistan, strapaziert. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie habe sich die Rückkehr bzw. die Abschiebung aus dem Iran besonders problematisch entwickelt (KAS 2020, S. 4). Die Anzahl der Rückkehrer aus dem Iran sei weiterhin auf einem hohen Stand – in den ersten vier Monaten 2020 seien 271.000 Afghanen aus dem Iran zurückgekehrt, im Jahr 2019 insgesamt 485.000 und 2018 775.000 (Lagebericht 2020, S. 18, 24). Diese fortdauernde Rückkehr führe ebenfalls zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie zu einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt (Lagebericht 2020, S. 18).

61

Der internationale Lockdown habe in Afghanistan außerdem zu einer aktuellen Nahrungsmittelkrise geführt, die einem Einkommensausfall vieler Haushalte bei gleichzeitig gestiegenen Lebensmittelpreisen folge (KAS 2020, S. 5; s.a. OCHA, COVID-19 Multi Sector Humanitarian Country Plan Afghanistan, 24.3.2020, S. 6 f; BAMF, Briefing Notes, 20.7.2020, S. 2). Die Preise einiger Grundnahrungsmittel seien im ersten Halbjahr 2020 um bis zu 20 % gestiegen (World Bank Group 2020, S. II, siehe im Einzelnen zu den Nahrungsmittelpreisen: OCHA, Afghanistan: COVID-19 Sectoral Response, 22.7.2020; World Food Programme, Afghanistan Countrywide Weekly Market Price Bulletin, 29.7.2020).

62

Die Armutsrate werde infolgedessen vermutlich auf bis zu 72 % ansteigen, da die Einkommen bei steigenden Nahrungsmittelpreisen fielen (World Bank Group 2020, S. II). International wird dabei die Armutsgrenze bei verfügbaren 1,90 USD pro Person und Tag gezogen (OCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 9). Die COVID-19-Krise werde sich auch ernsthaft und nachhaltig auf Afghanistans Wirtschaft auswirken. Insgesamt werde erwartet, dass auch das Brutto-Inlandsprodukt von Afghanistan aufgrund der COVID-19-Pandemie um bis zu 7,4 % sinken werde. Es werde mittelfristig unterhalb des Niveaus vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie bleiben (World Bank Group 2020, S. IV, 18, 15). Eine Erholung der Volkswirtschaft werde erwartungsgemäß mehrere Jahre andauern und sei nicht vor 2023 oder 2024 zu erwarten (World Bank Group 2020, S. 15). Diese wirtschaftliche Rezession führe zu einer weiteren Belastung der privaten Haushalte (Lagebericht 2020, S. 22). Infolgedessen werde die Nachfrage für Konsumgüter und Dienstleistungen weiter stark reduziert (World Bank Group 2020, S. 3). Auch die mit der Pandemie verbundenen Grenzschließungen seien für die afghanische Wirtschaft und die humanitäre Lage einschneidend (KAS 2020, S. 3).

63

Rückkehrer könnten allerdings von anfänglichen Unterstützungsmaßnahmen seitens des Bundes, internationaler Organisationen sowie des afghanischen Staates profitieren (vgl. im Einzelnen Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 24; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, Stand: August 2017, S. 17 ff.), wobei die tatsächliche Inanspruchnahme der Hilfsangebote vor Ort aufgrund technischer und bürokratischer Hürden sowie der Befürchtung, als Rückkehrer identifiziert zu werden, offenbar begrenzt ist (Asylos, Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, S. 26 f.; s.a. VGH Mannheim, Urt. v. 16.10.2017, A 11 S 512/17, juris Rn. 284, 295, m.w.N.).

64

c) Die Kammer (bereits VG Hamburg, Urt. v. 7.8.2020, 1 A 3562/17, juris Rn. 53 ff.) geht für die im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände zu erstellende Gefahrenprognose von folgenden Grundsätzen aus:

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Dem Rückkehrer nach Afghanistan droht dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung, wenn er sein Existenzminimum an Nahrung, Hygiene und Unterkunft voraussichtlich nicht zu sichern vermag, da er weder allein die zur Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse notwendigen Beziehungen aufbauen könnte noch hinreichend von einem bereits vorhandenen Netzwerk unterstützt würde.

66

Eine Existenzsicherung ohne bereits vorhandenes Netzwerk setzt grundsätzlich voraus:

67

Zum einen muss der Rückkehrer volljährig, gesund, arbeitsfähig und – ausgehend von den sozialen Gegebenheiten des Zielstaats – männlichen Geschlechts sein sowie eine Landessprache (Dari/Farsi oder Paschto) hinreichend verstehen und sprechen. Diese Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH München, Urt. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 47; VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, A 11 S 2376/19, juris Rn. 11; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 50; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 55; auch VG Freiburg, Urt. v. 19.5.2020, A 8 K 9604/17, juris Rn. 40 ff.).

68

Zum anderen bedarf es, um die Erwartung zu tragen, dass der Rückkehrer sich aus eigener Kraft durchsetzen wird, nach Überzeugung der Kammer zusätzlicher Umstände. Auf dem Land (im ruralen Raum) bedarf er zur Existenzsicherung eines ihm zur Bewirtschaftung zur Verfügung stehenden Landbesitzes. In den Großstädten (im urbanen oder semi-urbanen Raum) muss er sich auf dem infolge der COVID-19-Pandemie besonders umkämpften Wohnungs- und Arbeitsmarkt allein behaupten und dafür notwendige Beziehungen knüpfen können.

69

Dabei folgt die Kammer nicht der Regel, dass eine Existenzsicherung nur dann zu erwarten wäre, wenn der Rückkehrer über erhebliche eigene finanzielle Mittel verfügt oder zu erwarten ist, dass er von Dritten erhebliche nachhaltige finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhält (so nun VG Hamburg, GB v. 10.8.2020, 4 A 7929/17, n.v., unter Bezugnahme auf: VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 44 ff.; VG Cottbus, Urt. v. 29.5.2020, 3 K 633/20.A, juris Rn. 53; VG Freiburg, Urt. v. 22.5.2020, A 10 K 573/17, asylnet, S. 10; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.5.2020, A 19 K 16467/17, juris Rn. 107; VG Düsseldorf, GB v. 5.5.2020, 21 K 19075/17.A, juris Rn. 271 ff.).

70

Fehlt dem Rückkehrer allerdings eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis (der mindestens Afghanistan und den sprachlich sowie religiös-politisch verwandten Iran umfasst), weil er aus diesem Kulturkreis noch minderjährig ausgereist ist, kann eine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich nicht angenommen werden. In diesem Fall kann ausgehend von der überragenden Wichtigkeit von Beziehungen für den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Obdach die Fähigkeit, ohne vorhandenes Netzwerk vor Ort die erforderlichen Beziehungen zu knüpfen, nicht unterstellt werden. Etwaige Rückkehrhilfen und humanitäre Hilfen ermöglichen einen gewissen zeitlichen Aufschub der zu befürchtenden Verelendung, vermindern die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts aber nur unwesentlich (insoweit VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, a.a.O., Rn. 45 ff.). Ausnahmsweise kann eine Durchsetzungsfähigkeit angenommen werden z.B. aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorisches, strategisches und menschliches Geschicks (vgl. hierzu VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, a.a.O., Rn. 113) oder einer besonderen Robustheit im Umgang mit roher Gewalt, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt (vgl. hierzu VG Hamburg, Urt. v. 30.1.2020, 1 A 886/19, n.v., in Deutschland aufgewachsener Intensivtäter).

71

Verfügt der (volljährige, gesunde, arbeitsfähige, männliche, eine Landessprache sprechende) Rückkehrer indessen über eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis und hat dort wirtschaftlich und sozial auf eigenen Beinen gestanden, so ist seine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich dann anzunehmen, wenn aus Art und Weise der in der Vergangenheit im heimischen Kulturkreis gezeigten Existenzsicherung gefolgert werden kann, dass ihm eine Existenzsicherung in der Zukunft auch ohne bereits vorhandenes Netzwerk und auch unter Berücksichtigung der Folgen der COVID-19-Pandemie erneut gelingen wird. Anknüpfen kann diese Erwartung z.B. an eine im heimischen Kulturkreis in der Vergangenheit entfaltete unternehmerische Aktivität, vielfältige erfolgreiche Erwerbstätigkeiten oder die gezeigte Fähigkeit, hohe finanzielle Mittel aufzubringen. Dass jedem Rückkehrer unabhängig von bereits vorhandenen Erfahrungen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten die Verelendung drohen würde, kann nicht angenommen werden. Es gibt keine dahingehende Studie, die hinsichtlich der Anzahl der Untersuchten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland belastbar wäre (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.12.2019, 9 LA 452/19, juris Rn. 15). Wer im heimischen Kulturkreis bereits das Leben eines Erwachsenen geführt und in der Vergangenheit vergleichbare Herausforderungen gemeistert hat, wie diejenigen, denen er sich gegenwärtig bei einer Rückkehr stellen müsste, wird voraussichtlich daran anknüpfen können.

72

Eine Existenzsicherung mit Hilfe eines Netzwerks ist wie folgt zu prüfen:

73

Der spezifische Bedarf, d.h. in welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag. Ein spezifischer Unterstützungsbedarf kann z.B. auf Krankheit, Behinderung, hohem Alter, fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, einer fehlenden vollständigen Sozialisation beruhen.

74

Der so ermittelte Unterstützungsbedarf muss voraussichtlich durch ein vorfindliches Netzwerk vor Ort gedeckt werden. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben.

75

Für in realitätsnaher Betrachtung allein zurückkehrende Frauen oder gemeinsam mit minderjährigen Kindern zurückkehrende Eltern steht eine Existenzsicherung ohne bereits vor Ort vorhandenes, zur Aufnahme fähiges und bereites Netzwerk grundsätzlich nicht zu erwarten. Der von diesem Netzwerk zu deckende Unterstützungsbedarf gemeinsamer Rückkehrer ist grundsätzlich vielfältiger und umfangreicher als bei alleinigen Rückkehrern und hängt auch von Anzahl und Alter der Kinder ab.

76

d) Vor diesem Hintergrund folgt ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK daraus, dass dem Kläger bei Rückkehr eine unmenschliche Behandlung droht.

77

Ohne ein zur Unterstützung fähiges und bereites Netzwerk vor Ort würde der Kläger voraussichtlich seine Existenz nicht sichern können. Die gegenteilige Annahme der Beklagten im Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 trägt nicht. Zwar ist der Kläger nunmehr volljährig geworden, gesund, arbeitsfähig, männlich und spricht die Landessprache Dari. Doch fehlt es an erforderlichen zusätzlichen Umständen, um die Erwartung zu tragen, dass der Kläger in seinem Herkunftsland die zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Nahrung, Hygiene und Unterkunft notwendigen Beziehungen wird aufbauen können. Der am 8. November 2000 geborene Kläger ist weder vollständig sozialisiert im Land seiner Staatsangehörigkeit Afghanistan noch im zwischenzeitlichen Land seines gewöhnlichen Aufenthalts Iran. Vielmehr hat er als unbegleiteter Minderjähriger mit knapp 15 Jahren den heimischen Kulturkreis verlassen und spätestens am 19. Oktober 2015 Hamburg erreicht. Dass der Kläger zwischenzeitlich fernab seiner Heimat volljährig geworden ist, vermittelt ihm keine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis. Auch die beigezogene Ausländerakte gibt keinen Hinweis darauf, dass der Kläger das hinsichtlich Vorerfahrungen bestehende Defizit ausnahmsweise ausgleichen könnte durch Ressourcen, Fertigkeiten, Geschick oder Robustheit in besonderer Ausprägung.

78

Unterstützung bedürfte der Kläger durch ein Netzwerk vor Ort, anhand dessen er das Leben eines Erwachsenen in seinem Kulturkreis erlernen und mit dieser Hilfe seine Existenz sichern könnte. Ein solches Netzwerk besteht in Afghanistan für den aus seinem Herkunftsland bereits 2009/2010 in den Iran ausgereisten Kläger glaubhaft nicht mehr. Im Heimatland verfügt er über keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. über keinen Kontakt zu im Heimatland lebenden Verwandten. Im Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 hat die Beklagte dies zutreffend ausgeführt.

IV.

79

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 Satz 1 und 2 ZPO.

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